Eine kleine Dienstreise nach Wien
Reisen bedeutet immer Begegnung - mit Flüchtlingen

Ganz Europa ist in Bewegung (Foto: Daniela Kaminski)
Ganz Europa ist in Bewegung (Foto: Daniela Kaminski)

Elf Stunden fährt der ICE von Münster nach Wien. Wenn man gerne Bahn fährt, einen Sitzplatz hat, für alles gerüstet ist, Essen, Trinken, Lektüre, Kissen, ist das nahezu ein Tag Urlaub mit Blick auf den Rhein, die Donau, Weinberge. Man lernt Menschen kennen, die einem auch mal einen Einblick in ihr Leben gewähren. Der Oktober 2015 ist anders.

 

Auf der Suche nach...viele junge Männer sind minderjährig (Foto: Daniela Kaminski)
Auf der Suche nach…viele junge Männer sind minderjährig (Foto: Daniela Kaminski)

Europa ist geprägt von Flüchtlingsströmen und Wien ist ein Hotspot der Bewegung. Die ganze Stadt spricht von den Flüchtlingen, die Nachrichten zeigen den völlig überforderten Ort Spielfeld. Montag ist Feiertag in Österreich. Vor der großen Parade scheinen alle fliehen zu wollen, wenigstens die Menschen, die ich treffe. Nach Triest zum Beispiel, „wenn man denn in Spielfeld weiterkommt.“

„Meine Kollegin hat oft am Bahnhof geholfen. Es kamen sogar Menschen mit Schussverletzungen, in Ungarn muss es furchtbar gewesen sein,“ erzählt meine österreichische Kollegin.

„Wie wirst du nach Hause kommen?“ Ich habe keine Ahnung.

Am Wiener Bahnhof ist es recht ruhig. Kleine Gruppen arabisch aussehender junger Männer sind auf dem Bahnsteig und sind ständig in Bewegung. Die Stimme der Ansagerin verkündet, dass es keine Verbindung über Salzburg nach Deutschland gibt. Oje, fahre ich da her? Ich rekapituliere den Hinweg – eher nicht.

In der kleinen Gruppe junger Männer, ach eigentlich sind es Jungs so um die 20, auch drunter, viel jünger als meine Söhne, sorgt irgendetwas für Aufregung und Verunsicherung. Ich frage, automatisch auf Englisch, ob ich helfen kann. Einer kann englisch, damit wird man automatisch zum ‚Leader‘. Sie haben den Zug verpasst. Ich schaue aufs Ticket, es führt über Wien – Linz, warum nicht die S-Bahn nehmen, nein, geht nicht, wirklich, der richtige Zug ist just weg.

 

Schöne, heile Bahnhofswelt? (Foto: Daniela Kaminski)
Schöne, heile Bahnhofswelt? (Foto: Daniela Kaminski)

Die Gruppe fragt einen jungen Bahnangestellten, der auf österreichisch brummelnd irgendetwas erklärt – mir ist klar, dass nichts klar ist. Er soll es halt mir noch mal erklären: die Tickets gelten 15 Tage, sie können den nächsten Zug nehmen. Der fährt um 16 Uhr, es ist halb elf, alle sind erschöpft, aber immerhin geht es irgendwie weiter. Auch wenn sie noch mal einen Stopp, ein Panne haben, die Tickets gelten erst einmal, beteuer ich noch mal.

Durchsage: Mein Zug sei total ausgebucht und nur Menschen mit Ticket und/oder Reservierung dürfen einsteigen. Reserviert habe ich. Voll ist der Zug keineswegs bei der Abfahrt, erst ab dem nächsten Wiener Bahnhof.

 

Auf dem Weg nach ... (Foto: Daniela Kaminski)
Auf dem Weg nach … (Foto: Daniela Kaminski)

Ich sitze am Tisch und schwupp, drei arabisch aussehende Männer sitzen um mich herum. Oha, hätte ich früher gedacht. Der ältere lächelt müde, ein jüngerer eher aufgeschlossen. Der neben mir ist sofort eingeschlafen. Ich biete meine Hustenbonbons an, sie nehmen eins. Dann greifen sie auch Stücke meiner Zeitung, hinter der sie sich verschanzen, Titelfoto Flüchtlinge, Innenfoto Flüchtlinge – ein traurig verschworenes Zwinkern zwischen Vater und Sohn „können wir eh nicht lesen“.

Blöd: ich muss auf die Toilette. Nach 30 Minuten aber wirklich. Ich stehe auf, der alte Herr versucht, seinen Sohn zu wecken. Ich wehre ab, schließlich wollte ich mal Sport studieren. Geht schon. Gegenüber eine ältere Wienerin begreift die Situation, steht auf, reicht mir die Hand, ich springe über den Tisch. Als ich zurück komme, haben sie ihn doch geweckt.

Hinter mir keift es Wienerisch: „Wir hom reserviert, Sie müssen scho aufstehen! You must stand, sie sagt „schtähnd“, up, this is our seat.“ Eine Mutter kämpft um ihr Recht, das ihr ohnehin niemand streitig machen will. Es geht um ein Nichtverständnis, das sie nicht versteht. Ich versuche es wieder mit Englisch, klappt. Zur Gruppe gehören noch zwei Frauen und ein weiterer Mann. Sie kommen aus dem Irak. Er habe alles verkauft, 40.000 Euro hat die Flucht bisher gekostet. Seit 25 Tagen sind sie unterwegs. Eine der Frauen bekommt nun den Sitz mir gegenüber – und schläft nach drei Minuten ein. Sie wollen nach Hamburg. Die jungen Männer stehen jetzt an der Tür. Ich habe Hunger, mag aber nichts essen. Soll ich was anbieten? Soll ich ihnen was vorkauen? Für solche Situationen gibt es keinen Knigge.

Während der ganzen Fahrt durch Deutschland hat nie einer der erwachsenen Flüchtlinge gegessen oder getrunken, nur ein Kind hatte einen Apfel.

Während der ganzen Zeit wird immer wieder telefoniert. Die Menschen sind so müde, es gibt nur ein weiter, Schritt für Schritt. Deutschland, endlich, denke ich in ihrem namen erleichtert.

1. Station Passau. Sofort erscheint die Polizei und holt alle zur Passkontrolle aus dem Zug. Keiner protestiert oder fragt auch nur, sicher waren sie vorbereitet. Hinter mir ertönt ein österreichisches „Danke, super!“, sie sagt „suppa“, und ich weiß nicht, ober es die Platzverteidigerinmutter ist oder die Österreicherin, die bis Wuppertal durchquatschen wird. In solchen Momenten fängt der Wiener Schmäh an zu triefen und erinnert an Christoph Waltz in Inglorous Bastard. Vielleicht kommt Schmäh doch von schmähen.

 

Wie ihr mein Land seht (Foto: Daniela Kaminski)
Wie ihr mein Land seht (Foto: Daniela Kaminski)

Irgendwann am Rhein weint ein Kind. Immer wieder. Ich habe noch Wasser, Nüsse, Äpfel, Trockenfrüchte…Diese Mal ist es nichts mit Englisch, aber die junge Frau nimmt mit einem wunderbaren Lächeln meine Sachen entgegen. Der Mann möchte telefonieren. Mist, mein Handy ist nicht mein Freund. Ich kann da immer wenig helfen. Es geht nicht, aber das Problem haben alle. Also geht es wirklich nicht. In Dortmund bekomme ich eine Netzverbindung. Die Familie schläft. Der junge Vater kann mich im Spiegel sehen, also mache ich Zeichen. Sein Handy tut es nicht, auch nicht Whats app. Der Rest auf dem Handy ist arabisch. Sorry.

Sorry. Sorry. Sorry. Mir tut alles leid: dass ich nicht helfen kann. Dass ich nicht mehr zu essen habe. Dass ich mein Handy nie studiert habe. Dass sie so traurig und müde sein müssen. Dass man ihren Schmerz spüren kann.

Der Schaffner geht noch mal durch auf der Jagd nach neuen Fahrscheinen. „Die schlafen alle, die sind aber schon lange im Zug.“ Nein, natürlich muss er noch mal reingehen, die Tür aufmachen, zufrieden nicken, dass er sie wirklich schon kontrolliert hat – das Kind ist nicht mehr wach geworden. Sorry auch für diesen Schaffner. Sorry.

Danke für euer Lächeln.