Zahlreiche Menschen finden großes Gefallen daran, andere zu schikanieren und zu quälen – psychisch, wie physisch. Der Begriff Mobbing klingt harmlos und wird häufig inflationär gebraucht. Doch Mobben bedeutet die Ausübung von Gewalt und kann Menschenseelen zerstören, nicht selten sogar tödlich enden. Die Folgen und Langzeitfolgen werden vielfach ausgeblendet. Was passiert mit jungen Menschen/Jugendlichen, die Mobbingerfahrungen haben?
Einleitung
Vor vielen Jahren führte ich mit einer großen Gruppe von Jugendlichen (überwiegend Mädchen), die ich in meiner Funktion als klinischer Psychotherapeut bei ihrem stationären Aufenthalt betreute, ein Kreativseminar durch, bei dem das Thema Mobbing im Vordergrund stand. Wir sammelten gemeinsam Aspekte, weswegen man in der Schule oder im Freizeitbereich ausgegrenzt, „blöd angemacht“, schikaniert, beleidigt oder gar körperlich verletzt wurde. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird diese entgleiste Interaktion Mobbing genannt. Dabei ist wichtig, solche Prozesse klar zu umschreiben, da es sich beim Mobbing um wiederholte und regelmäßig auftretende Prozesse handelt.
- Mobbing sind Handlungen negativer Art, die vorsätzlich durch einen oder mehrere Personen gegen eine Mitschülerin oder einen Mitschüler gerichtet sind.
- Mobbing kommt über einen längeren Zeitraum vor.
- Mobbing erfordert, dass zwischen dem Opfer und dem Täter (oder der Gruppe von Tätern) ein Ungleichgewicht der Kräfte herrscht, das sich auf körperliche oder psychische Stärke beziehen kann.
- Es handelt sich nicht um Mobbing, wenn zwei gleich starke Schüler miteinander streiten
Aus: https://mobbing-in-schulen.de/pages/mobbing.php
Recht schnell fanden sich in der Gruppe unzählige Gründe, die Anlass zum Schikanieren, Bedrohen oder zu Gewaltandrohungen oder -anwendungen gaben: Körpergröße und -gewicht, Musikgeschmack, Hautfarbe, Erkrankungen, besondere Körpermerkmale (lange Nase, große Ohren…), sozialer Status, Beziehungsstatus, Persönlichkeitsmerkmale, Mode, Kleidungsmerkmale, große oder kleine Brüste, gute Schulnoten, Krankheiten, Herkunft usw. Die Mobbingaspekte wurden dann später in Bilder umgesetzt und ausgestellt. Viele Erwachsene, die sich die Ausstellung anschauten, waren entsetzt und sprachlos, aber viele hatten selbst Erfahrungen mit Mobbing gesammelt. Es ist somit kein spezielles Altersphänomen. Mir sind unzählige Berichte aus Kindergärten oder der Grundschule bekannt. Bereits hier griffen kindliche Täter auf Belästigungsmuster zurück, die man eher im Jugendalter vermuten würde. Natürlich existiert Mobbing auch im Erwachsenbereich und hier besonders häufig am Arbeitsplatz. Übrigens spielt dabei der Bildungsgrad keine Rolle: Ich habe zahlreiche Vorfälle erlebt, bei denen in ärztlichen Kollegenkreisen gemobbt wurden. Hätte man hier nicht mehr soziale Kompetenz erwartet?
In diesem Text liegt der Schwerpunkt vor allem auf Jugendlichen und die Auswirkungen der Erlebnisse auf die Entwicklung.
Orte und Wege des Mobbings
Die jungen Patienten, die ich betreue, leiden an chronischen Erkrankungen: Ein dankbarer Grund für Mobbingattacken. Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen reichen dabei von verbalen Attacken („Krüppel“), Auslachen über Ausgrenzungen („ich bin immer allein auf dem Schulhof“) bis hin zu körperlichen Übergriffen. Neulich berichtete eine Patientin, sie sei mehrfach gewürgt worden und man habe ihr gedroht, sie anzuzünden. Die Stilmittel des Mobbens sind unermesslich und es stellt sich die Frage, ab wann von kriminellen Handlungen die Rede ist:
- Anschreien, Beschimpfen, Entwürdigen
- Lächerlich machen, Witze reißen
- Imitation von typischen Verhaltensweisen oder Bewegungsmustern
- Absichtliche Verbreitung von Gerüchten
- Bedrohen (mündlich, schriftlich) und Androhen von Gewalt (töten, anzünden, schlagen, vergewaltigen, mit einem Messer verletzen usw.)
- Gewaltanwendungen, z.T. durch eine ganze Gruppe
- Verstreuen von Inhalten der Schultasche in der Klasse, Zerstörung von Eigentum
- Erpressung
- Telefonterror
- Andichten von psychischen Erkrankungen
- Handyvideos in den sozialen Medien
- Streuen von Falschinformationen in den sozialen Medien
- Sexuelle Belästigung usw.
Die beschriebenen Feindseligkeiten gegenüber vermeintlich schwächeren Kindern und Jugendlichen findet man allerdings nicht nur in der Schule, sondern auch im Freizeitbereich (z.B. in Sportgruppen) oder bei eher zufälligen Begegnungen (z.B. beim Einkaufsbummel oder bei Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln). Psychische und physische Gewalt gegen vermeintlich schwächere, anders aussehende oder sich verhaltende Personen gibt es überall. Ebenfalls ist es kein Phänomen der Neuzeit: Gemobbt wurde schon immer, wie man z.B. in „die Verwirrungen des Zöglings Törless“ (1906) von Robert Musil nachlesen kann. Nur ist es dank der modernen Medien leichter geworden, Menschen zu erniedrigen.
iSharegossip war eine Mobbingplattform. Die Seite wurde vor allem von Schülern für Beleidigungen und Drohungen genutzt, ohne dabei den Namen nennen zu müssen. Die Seite war nach Schulen und Klassen sortiert, so dass man eine Person beleidigen konnte, worauf dann der Rest der Klassen – anonym – einsteigen konnte, Ende Mai 2011 nahmen deutsche Strafverfolger einen mutmaßlichen Betreiber fest. Am 14. Juni 2011 übernahmen offenbar Hacker der Gruppe 23timesPi die Seite.
Mobbing, Bullying, Dissen … Begriffe, die verharmlosen
Es kursieren unterschiedliche Begriffe, die das Phänomen der negativen Interaktion umschreiben sollen. Auch in der deutschsprachigen Fachliteratur wird stets auf den Begriff „Bullying“ verwiesen, wenn man vom Mobbing unter Schülern und Schülerinnen spricht. Der Ausdruck „Mobbing“ stammt eher aus dem Arbeits- und damit Erwachsenenbereich. Allerdings hat sich der Begriff „Bullying“ nie wirklich durchgesetzt und wird auch von den Jugendlichen selbst nicht gebraucht. Trotzdem werden beide Ausdrücke im allgemeinen Sprachgebrauch gleichbedeutend verwendet. So auch in diesem Text! Viele Jugendliche, sowie Personen, die in der Jugendkultur eine wichtige Rolle spielen (z.B. im Musikbereich – vor allem in der Rap-Musik), sprechen auch vom „Dissen“. Beide Begriffe werden inzwischen fast schon inflationär gebraucht, so dass der tatsächliche Negativfaktor aufgehoben wird. Es gibt sogar Internetseiten (https://www.sprueche.de/diss-sprueche), auf denen es Anregungen für Sprüche gibt, um Leute „abglitschen“ zu lassen.
- Mit deinem Arsch könnte man die Hungersnot in Afrika bekämpfen
- So wie du aussiehst, könntest du auf das Plakat der Welthungerhilfe kommen.
- Du bist ein typischer Fall von einem gerissenen Kondom.
Die Beteiligten: Täter/Opfer/Mitläufer/Gesellschaft
Beim Mobbing unterteilt man in Täter, Opfer und Assistenten, worunter man Mitläufer versteht, die häufig einfach mitmachen, weil sie so Attacken gegen ihre eigene Person entgehen können.
Täter
Es gibt viele Gründe, warum Jugendliche andere Jugendliche ärgern oder quälen:
- Durch das Mobben erfährt der Täter ein Machtgefühl. Wird er in seinen Aktivitäten nicht gebremst, so führt dies in der Regel zu einer Fortsetzung, manchmal auch mit aggressiveren Mitteln.
- Die erworbene Machtposition bringt dem Täter in bestimmten Kreisen Anerkennung, attestiert ihm Stärke und Coolness.
- Durch das Mobben kann der Täter von eigenen Missständen (z.B. schlechte Noten, emotionale Kälte im Elternhaus etc.) ablenken oder sie dadurch sogar kompensieren.
- Häufig existieren bei den Tätern Missstände bezüglich der sozialen Kompetenz und emotionalen Intelligenz.
- Viele Täter sind durch Darstellungen in gewaltverherrlichende Filme oder Medien (z.B. Computerspiele, Musikvideos) beeinflusst. Die hier gezeigten Brutalitäten und inhumanen Tätlichkeiten erfahren dadurch eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz.
- Erfährt der Täter keine Ablehnung seiner Taten durch Schule oder andere Personen, so fühlt er sich bestärkt, weiterzuhandeln. Das Unentdecktbleiben seiner Aggressionen kann für ihn sogar ein Zeichen von besonders Raffinesse sein.
- Mitzubekommen, wie andere sich quälen, kann einen gewissen „Kick“ verursachen; man könnte es auch als Voyeurismus bezeichnen. (Lange Zeit ergötzte sich eine ganze Nation daran, wie schlechte Sänger bei „Deutschland sucht den Superstar“ von Dieter Bohlen schikaniert werden!!)
- Viele Kinder und Jugendliche erfahren in ihrem Elternhaus kaum Regeln oder Erziehung zu moralischem Verhalten. Oftmals sind die Eltern selbst schlechte Vorbilder!
In Gesprächen mit Tätern musste ich oftmals feststellen, dass das menschenfeindliche Verhalten eher verharmlost wurde. Es sei ja nur ein Spaß gewesen. Konfrontierte man die Mobber mit den möglichen Folgen dieses „Spaßes“ für die Opfer, trat oftmals große Betroffenheit ein. Doch nicht selten reagierten Täter in der Konfrontation mit ihrem Verhalten völlig emotionsfrei; die an den Tag gelegte Gleichgültigkeit und die teilweise sogar verdeckt gezeigte Befriedigung über das Quälen anderer macht mich manchmal sprachlos. Offenbar scheint es für viele eine Genugtuung zu sein, einen anderen Menschen zu zersetzen und zu tyrannisieren; da nimmt man auch das Krankwerden oder offenbar auch den Tod in Kauf. Eine Jugendliche, die ich vor vielen Jahren betreute, kam mit ausgeprägten psychischen Störungen zu mir. Ihre Freundin war von dem Klassenverband gemobbt und immer wieder aufgefordert worden, sich umzubringen. Die Freundin sprang dann vom Dach der Schule und war tot. Dem Mädchen, das ich betreute, hat man ebenfalls angedroht: Wir bringen dich auch noch dazu zu springen. Glücklicherweise überlebte sie – aber nur durch einen Schulwechsel und Umzug!
Opfer
Grundsätzlich kann jeder und jede Opfer von Mobbingangriffen werden. Allerdings bieten oft besondere Eigenschaften wie hohes Selbstbewusstsein, verbale Stärke oder körperliche Kraft einen gewissen Schutz. Dennoch kann z.B. eine Gruppe von Tätern durch geballte Attacken solche vermeintlichen Schutzschichten durchdringen. Dagegen werden schüchterne, sozial wenig kompetente, benachteiligte oder auch körperlich schwache oder andersaussehende Jugendliche schneller zum Opfer. Täter sind an schnellen Vorteilen und vermeintlichen Siegen interessiert; das Eingeständnis zu unterliegen würde wiederum ihr eigenes Ego schwächen.
Viele Erwachsene, die mit Jugendlichen in den unterschiedlichen Settings zu tun haben, sehen die Schuld für das Mobbing oftmals bei den Opfern selbst. Das kann sogar hin und wieder seine Richtigkeit haben, da sich z.B. die jungen Leute provozierend oder sehr egoistisch verhalten haben. Aber diese Schuldzuweisung hängt nicht selten mit einer besonderen Persönlichkeits- oder Interessensausrichtungen zusammen, die von einer breiten gesellschaftlichen Gruppe abgelehnt wird und daher verpönt ist. Das kann z.B. ein ungewöhnlicher Kleidungsstil sein, der nicht der Norm entspricht. So erzählte mir eine 14jährige: „Für mich gibt es wichtigere Probleme, als von welcher Firma meine Klamotten kommen. Ich zieh an, was mir Spaß macht und genau deswegen werde ich ständig als Lumpenkind aufgezogen.“ Aber auch Erwachsene schauen kritisch, wenn Jugendliche z.B. hippiresk, alternativ oder mit Second-Hand-Klamotten bekleidet sind. Richtig ist, was Mainstream ist; daher liegen oftmals Gründe für Ausgrenzung und Mobbing auch in einer gesellschaftlichen Kultur, Ansichtsweise oder auch bürgerlichen Kleingeistigkeit begründet.
Eine besondere Angriffsfläche beim Mobbing stellt eine sensible oder gar hochsensible Persönlichkeitsstruktur dar, die bei vielen Jugendlichen, größtenteils bei Mädchen, zu finden ist. Sensible Personen haben längere Antennen für Feinheiten, nehmen mehr wahr als anderer in ihrer Umgebung, bekommen schneller Stimmungen mit, besitzen eine hohe emotionale Intelligenz, sie befinden sich ständig in gedanklichen Prozessen wie Grübeln oder Besorgtsein, sind oft sehr leistungsorientiert, übernehmen schnell „Kümmerer“funktionen und verfügen über eine ausgeprägte Empathie. Bei der Hochsensibilität sind diese Besonderheiten noch ausgeprägter. Doch das, was im Grunde eine charakterliche Stärke darstellt, wird von der sozialen Umwelt oftmals als Schwäche gesehen. Die Modelle und Muster, mit denen Jugendliche konfrontiert werden, sehen Sensibilität nicht vor. In den Songs der Musikkultur geht es vielmehr um Macht, Gewalt, Grobheit oder Brutalität; auf diese Weise werden derartige Negativismen als akzeptiert transportiert. Da aber sensible Menschen große Angriffsflächen bieten, werden sie häufig zum Opfer von aggressiv und sadistisch gepolten Mitmenschen. Nichts befriedigt unter diesen Umständen mehr, als jemand der weint oder von dem man ahnt, dass er sich zuhause nächtelang Gedanken über diese Situation macht.
Auch Jugendliche, die an einer (chronischen) Krankheit leiden oder eine sichtbare körperliche Auffälligkeit haben, sind ein leichtes Opfer für Mobber. Sie können sich häufig aufgrund ihrer möglichen Handicaps körperlich schlechter wehren oder haben bereits durch ihre Erkrankung eine Außenseiterstellung. Bestimmte krankheitsbedingte Symptome werden von den Mitschülern als Schwäche, Wichtigtuerei oder als Vorwand gesehen, z.B. den Sportunterricht zu „schwänzen“. Natürlich sind hier u.a. LehrerInnen gefragt, die Klasse zu informieren oder den betroffenen Schülern die Chance zu geben, ihre Erkrankung zu erklären, doch oftmals berichten Jugendliche, dass sie auch von einigen Lehrern nicht unterstützt oder gar schikaniert werden, da die Erkrankung nicht ernstgenommen oder bagatellisiert wird („du stellst dich an“). Dies ist nicht selten ein Nährboden für feindselige Reaktionen der Mitschüler. Was der Lehrer darf, darf auch der Schüler/die Schülerin!
Mitläufer oder Assistenten
Die Täter treten oft als Einzelperson auf – so muss auch die Beute = Ansehen durch Gemeinheit nicht aufgeteilt werden. Genauso kann es sich aber auch um Kleingruppen oder gar ganze z.B. Klassenverbände handeln. Doch häufig findet man auch in Tätergruppen Rädelsführer oder Sprecher, die den Prozess initiieren oder auch anführen. Sie haben zumeist bereits eine Führungsrolle inne oder versuchen diese durch Machtgehabe zu erlangen. Der andere Teil einer Gruppe, der gegen einzelne oder mehrere Schwächere vorgeht, lässt sich entweder unüberlegt mitreißen, weil es sich gerade irgendwie cool anfühlt, nicht reflektiert wird oder ein probates Mittel gegen die Langeweile ist. Aber oftmals geschieht das Mitlaufen aus einer Angst heraus, selbst zum Opfer zu werden. Indem das aggressive Verhalten der Täter keinen Gegenwind bekommt und es keine sozialen Korrektive dafür gibt, kann man geschützt, aber auch feige in dem Strom der Aggressoren mitschwimmen. Nicht selten können das auch Personen sein, die bereits Mobbingerfahrung haben und erneute Ausgrenzungen durch den neuen „Assistentenjob“ der Täter vermeiden können. Durch geschickte Interventionen von Schulsozialarbeitern oder Lehrern können die Mitläufer oftmals schnell überzeugt werden, von dieser Rolle abzulassen und stattdessen dem Opfer Unterstützung anzubieten.
Gesellschaft und Mobbing
Wie eingangs erwähnt, ist Mobbing zwar in aller Munde, wird aber eher wie ein Kavaliersdelikt behandelt. Die Opfer leiden oft lebenslang, während die Täter sich ihrer Taten oft gar nicht bewusst sind. Warum ist das so? Weil viele Menschen es chic finden, sich über andere lustig zu machen, sie zu schikanieren oder über öffentliche Kanäle psychisch zu zersetzen. In vielen Bereichen der Gesellschaft fehlt es an Achtsamkeit für das Miteinander; ein Gang durch die Stadt, eine Autofahrt oder die Anwesenheit in einer Ansammlung von Menschen weist oftmals ein hohes Aggressionspotential auf. In den sozialen Medien, also dort, wo man halbwegs anonym bleiben kann, werden auf fieseste Art Personen vorgeführt. Ganze Fernsehserien leben davon, Menschen herabzusetzen und sie vor laufender Kamera zu blamieren. Die Sendung „Deutschland sucht den Superstar“ mit Dieter Bohlen war nichts anderes als public mobbing. Beispiele menschenverachtender Sprücher a la Bohlen:
- „Ich könnte dich in meinem Garten vergraben, als Kompost für die Blumen.“
- „Ja, dein Talent hat geglänzt. Leider durch Abwesenheit.“
- „Da ist die Frage: Wo hört der Gesang auf und wo fängt die Straftat an?“
- „Wenn ich mir morgens einen Pickel ausdrücke, dann hat das mehr Power als deine Stimme.“
- „Das ist Darmverschluss – und das ist scheiße.“
- „Bei mir kommen solche Geräusche aus anderen Öffnungen.“
Und Millionen von Menschen saßen vor den Fernsehern und amüsierten sich über eine hofierte Figur des Grauens. Ich mache Bohlen höchstpersönlich dafür verantwortlich, dass in diesem Land die Kultur einer Wertschätzung und positiven sozialen Interaktion weggebrochen ist. Als ich mich bei dem Fernsehsender bezüglich einiger Aussagen beschwert habe, verhallte meine Replik natürlich im Nichts. Spaßverderber sind in der Medienlandschaft ungern gesehen! Und auch meine gelegentlichen Kommentare in sozialen Medien bei Bohlen- und Mobbingfans wurden eher amüsiert bis aggressiv beantwortet. Das psychische Wohlbefinden des Einzelnen ist in einer Gesellschaft des Schikanierens und Ausgrenzens unbedeutend. Im Zusammenhang mit dem aktuell wütenden Massaker der Russen in der Ukraine wies der Bürgermeister meiner Stadt für den Frieden demonstrierende Schüler darauf hin, dass Frieden im Kleinen beginnt. Ich möchte nicht wissen, wie viele Teilnehmer diesen richtigen Satz nicht im Ansatz verstanden haben! Mobbing ist gesellschaftlicher Kleinkrieg!
Folgen des Mobbings
„Jeden Morgen beim Aufwachen war mein erster Gedanke: Du musst wieder dahin!! Und ich fragte mich Tag für Tag: Was haben die Mitschüler gegen mich? Was ist an mir falsch? Es wurde Witze über mich gemacht, weil eine chronische Krankheit habe! Man machte mich nach, tuschelte über mich und wenn es darum ging, Gruppen zu bilden, blieb ich jedes Mal außen vor. Im Netz unterstellte man mir, psychisch krank zu sein. Ich gehörte irgendwie nicht mehr zu Klasse – war ein Alien und fühlte mich einsam. So ging das über Monate. Ich ging oft mit Übelkeit zur Schule, hatte schlimme Kopfschmerzen und entwickelte Panikattacken. Es sollte aber niemand mitbekommen; das hätte die Sache noch schlimmer gemacht. Der Stress wurde irgendwann so groß, so dass ich anfing mich selbst zu verletzen; das nahm mir zumindest für kurze Zeit den Druck. Von den Lehrern fühlte ich mich alleingelassen oder sie setzen noch einen drauf, indem sie mich vor der ganzen Klasse Sensibelchen nannten. Irgendwann bin ich nicht mehr zu Schule gegangen; anfangs habe ich Beschwerden vorgetäuscht, später ging es mir tatsächlich so schlecht, dass ich mich nur noch in meinem abgedunkelten Zimmer aufhalten wollte. Die Musik hat mir etwas geholfen, doch irgendwann schickte man mich in eine Psychiatrie. Warum mich? Ist nicht eher Dissen krank? …“ (S., 15 Jahre)
Die Erfahrung gemobbt zu werden, geht an den meisten Opfern nicht spurlos vorbei. Im Gegenteil! Das angstbesetzte, traurige und zudem hilflose Gefühl, den aggressiven Handlungen des Täters oder der Täter ausgesetzt zu sein, führt zu ausgeprägten psychischen oder psychiatrischen Folgen. Menschen, die gequält, gepeinigt, schikaniert wurden, sind oftmals traumatisiert. Doch werden diese Folgen in vielen Artikeln über das Mobbing ausgeblendet. Als ich vor Jahren aufgrund einer schweren Mobbingattacke bei einer meiner Patientinnen dies polizeilich zu Anzeige bringen wollte, musste ich mir von dem entnervten Beamten anhören, man könne sich nicht um solchen Kinderkram kümmern. Vermutlich gehören Straftaten, die zur Zerstörung der Psyche führen, nicht in den Bereich der Freunde und Helfer. Warum auch! Ich kenne Polizeibeamte, die selbst großen Spaß an der Diffamierung von gesellschaftlichen Außenseitern haben.
Die Folgen von Mobbing sind auf einer Zeitachse zum einen in der unmittelbaren zeitlichen Nähe zur Tat anzuordnen, können sich aber darüber hinaus bis ins hohe Erwachsenenalter auswirken. So können sich ausgeprägte soziale Ängste entwickeln, die sich häufig auch als Panikattacken äußern. Mit der Zeit verändert sich dadurch das eigene Selbstkonzept, was immer mehr mit Selbstablehnung, Selbsthass oder Selbstzerstörung einhergeht. Die von außen erfahrene Ablehnung führt zu einer negativen Umstrukturierung. Das Selbstverständnis bröckelt, man zweifelt an sich, traut sich immer weniger zu und stellt die eigene Person infrage.
Die Hilflosigkeit gegen den sozialen Terror setzt enorme psychische, aber auch physische Prozesse in Gang. Viele reagieren mit psychosomatischen Symptomen wie Kopf- und Bauchschmerzen, Durchfall oder chronischen Schmerzen am Bewegungssystem. Neben der Unlust, morgens überhaupt in die Schule zu gehen, tauchen Konzentrationsschwierigkeiten, absinkende Schulleistungen, sozialer Rückzug, Gereiztheit usw. auf. Oft sind dies nur die Vorboten einer nach und nach einsetzenden Depression. Viele Jugendliche, vor allem Mädchen, verletzen sich selbst, weil sie damit versuchen, den inneren Druck zu reduzieren. Viele Selbstverletzungen zerstören komplette Hautflächen; der Körper eines Menschen, der sich jeden Tag mehrfach mit scharfen Gegenständen verletzt, ähnelt irgendwann einem Kriegskampfplatz. Viele Patienten, die in Kinder- und Jugendpsychiatrien betreut werden, sind hier aufgrund von Mobbingerfahrungen gelandet. Viele junge Menschen, die erstmalig in einer Therapiestunde bei mir von ihren Mobbingerfahrungen sprachen, waren anfangs retraumatisiert. Das vermeintlich Verdrängte wurde für kurze Zeit wieder wachgerüttelt (getriggert), schlussendlich sahen es aber alle Betroffenen als heilsam an, endlich über das Geschehene reden zu können. Man schaut als Therapeut in seelische Ruinen; junge Menschen mit tollen Talenten und Persönlichkeitseigenschaften wirken wie zertrümmert, zerschlagen und vor allem mutlos, ängstlich und hoffnungslos Jede neue soziale Situation ist für sie die Hölle; immer begleitet sie die Angst, erneut Opfer von Mobbingterror zu werden. Irgendwann deutet man Blicke oder belanglose Kommentare als Angriff, was zum automatischen Rückzug führt. Man ist nicht mehr man-selbst.
Je nach Schwere des Mobbings bzw. der Art der Verarbeitung beim Opfer reichen die Folgen in alle möglichen Bereiche psychischer Störungen hinein. Neben der bereits erwähnten Depression, dem selbstverletzenden Verhalten und sozialen Ängsten können Essstörungen, Drogenkonsum oder Persönlichkeitsstörungen (z.B. dissoziative Identitätsstörung) entstehen. Viele Betroffene weisen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS-Symptomatik) auf, häufig begleitet von Symptomen auf körperlicher Ebene wie Atemnot, Zittern, Schwindel, Herzrasen und Schweißausbrüche
Die Folgen des erlebten Terrors bleiben oft lebenslang erhalten. So habe ich auch Erwachsene kennengelernt, die regelmäßig Alpträume haben, von gelegentlichen Flashbacks im Alltag berichten oder unter psychosomatischen Störungen leiden, die ihren Ursprung in Mobbingerlebnissen hatten. Leider gibt es auch Fälle, wo Opfer zu Tätern geworden sind. Bei zwei rechtsradikalen Jugendlichen, die ich betreute, hatte sich die politische Ansicht erst nach solchen Erlebnissen gefestigt. Viele Menschen, die Opfer von Gewalttaten waren, tendierten später zu rechtsradikalen Ansichten; vor allem dann, wenn die Täter einen Migrationshintergrund hatten.
Interventionen – Was tun gegen Mobbing?
Leider muss ein Großteil der Mobbingopfer selbst mit diesen Qualen zurechtkommen. Zum einen werden sie oft von den Tätern bedroht und aufgefordert, Stillschweigen zu bewahren, zum anderen schämen sich viele Opfer, mit diesen Demütigungserfahrungen an die Öffentlichkeit zu gehen.
„Über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die mindestens über ein halbes Jahr einmal pro Woche oder öfter gemobbt werden, erzählen niemand von ihrem Leid, weder in der Schule, noch zu Hause. Sie fühlen sich selbst schuldig und haben zudem kein Vertrauen in die Hilfe Erwachsener.“[1]
In manchen Schulen wird nur unzureichend auf diese Problematik reagiert. Lehrer wissen oft nicht, wie sie mit einer Mobbingsituation umgehen sollen. Hinzu kommt, dass das Thema Bullying gerne totgeschwiegen wird, da es nicht in das Konzept der Schule passt oder Schwächen der Lehrpersonen aufdecken würden. Empfehlungen wie „das müsst ihr unter euch lösen“ bieten häufig wenig Hilfe. Schwierig ist oft das Einbeziehen der Eltern der Täter, da diese natürlich das Verhalten ihres Sohnes oder ihrer Tochter verteidigen („so etwas würde mein Kind niemals tun!“) oder die vorgebrachten Anschuldigungen umgedreht werden („Ihr Kind hat doch angefangen!“)
Trotzdem ist es wichtig, sofort bei Bekanntwerden von Mobbingverhalten die Angelegenheit öffentlich zu machen und Gespräche mit allen Beteiligten zu führen. Dabei sollte man im Auge behalten, dass dies nicht zu Eskalationen führt, also z.B. die Opfer anschließend noch mehr bedroht werden. Die Schule, aber auch die Eltern der Täter sollten direkt informiert werden.
Werden Kinder oder Jugendliche von den Tätern mit Bestrafung bedroht, wenn sie über die Mobbingaktivitäten berichten, so ist es für die Opfer in der Regel sehr befreiend, wenn sie einer vertrauenswürdigen Person (Psychologen, Sozialarbeitern oder Vertrauenslehrer) von ihrem Geheimnis erzählen können. Nun kann man mit dem Betroffenen über weitere Strategien sprechen. Für viele bedeutet der Schritt, die Eltern oder Lehrer einzubeziehen, eine große Überwindung.
Im klinischen Bereich haben sich auch kleine Gesprächsgruppen mit Patienten, die Mobbingerfahrungen haben, bewährt. Es stellt für die Teilnehmer oftmals eine Erleichterung dar, dass es anderen genauso geht (nur vielleicht aus einem anderen Grund). In den Gesprächen erfahren die Jugendlichen die Hintergründe des Mobbens und es werden gemeinsam Verhaltensmaßnahmen besprochen.
In vielen Schulen haben sich Ansätze bewährt, bei denen eine Gruppe um das Opfer herum gebildet wird, in der Anführer und Mitläufer sowie unabhängige Moderatoren (z.B. Streitschlichter) in die Lösung des Mobbingproblems einbezogen werden. Diese Interventions- und Handlungsmethode nennt sich „No Blame Approach“. „Dabei wird vollkommen auf Schuldzuweisungen und Strafen verzichtet. Zudem werden alle am Mobbing beteiligten Personen mit in den Gruppenprozess zur Lösung des Problems einbezogen und bekommen somit die Verantwortung für die Lösung des Problems übertragen. Es geht vor allem darum, Ideen und Vorstellungen zu entwickeln, wie eine bessere Situation für die vom Mobbing betroffene Person herbeigeführt werden kann (https://webhelm.de/no-blame-approach-methode-zur-bewaeltigung-von-mobbing/).“
Ich halte es allerdings für wichtig, dass dieses Thema nicht nur direkt vor Ort, sondern im breiten gesellschaftlichen Rahmen diskutiert wird. Vorstellbar wäre für jede Stadt eine geschulte Kontaktperson, die Opfer zunächst im vertraulichen Rahmen unterstützt und weitere Interventionen einleiten kann. Solche Personen sollten mit Schulen oder Freizeiteinrichtungen zusammenarbeiten. Beratungen finden dann in einem geschützten Rahmen statt. Durch Aktionen, Bündnisse oder Patenschaften sollten immer wieder Anti-Mobbing-Aktionen durchgeführt werden, um dieses Vorgehen zu ächten und möglichst im Keim ersticken zu lassen. Im Fall von Attacken in den sozialen Medien sollte es Anlaufstellen geben, die sich in den aktuellen Verlauf einschalten und z.B. bei Tätern durch eine Konfrontation mit dem Vorfall eine Reflexion zu ermöglichen. Und das bedeutet, dass Mobbing auch politisch oder durch öffentliche Verbände (Sportvereine, Kircheneinrichtungen etc.) eine größere Beachtung entgegengebracht wird. Auch bei Fernsehsendungen bedarf es einer Ethikkommission, die Sendungen nach menschenverachtenden Prozessen abtastet. Eine Serie wie DSDS hätte es in der bekannten Bohlen-Manier nie geben dürfen! Doch schlussendlich ist jeder selbst aufgefordert, bei Bekanntwerden von Mobbing Zivilcourage zu zeigen und sich in solche Prozesse einzuschalten. Mobbing gedeiht am besten, wenn es verdeckt geschieht. Mobbing braucht eine gegenwirkende Öffentlichkeit.
[1] Aus: St. Korn: Mobbing an den Schulen. In „Thema Jugend“, 4/2005