Erwachsensein und – werden ist nicht immer ein Entwicklungsfortschritt. Mancher Erwachsene mutiert zu einem normierten Wesen, „…das in einer entzauberten Welt sogenannter Tatsachen existiert.“ (Michael Ende)
Ich bin zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes 58 Jahre alt und man könnte meinen, ich hätte den zu meinen Jugendzeiten dutzend Mal geäußerten Wunsch meiner Eltern “Junge, nun werd´ doch mal erwachsen” erfolgreich umgesetzt. Dummerweise haben sowohl Vater, als auch Mutter zu Lebzeiten verpasst, mir in konkreter und anschaulicher Weise zu erklären, was es eigentlich heißt, erwachsen zu sein. Es waren eher orakelhafte Andeutungen oder schemenhafte Hinweise, die allesamt auf nichts Gutes, zumindest nichts Erstrebenswertes schließen ließen. Leider kann ich sie heute nicht mehr fragen!
In einem Gespräch der ZEIT mit dem Schriftsteller Peter Handke und dem Regisseur Luc Bondy wird der Schauspieler Alec Guiness zitiert, der einmal gesagt haben soll, er war ein Leben lang ein Kind, das einen Erwachsenen gespielt hat. Handke erwidert darauf: “Die beste Entwicklung, die ein Mensch nehmen kann, ist, dass er das Kind bleibt, das er ist.” Es ist immer wieder wohltuend, Textstellen zu finden, die das eigene Be- oder Empfinden in prägnanter Weise wiederspiegeln oder vielleicht auch nur eine Art Legitimation für das eigene, etwas gewagte, da nonkonforme Denken abliefern. Und so spricht mir Handke aus meiner verderbten Seele, denn wahrlich ich sage euch, auch ich kann und werde am Erwachsensein nichts finden, was ich ruhigen Gewissens meinen Nachfahren weitergeben könnte, weswegen ich die letzten Jahrzehnten die meiste Zeit getrost drauf verzichtet habe, erwachsen zu werden.
Erwachsensein wird oft mit Reife gleichgesetzt. Dieser Begriff, „ …ist ein Mittel zur Selbstverherrlichung, den die Menge der Erwachsenen gebraucht, um das Empfinden der Unterlegenheit gegenüber den eigenen Kindern zu kompensieren.“ (Rudolf Dreikurs). Der Psychiater und Sozialtherapeut Dreikurs beschreibt Reife weiter als ein „…gesundes Gefühl für Realität, Sinn für Proportionen, Selbstlosigkeit, emotionale Disziplin, Zuverlässigkeit und Unabhängigkeit – kurz gesagt, ein korrektes soziales und emotionales Verhalten.“ Lauter Aspekte also, die bei den „Großen“ so rar sind, wie Krabben auf einer Pizza Frutti Di Mare.
Die Symptome des Erwachsenseins
Schauen wir uns die Spezies Erwachsene einmal durch ein leicht zynisch gefärbtes Vergrößerungsglas an. Was fällt dabei auf? Erwachsene wirken zum Teil wie aufgeblasene Guppymännchen im akuten Balzstadium: hochnotpeinlich. Während die einen an vorgealterte Mutationen von zu Mensch gewordenen Teletubbies erinnern (= unerwachsen), führen sich andere mit allzeit geblähter Brust so auf, als verwalteten sie den geballten Erfahrungsschatz der Menschheit (= ver- oder entwachsen). Oftmals erweist sich jedoch die mutmaßlich vorgebrachte Lebensempirie als klägliches Kapital. Erfahrungen entstehen nämlich nicht automatisch durch das Fortschreiten der Jahre, sondern in dem man sie macht. Typisch erwachsene Verhaltensweisen wie exzessiver Fernseh- und Internetkonsum, das Lesen von sinnbefreiten Zeitungen oder das Bereisen von Ländern in All-Inklusiv-Ghettos sind nicht besonders erfahrungsbereichernd, sondern führen auf Dauer eher zu einer Verflachung bzw. einer Eingeschnürtheit des Denkens. Aber auch der Erwachsenentyp Oberstudienrat, der große wie kleine Mitmenschen mit seiner verkrampften, lebensfernen, absolut unlustigen und überheblichen Besserwisserei quält, ist als Wegweiser für das Leben in spe unbrauchbar.
Beobachtet man so manchen Erwachsenen beispielsweise in seinem bevorzugten Jagdrevier, dem Straßenverkehr, so liegt bei dem ein oder anderen motorisierten Vierradpiloten der Vergleich zur besengten Sau nicht fern: von fairem und vor allem sozialen Fahrstil keine Spur. Ist das Reife? Oder werfen wir einen Blick ins Berufsleben. In meinen über Jahrzehnte gemachten, zahlreichen Erlebnissen in Krankenhäusern und sonstigen medizinischen Einrichtungen habe ich Personen in einflussreichen Positionen erlebt, für die der Ausdruck Platzhirsch noch geschmeichelt ist. Ein derart fremdaggressives und autoritär-psychotisches Verhalten findet man allenfalls bei neurotischen Königstigern nach jahrelanger Käfighaltung in drittklassigen zoologischen Anstalten. Ist das erwachsen? Besonders drollig bis pathologisch ist das Verhalten zwischen erwachsenen Männchen und Weibchen. Jedes dahergeflogene Taubenpaar weist mehr Romantik und Zusammengehörigkeitsgefühl auf als es viele Menschenpaare fortgeschrittenen Alters nur ansatzweise zu leben wissen. Ist das mit Vorbildhaftigkeit gemeint? Und ist es eine besondere menschliche Reifeentwicklung, andere Völker mit ausgeklügelten Waffensystemen auszurotten? Sind Ausländerfeindlichkeit (versteckt wie offen geäußert), Hierarchiegebolze, Überheblichkeit, Ellenbogenverhalten, Konsumiergehabe, Nationalismus oder Kleinkariertheit im Denken besonders empfehlenswerte Ideale für die Nachkommen? Man könnte die schier endlose Liste der erwachsenen Unausgereiftheiten mit einem Zitat von Handke abrunden: “Schaut euch all diese scheußlichen entwickelten Gestalten an, mit denen nichts mehr los ist.” Erwachsensein und die Entwicklung dorthin erscheinen mir Anpassungsvorgänge zu einer Standardisierung in DIN-Form zu sein.
Kinder – die besseren Erwachsenen?
Als Kinderpsychologe erlebe ich tagtäglich Kinder und Jugendliche mit zum Teil wunderbaren Eigenschaften, mit einer großen Leichtigkeit im Denken, mit der Fähigkeit zu träumen, mit tollen sozialen Einstellungen und vielen anderen Besonderheiten, die kleine Menschen auszeichnen. Umso entsetzlicher, wenn Jugendliche beginnen, vermeintlich erwachsenes Verhalten nachzuahmen; das Entsetzliche daran ist, dass es ein beschämendes Spiegelbild der ihnen präsentierten Erwachsenenwelt darstellt. Kein Wunder, wenn man so manchen dazugehörenden Lebenserziehungsberechtigten kennenlernt! Doch viele Jugendliche überzeugen auch durch ein großes Engagement, durch ihre unvergleichliche Art, sich über etwas zu empören, aber auch sich für etwas einzusetzen oder zu begeistern. Es erinnert mich oft an meine Jugendzeit und längst habe ich aufgehört, meine Jugend zu belächeln. Vielmehr sollte ich so manches Mal kritisch darüber nachdenken, wie viele positive Ansätze es in meiner Jugendzeit gab und wie viele Vorsätze davon leider uneingelöst blieben oder gar über Bord geworfen wurden. Und warum? Um den angenommenen Anpassungsprozessen Genüge zu tun. Erwachsene haben zumeist enge Denkkonstrukte: Was oder wer anders ist, passt in diese Prägeform nicht hinein, macht Angst oder wird als verrückt zurückgewiesen. Daher wird es oftmals so entsetzlich langweilig unter den der Vielfalt Entwachsenen.
Nein, wir sollten nicht zu Kindern oder Jugendlichen zurückmutieren; das ist nicht die Essenz dieser Überlegungen. Doch es würde schon reichen, sich hin und wieder in seiner erwachsenen Überheblichkeit und Arroganz des Wissenden zurückzunehmen und dem Kindlichen in uns etwas mehr Platz einzuräumen. Wir sollten nicht vergessen: Dass, was wir heute sind, konnten wir nur über den Weg des Kindseins erreichen. Wer diesen Teil aus seiner Vita gestrichen hat, ist nur ein halber Mensch und als Vorbild eine denkbar schlechte Besetzung. Es ist oftmals beschämend, wenn sich vermeintliche Erwachsene über Kinder oder Jugendlichen und ihre Unreife belustigen, ihnen aber selbst nicht bewusst ist, dass sie lediglich gesellschaftskonform, manchmal sogar in pathologischer Weise mutiert sind, aber weder Eigensinn, Individualität, geschweige denn kreative Lebenskonstrukte besitzen. Erwachsensein ist oftmals nur ein starrer Zustand, kein gelebtes Leben! Was gibt es da zu verherrlichen?