Ohnmachtsgefühl – ein unmoderner Begriff
Analyse eines psychologischen und gesellschaftlichen Phänomens

Der Begriff Ohnmachtsgefühl tauchte aus dem Nichts auf und inspirierte mich zu Überlegungen, wie dieser aus der Mode gekommene Begriff in eine Welt passt, in der alle machtvoll, selbstbewusst und beteiligt sein wollen. Fazit: Er hat an Aktualität nicht eingebüßt.

Eine Annäherung

Ohnmachtsgefühle sind allgegenwärtig. Ein Beispiel: In meinem ersten Beruf als Krankenpfleger gab es in jeder Klinik ärztliche Leiter, bei denen die Berufsbezeichnung „Chefarzt“ eher einer Diagnose gleichkam. Die Weißkittel agierten in einer Gutsherrenmanier und schienen einen sadistischen Spaß daran zu haben, ihre Untergebenen zu traktieren, zu erniedrigen oder wahlweise im Beisein der entsetzten Patienten vorzuführen. Da kamen Persönlichkeitsstörungen zusammen, für die bisher stimmige Umschreibungen fehlen, die sich aber annährungsweise mit Eigenschaften wie aggressiv, cholerisch, empathiefrei, asozial oder narzisstisch umschreiben lassen. Diese Übermenschen besaßen die Fähigkeit, ihre Untermenschen zu kritiklosen, angsterfüllten und ohnmächtigen Wesen erfrieren zu lassen. Auch ich fühlte mich als Visitenpfleger dieser vorgesetzten Brüllaffen mit oder ohne Professorentitel ohnmächtig ausgesetzt und spürte eine grassierende Begrenztheit meines eigenen Einflusses. Dies führte u.a. zu unsicherem Sprechen, psychosomatischen Reaktionen und panischer Angst, etwas falsch machen zu können. Das Gefühl, diesen Personen in der eigenen Stärke nicht gewachsen zu sein und sich in ihrer Gegenwart klein und unbeholfen zu fühlen, machte mich rasend und so manches Mal fabulierte ich, wie ich den promovierten Idioten die Visitenkurve um die Ohren schlage oder ihnen die gefüllte Bettpfanne über den Schädel ziehe. Eines Tages marschierte ich nach einem Vorfall tatsächlich mit geballter Faust in Richtung Chefarztzimmer, allerdings meldete ihn die Sekretärin als abwesend, was im Nachhinein gesehen entweder Glück für ihn oder für mich war. Das Ohnmachtsgefühl verfolgte mich noch lange.

Ohnmächtigkeit – löst man diesen Begriff zunächst einmal von der Assoziation der körperlichen Bewusstlosigkeit ab – basiert auf der tiefen Überzeugung, schwach, unwirksam und machtlos zu sein. „Ich kann nichts beeinflussen, nichts in Bewegung setzen, durch meinen Willen nicht erreichen, dass irgendetwas in der Außenwelt oder in mir selbst sich ändert, ich werde nicht ernstgenommen, bin für andere Menschen Luft.“ So umschreibt der Psychotherapeut und Sozialwissenschaftler Erich Fromm diesen psychischen Zustand. (1) Der Ausdruck scheint etwas aus der Mode gekommen zu sein, heute noch mehr als zu Zeiten Fromm´s. Vielleicht liegt es daran, dass es heute dank sozialer Netzwerke leichter fällt, unter dem Deckmantel der Anonymität Macht vorzutäuschen, die sich in der Realität als hohle Blase entpuppt.

Dass dieses Gefühl existiert und den Menschen, der es in sich trägt, bis zur absoluten Nichtigkeit zerfressen vermag, ist den meisten wenig bewusst. Häufig erlebe ich als Psychotherapeut junge Leute, die auf meine Frage, was denn der Grund für ihre Niedergestimmtheit sei, in völliger Ahnungslosigkeit. Manchmal kommen Antworten, wie: Es ist so ein leeres Gefühl, es ist wie ein schwarzes Loch oder ein ständiges Schwachsein. Erkläre ich ihnen (es handelt sich dabei vorwiegend um Mädchen im Jugendalter) mein Konstrukt der Ohnmacht, reagieren sie oft erleichtert, endlich eine Umschreibung gefunden zu haben, auch wenn sie sich bisher nicht in ihrem eigenen Vokabular befand.

Dabei muss ich gestehen, selbst erst vor kurzer Zeit auf diesen Begriff gestoßen zu sein. Wo und in welchem Zusammenhang, mag ich nicht mehr sagen, aber wie so oft beim Lesen von Artikeln in Zeitungen und Büchern bleibe ich bei Ausdrücken hängen, die plötzlich wie ein Schlüssel zu einer verschlossen Tür Einblick in einen neuen Denkraum geben. Auch wenn der Kontext eventuell ein ganz anderer war.

 

Erklärungsansätze

Wie bei wohl allen psychischen Zuständen und so auch bei dem Ohnmachtsgefühl gibt es keine eindeutigen Erklärungsansätze, mit denen sich eine Entstehung erklären ließe. Es ist immer ein Konglomerat von Hintergründen, Auslösern und Zusammenhängen. Man könnte es auch als Netzwerk, bestehend aus zahlreichen Faktoren, umschreiben, zu denen beispielsweise Aspekte wie schwache Persönlichkeit, mangelnde Selbstwirksamkeit, geringe Selbstliebe, gescheiterte Autonomieversuche, dysfunktionale Erziehung oder erlebte Gleichgültigkeit im Elternhaus gehören. Wäre ich in einem linken Elternhaus und nicht unter dem Banner eines unterwürfigen Katholizismus großgeworden, wäre ich eingangs zitiertem Chefarzt vermutlich nicht mit Ohnmacht begegnet, sondern hätte ihm entgegengeschmettert, dass er ein aufgeblasener Fatzke sei und gefälligst den Ball flach halten sollte, um dann spontan eine Besetzung seines Arbeitszimmers zu organisieren und für seine Absetzung zu sorgen.

In einer Abhandlung über die Ohnmächtigkeit von Psychotherapeuten in Therapiesituationen schreibt der Autor Konrad P. Grossmann (selbst Psychologe und Lehrtherapeut): „Menschliches Leben impliziert zumeist Selbstreflexion – den Blick auf sich selbst zurück, das Gewahrwerden, das ich tue, was ich tue, denke, was ich denke, erlebe, was ich erlebe.“ In der Psychologie kennt man auch den Begriff des „beobachtenden Gedanken“, der eigenes Denken, Erleben und Verhalten zum Gegenstand hat. (2) Doch was passiert mit einem Menschen, wenn irgendwann nicht nur sein Glaube daran verschwindet, irgendwas bewirken zu können, sondern auch die letzte Bastion menschlicher Durchhaltestrategien, das Träumen oder Wünschen, geschliffen wird? (1) Der recht unbekannte, aber von mir sehr geschätzte Psychologe George Kelly legte 1955 einen Denkansatz einer Theorie der persönlichen Konstrukte vor. Konstrukte sind persönliche Annahmen oder Glaubenssätze, mit denen ein Mensch die Komplexität der Welt und seines Lebens in dieser Welt überschaubar machen möchte. Der Mensch handelt dabei wie ein Forscher, der seine Hypothesen bestätigt wissen will. Je mehr diese Vorstellungen mit der Realität übereinstimmen, desto eher steht man im Einklang damit. Weichen sie ab, führt dies zu Frustrationen oder eben zu Ohnmachtsgefühlen.

Bleibt man bei dem Vergleich mit dem Forscher, so müssen die Menschen lernen, ihre Annahmen von Zeit zu Zeit zu überprüfen, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu erneuern. Dies würde sie nicht in dem Motto „Ich bin nun einmal so, wie ich bin, und kann nichts daran ändern“ erstarren lassen, sondern ihnen Mut für Veränderungen und Umgestaltungen ihres Lebens machen. „Was ich will, kann ich auch. Es braucht nur seine Zeit!“

Einen ähnlichen Ansatz findet man bei Martin Seligman, der den inzwischen sehr verbreiteten Ausdruck „erlernte Hilflosigkeit“ prägte. Durch immer wiederkehrende Erfahrungen, einer Situation hilflos ausgesetzt zu sein, kommen wir dauerhaft zu dem Ergebnis, ohne Kontrolle zu sein. Verfestigt sich diese Einsicht, führt es zu Motivationsverlusten, Lernstörungen und schließlich zu Depressionen.

Varianten des Ohnmachtsgefühls

Ohnmacht ist zunächst die Reaktion auf die Prozesse und Dinge, die in meiner unmittelbaren Welt geschehen, z.B. in der Familie, in der Beziehung oder wie oben dargestellt im Arbeitsleben. Dabei handelt es sich sowohl um tatsächlich erlebte Hilflosigkeit, weil ein Elternteil über lange Zeit als überstark erlebt wurde oder weil mich meine Schüchternheit oder Unselbständigkeit verstummen ließ, als auch um die Annahme, hilflos zu sein, ohne je ein anderes Verhalten probiert zu haben. Eine betagte, mir bekannte Frau schimpfte bei jeder Gelegenheit über Computer, Fernbedienungen und andere Auswüchse der modernen Welt. Interessanterweise sparte sie ihren Riesenfernseher von dieser Technikfeindlichkeit aus. Der Hintergrund ihres Gezeters war schlicht und ergreifend die Tatsache, dass sie nicht in der Lage war, die Geräte zu bedienen. Ohnmachtsgefühle treten Dingen gegenüber also ebenso in Erscheinungen wie Menschen. Auch hier noch einmal Fromm: „Der Mensch …“produziert eine Welt der großartigsten und wunderbarsten Dinge; aber diese seine eigenen Geschöpfe stehen ihm fremd und drohend gegenüber; sind sie geschaffen, so fühlt er sich nicht mehr als ihr Herr, sondern als ihr Diener.“ (1)

Ohnmachtsgefühle entwickeln sich aber auch in gesellschaftlichen oder politischen Prozessen. So fühlt sich der Mensch hilflos einem System ausgesetzt, was er zwar ausgesucht oder gewählt hat, das ihn aber sukzessive auf den Zuschauerplatz in der letzten Reihe verbannt hat. Er mutiert zu einem „Massen-Eremit“, wie es der Philosoph Günther Anders nannte. Das politische System findet großen Gefallen daran, unmündige Schafe zu produzieren. , Der deutsche Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Horst-Eberhard Richter schreibt über den Menschen in der modernen Industrielandschaft: „ Ihr Gemütsleben verflacht. Phantasie und individuelle Originalität schrumpfen unter einer Überflutung durch politische Propaganda, Konsumwerbung, stereotype Medienprogramme. In der nivellierten, abgestumpften Masse ist der einzelne isoliert, ohne sich dessen bewusst zu sein.“ (4)

Soziologische Untersuchungen und diesbezügliche Publikationen zu dem Phänomen des Rechtsrucks in Europa weisen immer wieder auf, dass der Trick von AfD, Pegida & Co, aber auch anderen Faschisten darin besteht, so zu tun, als verstehe man den vermeintlich kleinen Mann in seiner Hilflosigkeit gegenüber unüberschaubarer politischer Strukturen und gibt vor, Sprachrohr für ihn zu sein. Man bedient sich der Ohnmächtigen, um den eigenen Hunger nach Macht zu stillen. Es ist ein Leichtes, Bandenboss von Verletzten, Unverstandenen und Schwachen zu sein. Wieviel menschlicher und politisch korrekter wäre es, sie zu eigener Mächtigkeit anzuleiten, anstatt sich ihrer Hilflosigkeit für die eigene Profilneurose zu bedienen?

 

Versuche der Überwindung von Ohnmachtsgefühlen

Es gibt eine Reihe von zum Teil spärlichen Versuchen, das Gefühl dieses psychologischen und gesellschaftlichen Phänomens zu überwinden.

a) Rationalisierungen

Eine Rationalisierung ist eine Art Sinngebung, mit der die Person versucht, eine stichhaltige Begründung für das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit zu finden. So bestehen manche Menschen in Situationen der Überforderung mitunter darauf, „körperlich schwach zu sein, keine Anstrengungen zu vertragen, diesen oder jenen körperlichen Defekt zu haben, „leidend“ zu sein.“ (1) Das Gefühl, das eigentlich psychische Wurzeln hat, wird auf körperliche Mängel zurückgeführt. Und körperliche Mängel liegen grundsätzlich außerhalb der eigenen Einflussnahme. Zudem ist es in unserer Gesellschaft verpönt, schwach oder hilflos zu sein; die Schwäche jedoch mit Schmerzen oder einem anderen Körperleiden zu begründen, wird durchaus allgemein akzeptiert.

Die eigene Ohnmacht kann aber auch begründet und damit entschuldigt werden, indem man die geraubte Energie und den fehlenden Mut auf frühere Ereignisse oder Erfahrungen zurückführt. „Ich hatte eine schwere Kindheit“ oder „ich habe nie gelernt, was Liebe ist“, sind Attributionen der eigenen Hilflosigkeit. Solche Begründungen können aber auch schlicht und ergreifend einer Fantasie oder irrealen Idee entspringen, z.B. dass man vermeintlich in Stress ertrinkt und daher momentan keinen Gedanken an eine andere Sache verschwenden kann. Und da Stress ebenfalls ein gesellschaftlich anerkannter Negativzustand ist und hoher Stress sogar als Zeichen von Arbeitsamkeit anerkannt ist, wird ein solches Motiv für das Gefühl der Ohnmacht von der Umgebung kaum infrage gestellt.

Die genannten Möglichkeiten des Rationalisierens sind häufig Reaktionen auf bewusste Gefühle der Ohnmächtigkeit, d.h. man ist sich bewusst, nicht so handeln zu können, wie man möchte. Anders ist es jedoch, wenn es sich bei diesem Gefühl um ein nicht erklärbares handelt. Vielen Menschen fehlt eine Reflektiertheit über sich selbst, um Gefühle oder Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Dann ist die erlebte Schwäche eher unbestimmt und nur vage bewusst. Hier beschreibt Erich Fromm vor allem den Glauben an das Wunder und den Glauben an die Zeit, die alles ändern, heilen oder verbessern wird. Diese Vorstellung hat oftmals eher einen tröstenden Charakter. „Das Gemeinsame an all diesen tröstenden Illusionen ist immer, dass man selbst nichts zum gewünschten Erfolg zu tun braucht, auch gar nichts dazu tun kann, sondern dass eine außerhalb des Menschen stehende Macht oder Konstellation plötzlich das Gewünschte vollbringt.“(1)

Eine solche Sinngebung durch rationale Erklärungen ist aber eher eine Ausflucht, weniger eine Lösung. Zumeist verstärkt und damit steigert sie dauerhaft das Gefühl der Hilflosigkeit.

b) Geschäftigkeit

Wie schon bei den Rationalisierungen beschrieben geht es zumeist darum, das eigene Gefühl der Unzulänglichkeit zu verdrängen, um es entweder nicht mehr wahrzunehmen oder durch vermeintlich stichhaltige Begründungen für sich selbst und sein Umfeld zu entschuldigen. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der die Aktivität und Geschäftigkeit überaus geschätzt werden. Was liegt also näher, als sich ins Getümmel zu stürzen und bis zum Stehkragen mit Arbeit vollzupacken, den Kalender mit Terminen zu spicken oder statt einer eigentlichen Arbeit sich mit Scheinaktivitäten zu beschäftigen. Als ich mich während meines Studiums auf eine für mich schwere und angstbesetzte Prüfung vorbereiten musste, habe ich im Vorfeld Dutzende von eigentlich unsinnigen Tätigkeiten betrieben, um das eigentliche Lernen und die mögliche Einsicht, die Inhalte nicht zu verstehen, möglichst herauszuschieben.

c) Streben nach Kontrolle und Macht

Betrachtet man die momentane gesellschaftspolitische Lage und hier vor allem innerhalb der rechtspopulistischen Bewegungen, so fällt auf, dass viele Menschen über Minister, Kanzler(in) oder Präsidenten schimpfen und ihnen Unfähigkeit oder Versagen auf ganzer Ebene vorwerfen. Durch soziale Medien wie facebook werden solche Verwürfe offensichtlich und allseits nachvollziehbar, während sie sich früher vielleicht nur am Stammtisch oder beim Gespräch mit dem Nachbarn geoutet hätten. Viele Vorwürfe sind sicherlich berechtigt, allerdings entbehren sie allesamt einen Alternativ- oder Lösungsvorschlag. So ist z.B. die Alternative für Deutschland (AfD) vor allem eins: alternativlos.

Solche Allmachtsfantasien und Überheblichkeiten, klar der Klügere, Fähigere oder Geeignetere zu sein, sind häufig Blendwerke, die näher betrachtet, zusammenbrechen wie fragile Kartenhäuser. Dennoch übertünchen sie zumindest zeitweise die eigene Hilflosigkeit oder auch Ratlosigkeit: Die faktische Ohnmacht wird zur faktischen Macht. „Der häufigste Fall dieser Art sind Männer, wie wir sie besonders im europäischen Kleinbürgertum finden, die in ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Existenz völlig ohnmächtig sind, aber ihren Frauen, Kindern und vielleicht dem Hund gegenüber einen intensiven Wunsch nach Macht und Kontrolle haben und imstande sind, ihn auch zu realisieren und zu befriedigen.“ (1) Wie an so vielen Stellen des Fromm´schen Denkens kommt man zu der Annahme, der Psychotherapeut und Sozialwissenschaftler beschreibe die Jetztzeit. Allerdings verstarb Erich Fromm bereits 1980.

Auch in der Paarbeziehung sind Machtkämpfe oft nichts anderes, als das Bestreben, sich dem anderen nicht auszuliefern. So titelte die Frauenillustrierte „Brigitte“ einen Artikel dazu mit „Macht ist die Vermeidung von Ohnmacht. “ (Juni 2015) Eine treffende Aussage, die sich vermutlich auch auf politische und andere gesellschaftliche Bereiche übertragen lässt. Es wäre sicherlich interessant zu eruieren, was einen Putin oder Erdogan in frühen Gezeiten geritten hat, um zu einem derart psychopathischen Machtgeiferer zu mutieren

d) Wut und Aggression

In meinen Psychotherapien betreue ich häufig Menschen, die Opfer von Mobbing geworden sind oder sich selbstverletzen. Nicht selten ist das eine die Folge vom anderen! Beide Vorgänge basieren oftmals auf einer gemeinsamen Nenner: dem Ohnmachtsgefühl. Beim Mobbingopfer ist dieser Aspekt sogar im doppelten Sinne interessant: Das Opfer reagiert häufig mit Ohnmachtsgefühlen, da es sich nicht zu wehren weiß und weder vom Schulsystem, noch von Mitschülern Unterstützung erfährt. Das Profil des Täters weist ebenfalls Spuren einer Ohnmacht auf; seine Wut ist aktiv und zielbewusst, indem es sich gegen ein vermeintlich schwächeres Opfer richtet. Sehr oft handelt es sich bei den Tätern um Personen, die Erniedrigung, Ausgrenzung oder Gewalt erfahren haben. Solche aggressiven Tendenzen, die sich aus einem eigenen Gefühl der anfänglichen Machtlosigkeit speisen, finden sich bei zahlreichen Gewalttätern, Schlägern, Nazis oder Hooligans. Diesen Aspekt thematisiert die Popgruppe „Die Ärzte“ in ihrem Song „Arschloch“:

Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe,

Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.

Du hast nie gelernt dich zu artikulieren

Und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit.

 e) Resignation

Führen alle Versuche, die eigene Schwäche durch Ausreden, Ausflüchte oder bestimmte Denkprozesse zu kaschieren, flüchten sich viele Menschen schlussendlich in die Resignation. Es macht eben alles keinen Sinn mehr, es ist aussichtslos und man ist der Meinung, etwas einfach nicht mehr zu schaffen. Die Formen oder besser gesagt die Ausdrucksformen der Resignation sind vielfältig und unterschiedlich. Zu beobachten sind Rückzugstendenzen, Teilnahmslosigkeit am gesellschaftlichen Geschehen im näheren und weiteren Umfeld, Drogenkonsum, depressive Tendenzen oder als äußerste Form der Suizid.

 

Lösungsansätze

Das Auflösen von Ohnmachtsgefühlen und damit das Wiedererlernen von Selbstwirksamkeit setzen voraus, dass der sich als schwach fühlende Mensch über ein selbstbeobachtendes Denken, also eine Selbstreflexion verfügt. Wie bereits im Vorfeld beschrieben, sind sich viele Menschen gar nicht bewusst, einem Gefühl der Ohnmächtigkeit zu unterliegen. Sie halten es vielleicht für normal oder eben als Produkt ihrer verkorksten Kindheit, so und nicht anders zu sein. Und viele zweifeln daran, diesen Zustand jemals aus eigener Kraft ändern zu können. Oft führt sie erst eine körperliche oder psychische Erkrankung in eine Psychotherapie, wo sie bestenfalls lernen, dass die Fähigkeiten für Veränderungsprozesse in ihnen selbst liegen.

Doch eine „Entohnmachtung“ sollte viel früher anfangen. Wünschenswert wäre, schon in Kleinkindalter den jungen Menschen zur Selbstwirksamkeit und damit zum Selbstbewusstsein anzuleiten. Doch wie soll das passieren, wenn viele Eltern nichts weiter als älter gewordene Kinder sind? Auch wenn sich die Schule überfordert fühlt, all die bisher verpassten Erziehungsaufgaben im Elternhaus nachzuholen, liegt hier ein wesentlicher Grundstein für die Entwicklung einer optimistischen Selbstsicht. In meinem Geschichtsunterricht musste ich vor allem Daten lernen, aber mein Geschichtslehrer hat mir nicht aufgezeigt, wie die Masse der Ohnmächtigen durch faschistische Systeme missbraucht wurde. Das Ziel unseres Bildungssystems sollte nicht der möglichst frühzeitige Einstieg ins Berufsleben als wiederum ohnmächtiges Humankapital sein, sondern den Lernbefohlenen Anleitungen zur Reifung zu einem sozialen und selbstdenkenden Wesen zu geben. Da wir inzwischen wissen, wie wichtig auch künstlerische, musikalische oder sonstige kulturellen Betätigungen für eine solche Reifung sind, ist es geradezu ein soziales Verbrechen, solche Angebote aus Ersparnisgründen wegzurationalisieren. Der Philosoph und Publizist Richard David Precht bezeichnet Schulen als „Lernfabriken, die Kreativität töten.“ (3) Folgt man nicht nur seinen Überlegungen, müssen wir uns von der klassischen Schule verabschieden und viel mehr in Projekten, individualisiertem Lern- und Selbstlernprozessen arbeiten. Dass dies gerade von konservativen Parteien und leistungsorientieren Eltern abgelehnt wird, hat System: Man will keine selbstdenkenden Wesen, sondern stille Machtentgegennehmer. Eben Ohnmächtige!

Breaking The Silence (Foto Arnold Illhardt)
Breaking The Silence (Foto Arnold Illhardt)

Schon 1987 stellte der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger in einem Spiegel-Interview (Nr. 4, 87) fest: „Die Bundesregierung kann sich eine inkompetente Regierung leisten, weil es letzten Endes auf die Leute, die uns in der Tagesschau langweilen, gar nicht ankommt. Die realen gesellschaftlichen Prozesse verlaufen dem Bonner Zirkus gegenüber weitgehend autonom.“ Tauscht man Bonn gegen Berlin, passt dieser Ausspruch auch noch heute. Robert Jungk schlug ebenfalls zeitgleich eine neue Dreiheit vor: Partizipation, Phantasie und Perspektive. Es wurde verpasst, den Alltagsmenschen einzubeziehen. Jungk forderte Zukunftswerkstätten als Gegenentwurf zu staatlichen Institutionen und zu Ermächtigung des Einzelnen. Je mehr man Menschen außerhalb von Behörden, Parteien etc. einbezieht, sie in Räten, Kulturorganisationen, Foren, Selbsthilfegruppen, Medien, Stadtplanungsstäben, unabhängigen Gewerkschaften oder Betriebsgruppen einbezieht, desto mehr löst sich der Einzelne aus seinem Ohnmachtsgefühl und kehrt zurück zu einer Selbstwirksamkeit als Teil der Gesellschaft und seiner selbst.

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  1. Erich Fromm: Authentisch leben. Herausgegeben von Rainer Funk. Verlag Herder, 2000
  2. Konrad Peter Grossmann: Macht und Ohnmacht. Von der Schwierigkeit, das eigene Leben zu beeinflussen. In: Systemische Notizen, 19(1), 4-1(2006
  3. In: DIE ZEIT Nr. 16/2013
  4. Horst-Eberhard Richter: Mit dem Herzen erleben. In Walter Jens: Plädoyer für die Humanität. Kindler