Spaltungen
Die Legende von der zwischenmenschlichen Einheit

Aktuell ist vielerorts die Rede von gesellschaftlicher Spaltung und es entsteht der Eindruck, es habe irgendwann eine Einheit gegeben. Doch der Blick in zwischenmenschliche Interaktionen zeigt: Spaltungen gehören zum Alltagsgeschäft.

Türspalt (Foto Arnold Illhardt)
Türspalt (Foto Arnold Illhardt)

Krankheitsbedingt halte ich mich aktuell ausschließlich zuhause auf und höre daher Nachrichten doppelt und dreifach. In dem Zusammenhang: Es ist schon erstaunlich, mit wie wenig und kurzer Information sich Hörer zufriedengeben. So eine Nachrichtensendung ist nach drei Minuten vorbei und man befindet sich informationstechnisch auf dem Wahrnehmungslevel des Vorverstehens; aber das ist ein anderes Thema. In den letzten Tagen war immer wieder – morgens, mittags, abends – die Rede von Spaltungen unserer Gesellschaft, wobei es um die Zerwürfnisse zwischen Impfgegnern und -befürwortern ging, aber auch zwischen Coronaleugnern und – tja wie heißen eigentlich diejenigen, von denen die Coronapandemie als gegeben akzeptiert wird? Einsichtige? Wobei der Begriff der Einsicht ja schon eine bestimmte, vermeintliche einzig richtige Richtung vorgibt.

Risse in Staufen (Foto Arnold Illhardt)
Risse in Staufen (Foto Arnold Illhardt)

An dieser Stelle macht es Sinn, meine eigene Sicht und vielleicht auch Einsicht in die Coronasituation zu umschreiben: Ich befürworte Impfungen, bin mehrfach geimpft (man nennt es heute auch geboostert), halte die Pandemie für mehr als existent, habe bereits mehrere junge Patienten psychotherapeutisch betreut, deren gesunde, aber ungeimpfte Eltern oder Großeltern an Corona verstorben sind und bewege mich in einem klinischen Umfeld, in dem chronisch kranke, junge Patienten aufgrund eines heruntergefahrenen Immunsystems durch Immunsuppressiva auch einen Schutz durch mich als Maskenträger erwarten dürfen. Und nein, ich fühle mich trotz meiner libertären Grundhaltung und kritischen Einstellung vom Staat nicht reglementiert, sehe mich nicht in einer Diktatur, baue trotz meiner kritischen Haltung auf wissenschaftliche Ergebnisse und lebe immer noch ein buntes Leben, obschon der Tod aller Geimpften im September vorhergesagt wurde. Ich erinnere mich an einen Arzt, der vor laufender Kamera davon sprach, er bräuchte keine Impfung, da er ein Immunsystem habe. Seine Aussage, die ich als fachlich sinnentleert bezeichnen würde, hat bei mir durchaus gesunde spaltende Effekte verursacht: Ein Arzt hat nicht automatisch von allen medizinischen Dingen Ahnung, nur weil er Arzt ist. Trennen wir also zwischen fachlich versierten und nicht-versierten Medizinern. Als fachlich speziell ausgerichteter klinischer Psychologe besitze ich weiß Gott kein exaktes Wissen über alle psychologischen Prozesse und würde im Zweifelsfall problemlos an diesbezüglich erfahrenere Kollegen oder Kolleginnen übergeben und mich mit Meinungen und therapeutischen Maßnahmen zurückhalten.

Spaltung - Skizze Arnold Illhardt
Spaltung – Skizze Arnold Illhardt

Der Begriff der Spaltung war zumeist von Politkern der neuen Regierungstrias zu hören, gehörte aber auch schon zum regelmäßig bedienten Sprachschatz des vorherigen Kabinetts. Wenn verschiedene politische Richtungen, die sonst mehr oder weniger gespalten sind, den gleichen Begriff bedienen, muss ja wohl was dran sein. Ich berichtige: KANN was dran sein! Man kennt das Phänomen der Spaltung auch aus der Psychologie: Hier wird die Spaltung als einer von vielen Abwehrmechanismen gesehen. Wenn der Säugling in den ersten Lebensmonaten gravierende frustrierende Erfahrungen mit einer primären Bezugsperson macht, so wird sein Wahrnehmungsfeld gespalten in einennur guten (befriedigenden) und einen „nur bösen“ (frustrierenden) Anteil. (Was ist Spaltung? – Werner Eberwein (werner-eberwein.de)). Ich bin sehr gespalten, ob das weiterhilft. Oder vielleicht doch? Beginnen Spaltungen nicht immer zunächst auch in uns selbst? Ich schaute aus dem Küchenfenster in den diesigen Januarmorgen; mich ließ das Gerede über Spaltungen nicht los. Draußen gingen geduckt Menschen durch das Schmuddelwetter, den Kopf eingezogen, zum Teil griesgrämig dreinschauend: Waren sie vielleicht schon Personen von der anderen, nämlich abgespaltenen Seite? Man sieht es ihnen ja erst einmal nicht an! Selbst Coronaleugner und Verschwörungsfanatiker (Impfgegner können auch nachvollziehbare, z.B. medizinische Gründe dafür haben) sind – wenn man von ihren Ansichten nichts weiß – zunächst mal nette Menschen. Ich berichtige: KÖNNEN nette Menschen sein.

Risse (Foto Arnold Illhardt)
Risse (Foto Arnold Illhardt)

Doch zurück zu den gesellschaftlichen Spaltungen. Mich erinnerte dieses politische, an die Wand menetekelte Narrativ von Brüchen gesellschaftlicher Bereiche an Nachrichtenberichte über Kriege, bzw. darüber, dass eben NICHT über alle Kriege berichtet wird. Laut der Arbeitsgemeinschaft für Kriegsursachenforschung fanden z.B. 2020 weltweit 25 Kriege und 4 sogenannte bewaffnete Konflikte statt. (Kriege weltweit 2020 | FRIEDEN FRAGEN (frieden-fragen.de) Vermutlich hätten drei Minuten Sendezeit im Radio nicht ausgereicht, um über alle zu berichten. Und es schließt sich die Frage an, ob es überhaupt von allgemeinem Interesse ist, alle Kriege auf dem Wahrnehmungsschirm zu haben. Vielleicht ist es der Spezies Mensch ja auch ein wenig peinlich, ständig offiziell eingestehen zu müssen, dass man zu blöd ist, sich zusammenzuraufen und in friedlicher Weise zusammenzuleben. Und an dieser Stelle ist die Assoziation zum Krieg im Zusammenhang mit Spaltung gar nicht so weit hergeholt: Jedem Krieg gehen Spaltungen voraus, die sich hin und wieder kitten lassen, aber auch zu unüberwindbaren Trennungen – zum Beispiel zweier Völker – führen können. Führt man diesen Gedanken weiter, so lässt sich feststellen, dass Spaltungen im gesellschaftlichen Bereich sich nicht nur auf die aktuelle Coronalage beziehen, sondern minütlich in allen möglichen zwischenmenschlichen Interaktionen anzutreffen sind.

Risse 2 (Foto Arnold Illhardt)
Risse 2 (Foto Arnold Illhardt)

Ist von solchen Spaltungsprozessen – welcher Art auch immer – die Rede, so impliziert das Gesagte, dass es im Zusammensein von Menschen so etwas wie Einheit oder Einssein gegeben habe bzw. das Einssein eine Art Grundzustand sei. Zumindest sein könnte! Da muss ich arg enttäuschen, wenn ich sage: Nein, es gab nie eine Einigkeit; es gab sie nie und es wird sie auch vermutlich niemals geben! Jedenfalls nicht im Großen! Es bleibt wohl bei einem frommen Wunsch oder um die Bibel zu zitieren: „Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig sei (Philipper 2, 1-2).“ Nachsatz: Schön wäre es. Oder um mit den Toten Hosen zu sprechen: Vielleicht kommt ja eine Zeit, in der das Wünschen wieder hilft.

Spaltung (Foto Arnold Illhardt)Es reichen eine halbe Stunde Rumscrollen in den sozialen Medien, aber auch ein Blick in die eigene soziale Umwelt – die nahe, wie ferne -, um all die vielen Spaltungen zu registrieren. Eine unsortierte Sammlung gefällig? Familien sind bis aufs Blut zerstritten, es klaffen Spalte zwischen Männern und Frauen, Reichen und Armen, sowie Deutschen und Nichtdeutschen. Stadtbewohner finden sich cooler als Landbewohner und Zugezogene gehören nicht zu den Einheimischen. Vegetarier und Fleischesser bearbeiten sich mit Vorhaltungen, nebst Anfeindungen und Gesunde fühlen sich von Behinderten gestört oder gar angewidert. Autofahrer fluchen über Radfahrer und umgekehrt, Linke und Rechte sind sich spinnefeind. Leugner der Klimakrise amüsieren sich über die Umweltschützer und kleben sich Aufkleber wie „Fuck You, Greta“ über den Auspuff. SchülerInnen mobben sich bis zur seelischen Zerstörung, weil sie mit der jeweiligen Andersartigkeit nicht klarkommen und Rauswerfen ist das Prinzip jeder schwachmatischen Fernsehserie a la Dschungelcamp & Co. Die AfD macht das, was sie am besten kann: Hetzen gegen Menschen, die für das Menschliche sind und AfD-Sympathisanten drohen mit Ankündigungen des Aufhängens, Erschießens oder Wegschließens. Zwischen Atheisten und Gläubigen liegen Welten. Die Alten kapieren die Jungen und die Jungen die Alten nicht. Eindimensionale Heteros sticheln auf zum Teil hochaggressiver Weise gegen Homosexuelle, schwarze Hautfarbe ist schlecht, da nicht weiß. Religionen bekämpfen einander und Länder sowieso. Ein kleiner Querschnitt, der vielleicht unterstreicht, dass Spaltungen zum Alltagsgeschäft gehören. Was regen wir uns also über das bisschen Spaltung auf? Und dann steht am Schluss die Frage im Raum: Sind wir Menschen überhaupt fähig zur Gemeinschaft?

Stacheldraht (Foto Arnold Illhardt)
Stacheldraht (Foto Arnold Illhardt)

Auch ich selbst bin in gewisser Weise eine gespaltene Persönlichkeit (wenn auch nicht im pathologischen Sinne!). Einerseits steckt in mir der Feierabendmisanthrop, der dem menschlichen Verhalten oder der menschlichen Natur abneigend, abwertend und äußerst misstrauend gegenübersteht. Warum? Weil ich tagtäglich Bekanntschaft mit den Abgründen zwischenmenschlicher Prozesse mache und hier immer wieder an meine Grenzen komme, mich überhaupt noch guten Gewissens der Spezies Mensch zugeordnet zu fühlen. Aber andererseits stecken in mir visionäre Anteile, die an eine offene, gleichberechtigte und friedliebende Gesellschaft glauben und dafür durchaus auch kämpfen möchten. Ich beginne diesen Text am 6. Januar; somit ist noch viel Zeit, den gesellschaftlichen Inhalten des Jahres eine positive Richtung zu geben. Vielleicht brauchen wir ja vielmehr als ein Wirtschafts – oder Umweltministerium ein Gemeinschaftsministerium. Und da ich von Ministerien wenig halte, probiere ich es mal mit Selbstversuchen. Noch heute Morgen sprach im Deutschlandfunk ein Philosoph über Spaltungen und empfahl, miteinander zu reden und die Kommunikation nicht abbrechen zu lassen. Doch ich bin realistisch: Ein bisschen Spaltung wird sich wohl nie vermeiden lassen, denn das Reden mit Menschen, die eine andere Meinung nicht hören wollen, um sich weiterhin in einem Status des Rechthabens zu wähnen, ist müßig.