Whistleblower sind zwischen die Fronten geraten. Keiner der Zwecke einer Strafe spricht eindeutig für die Folterung derer, die Staatsgeheimnisse verraten haben. Ist eigentlich Demokratie ohne Whistleblowing möglich?
Wenn ich in mittelalterliche Folterkeller gehe, habe ich es mir abgewöhnt, von Grusel gepackt zu werden. Tempi passati und basta. Aber dann elektrisierten mich die Nachrichten in „Telepolis“ über Julian Assange. Da war es wieder, das Gruseln.
Eine Folterkammer ist auch für mich wieder ein Gruselkabinett. Früher war Folter, inklusive Verbrennen und Quälen, eine Art Strafe und Sühne. 1977 legte das Bundesverfassungsgericht fest: „Oberstes Ziel des Strafens ist, die Gesellschaft vor sozialschädlichem Verhalten zu bewahren und die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen […]“ Ist Whistleblowing „sozialschädliches Verhalten“ oder widerspricht es dem Schutz des Zusammenlebens? Nur dann, wenn man eine bestimmte Rechtstheorie zugrunde legt. Ich sehe anderes.
- Prinzipen des Whistleblowings
Whistleblowing (wörtlich: in die Pfeife blasen) ist ein schönes Bild. Polizisten in England bliesen in die Pfeife, wenn Gefahr im Verzug war. Aus allen Ecken kam dann ein Bobby und sorgte für Recht und Ordnung. Es sei denn, der Bobby war gekauft – etwa wie in der „Drei Groschenoper“ von Brecht. Das Bild ist geblieben, die Welt ist – mehr oder weniger – digital und global vernetzt.
Heute bedeutet Whistleblowing, etwas bekannt zu machen, was Regierungspersonen unter Verschluss hielten, aber den Bürgern nützen würde. Es verhindert die Konfiszierung der Demokratie. Dagegen steht: Transparenz gehört zu ihrem Wesen. Ist ein Whistleblower ein Aufklärer, der der Demokratie hilft, oder ein Nestbeschmutzer, der der Regierung schadet? Dieses Dilemma kann es doch nicht geben, weil demokratische Regierungen für die Bürger da sind. Demokratie ist doch ein Traum der Whistleblower, sie haben sehr viel dafür riskiert. Regiert-werden ‚dient‘ dem Bürger, hilft seine Interessen durchzusetzen. Oder ist die Regierung doch, wie John Locke sagte, jenes Seeungeheuer aus der jüdisch-christlich Mythologie, genannt Leviathan?
Assange wurde ohne nachvollziehbare Anklagepunkte, nachdem die angebliche Vergewaltigung seiner Freundin in Schweden zurückgenommen wurde, von den USA zu 175 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. 175 Jahre? Sinn der Rechtsurteile ist doch Reintegration. Nach 175 Jahren. Oder geht es doch um Strafe. Good morning, Mittelalter.
Kommen wir zur Geschichte des Whistleblowings. „Geschichte“, weil sie zeigt, welche Rolle sie in demokratischen Ländern spielt. Nur in demokratisch regierten Ländern gibt es die Kontroverse Bürgerrecht versus Regierungsrecht. Sonst gibt es nur das Recht des Diktators. Die folgende Liste ist eine kurze Auswahl der Whistleblower, die mir besonders wichtig erschienen. Sie sollen auch den Sinn der Folter deutlich machen:
Alle hier aufgeführten Fälle stammen aus den USA. Das heißt jedoch nicht, dass es in Deutschland kein Whistleblowing gibt. Gerade zu Anfang der Republikanischen Verfassung gab es deutsche Whistleblower-Fälle (etwa Aufrüstung bei Ossietzky u.ä.). Heute sind solche Fälle anders gelagert. Sie betreffen Pharmafirmen, geheime Vorgänge in Kliniken, Bestrafung von Ombudsleuten, Geldverschwendung in Behörden, Vorgänge der Bankenaufsicht, Betrug in Ministerien usw. Fälle dieser Art betreffen zweifelsohne Whistleblowing, aber nicht in erster Linie Staatsinteressen, wohl Bürgerinteressen. Das wäre ein eigenes Thema mit weiterem Blickwinkel.
Je gefährdeter die Demokratie ist, weil bestimmte Prozesse die Bürger angehen und die Macht der Regierenden aufblähen, desto mehr wird Whistleblowing kriminalisiert. In fast allen Beispielen haben die Schützer von Bürgerrechten große Opfer gebracht und tun es leider immer noch. Zu Assange wurde folgender Satz von Schweizer Zeitungen getextet, aber er passt auch auf unsere generelle Einstellung zum Schutz der Demokratie: „Wer Kriegsverbrechen aufdeckt, darf nicht an Kriegsverbrecher ausgeliefert werden“. Das bedeutet doch wohl: Die betroffene Instanz darf über den Fall nicht selber entscheiden. Wer sie anklagt, muss geschützt werden. Die Schweiz bot Assange sogar Asyl an. Hat man dort eine eindeutige Position zum Whistleblowing gefunden?
- Stellungnahme 216 namhafter Ärzte und Psychologen zum Fall Assange
Die Deklaration von Tokyo von 1975 hat die Folter durch medizinische Intervention geächtet. Ärzte dürfen keine Vollstrecker staatlicher Anordnungen. 1997 wurde diese Deklaration ergänzt durch ein Verbot der Teilnahme an unmenschlichen Handlungen (Anwesenheit eines Arztes bei Vollstreckung der Todesstrafe).
Im Rückgriff auf diese Deklaration kommentierten in „The Lancet“ (einem der wichtigsten Medizinjournale) aktuell die Ärzte und Psychologen den Fall Assange. Ich verstehe ihn als Beispielfall. Ich verstehe von WikiLeaks nichts, aber von Strafen und ihren Gründen. Es kommt darauf an, wie andere Länder der demokratischen Welt damit umgehen. Die Ärzte und Psychologen beklagen die „laufenden Aktionen der USA wie Großbritanniens und die Untätigkeit Australiens”, dessen schutzwürdiger Staatsbürger Assange ist. Festgestellt wurde, dass „die kollektive Verfolgung und Einschüchterung“, die sich gegen den WikiLeaks-Gründer richtete, „verewigt und noch ausgeweitet“ wird.
Über diese Folter hatte zum erstmals der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, vor über einem Jahr öffentlich berichtet. Zusammen mit zwei medizinischen Fachleuten hatte er Assange im Mai 2019 im britischen Belmarsh-Gefängnis besucht und festgestellt, dass dessen Rechte grob verletzt wurde. Sie stellten konkret fest, dass sie Assange effektiv daran gehindert habe, an der ersten Woche der Auslieferungsanhörungen im Februar teilzunehmen, indem sie ihn in einem kugelsicheren Glaskasten im hinteren Teil des Gerichtssaals platzierte. Assange wurde wiederholt in Handschellen gelegt, Leibesvisitationen, unterzogen Kontakt mit Anwälten verhindert und seine Rechtsdokumente konfisziert.
Aktuell befürchten die Ärzte und Psychologen, dass sein katastrophaler Gesundheitszustand eine Covid-19-Infektion aufgrund eines chronischen Lungenleidens wahrscheinlich macht. Im Vorfeld der Auslieferungsanhörungen im September wird Assange gar nicht in der Lage sein, sich mit seinem Anwaltsteam ernsthaft vorzubereiten, zumal nach wie vor Sperrmaßnahmen in Großbritannien vorherrschen.
Die Ärzte schreiben darüber hinaus: „Von Assange geht keine Gefahr aus. Er sitzt lediglich in Untersuchungshaft und verbüßt keine Strafe für ein Verbrechen. Laut der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung wird er darüber hinaus willkürlich eingesperrt.“ Gerade das müsste die Grundlage dafür sein, Assange nach den Richtlinien internationaler Rechtsorganisationen zumindest während der Pandemie freizulassen.
Die in GB trotzdem beschlossene Auslieferung an die USA sei Folter und damit eine Menschenrechtsverletzung, sagen also die Ärzte und Psychologen. Eine Anklage gegen die britische Auslieferung wird erwogen.
- Verbot von Folter als Menschenrecht
Verbot der Folter gehört zu den wichtigen Statuten des Menschenrechts. Das heißt schlicht und einfach: Folter steht gegen Menschsein.
Menschenrechte sind anders als Paragrafen des nationalen Rechts. Sie sind keine sachbezogenen, national gültigen Regelungen. Sie legen das fest, was nicht der Autorität eines Landes entspringt, sie bringen das heraus, was dem Wesen des Menschen entspringt. Das ist m.E. sehr wichtig. Schade nur, dass Menschenrecht in nationales Recht umgesetzt werden muss. So geht es vielen Menschenrechte, z.B. dem Menschenrecht auf Schutz von Kindern.
Was also sind schon Menschenrechte? Allzu oft scheinen die Interessen der Regierungen viel wichtiger zu sein als die der Regierungen. Wer oder was schützt die Bürger? Regierungen sitzen meist am längeren Hebel. Können Menschenrechte den Regierungen trotzen? Man denke nur daran, dass die EU-Richtlinien zum Whistleblowing von den Ländern erst ratifiziert werden müssen. Die Ratifizierung der Folterstatuten soll bis 2022 stattfinden. Und was dann? Orban, PiS und Co. haben gezeigt, was „dann“ heißt: wenn man Vereinbarungen ignoriert, „dann“ … passiert nichts.
- Optionen – nicht für den Politikprofi
Zum Thema Whistleblowing ist viel geplant. Aber was nutzen die schönen Worte, wenn unsere Einstellungen nicht zum Thema passen. Fähigkeit zur Demokratie ist zu komplex, als dass sie eine leichte Übung wäre. Es gehört einiges dazu: Anerkenntnis von Regeln, die wir nicht selber aufgestellt haben. Verzicht auf die eigene Dominanz. Unterordnung bzw. Respekt anderer usw.
Hier ein paar Vorschläge.
- Bei Voltaire habe ich gelesen, dass zur Toleranz das Eingeständnis unserer eigenen Fehlbarkeit zählt: „Eindeutig ist jeder ein Scheusal, wer seinen menschlichen Bruder verfolgt [foltert?], weil dieser nicht seiner Meinung ist“. Voltaire schrieb das als Kommentar zu unrechtmäßiger Folterung.
- Zuschauer der sozialen Vorgänge und besonders ihrer Konsequenzen zu sein, also Aufmerksamkeit auszublenden, ist das Ende der Demokratie.
- Diese kritische Einstellung führt immer wieder zum Whistleblowing, und ohne Whistleblowing keine Demokratie.
- Vielfach werden politische Entscheidungen getroffen, weil sie technisch möglich sind. Das darf man nicht einfach hinnehmen.
- Es ist nicht einfach, Enthüllung von Verrat und Bürgerschutz zu unterscheiden. Eine wichtige Frage lautet: Wem nützt das? Kann man den Nutzen bestreiten?
- Es ist nicht einfach, Enthüllung von Verrat und Bürgerschutz zu unterscheiden. Eine wichtige Frage lautet: Wem nützt das? Kann man den Nutzen bestreiten?
- Demokratische Regierungsformen scheitern an der fehlenden Existenz der Kontrollorgane. Wir beobachten das zurzeit an der Schwäche der Opposition in der deutschen Regierung.
- Was wissen wir, die Nichtjuristen und Nichtpolitiker, über das Whistleblowing in gesetzlichen Regelungen?