Was könnte sich ändern, wenn wir Menschen anerkennen, dass die Natur unveräußerbare Grundrechte hat: Das Recht auf ein Dasein in Würde und das Recht auf Unversehrtheit.
Eine Mutter ist freigiebig. Sie teilt mit ihren Kindern und versorgt sie. Mütter gehören zu den geduldigsten Menschen, sie können nahezu alles verzeihen. Aber was geschieht, wenn eine Mutter mit ansehen muss, dass ihre Kinder lärmend in ihr Haus einfallen, dort überall ihren Abfall verteilen, die von ihr zubereiteten Speisen ausschließlich für sich beanspruchen und qualmend und rücksichtslos den so reichhaltig gedeckten Tisch verwüsten? Wenn ihre Kinder die eigenen Geschwister quälen und missbrauchen oder gar töten, das Haus plündern und alles rauben, was sie vermeintlich benötigen. Und sich dann fröhlich pfeifend und selbstzufrieden in den Garten setzen? Wird die Würde einer Mutter von den eigenen Kindern derartig mit Füßen getreten, wird ihre Freigiebigkeit missbraucht und ihr Wohlwollen und ihre Liebe verhöhnt, bleibt ihre Tür in Zukunft vermutlich für eine lange Zeit verschlossen. Solange bis sich die Kinder besinnen und ihr die Wertschätzung zukommen lassen, die sie verdient.
Menschliche Hybris
Die Übertragung dieser Vorstellung auf das Verhalten von Menschen auf der Erde fällt nicht schwer. Menschen fügen der Erde tiefe Wunden zu, um ihre Bodenschätze zu plündern. Ihre Wälder werden besinnungslos abgeholzt. Die Böden werden verseucht und der Erosion preisgegeben, die Luft ist angefüllt mit Schadstoffen, das Wasser wird masslos verschwendet, vergiftet und vermüllt. Die pflanzlichen und tierischen Geschwister werden ausgerottet, gequält und/oder führen ein kümmerliches, würdeloses Dasein. Derweil der Mensch fröhlich pfeifend seiner Habgier frönt und blind und taub geworden ist gegenüber dem Leid, das er der Erde und seinen tierischen und pflanzlichen Geschwistern antut.
Wie ist so etwas möglich? Wie kommt es dazu, dass Menschen immer noch glauben, das Recht zu haben, der Erde all das anzutun? Die Antwort auf diese Frage ist in der Geschichte zu finden: Vor langer Zeit kappte der Mensch seine Verbindung mit der Natur, zerriss die überlebensnotwendige Nabelschnur, die alle Lebensformen miteinander verbindet. In seinem Unabhängigkeitswahn setzte er sich hochmütig und selbstherrlich eine Krone auf und erklärte sich zur „Krone der Schöpfung“. Beseelt vom angeblichen Recht, sich die Erde untertan machen zu dürfen. Die Erde wurde zur Maschine, die uns umgebende Natur zur Bedrohung und alle nicht-menschlichen Lebensformen wurden zu Objekten, die ohne eigene Rechte der menschlichen Verfügungsgewalt unterworfen wurden. Flüsse wurden begradigt, das Wasser am freien, selbstbestimmten Lauf gehindert, sie wurden zur Kloake. Ebenso das Meer, die Luft, der Boden: Gigantische Abladeplätze für die Ausscheidungen menschlicher Habgier. Und wer von den tierischen und pflanzlichen Mitbewohnern nicht klar kam, musste gehen. Survival of the fittest – das darwinische Mantra, das zum neoliberalen Dogma menschlichen Zusammenlebens wurde und das mittlerweile dabei ist, die letzten Refugien auf dieser Erde zu erobern. Neue Forschungen zur Evolution gehen mittlerweile davon aus, dass es eher „survival of the cooperative species“ heißen müsste. Der Prozess der Evolution wird nicht mehr als immerwährender „Fortschritt“ der Arten, die sich möglichst ohne Rücksicht auf andere an die Spitze stellen, verstanden, sondern als freies, kreatives ZUSAMMENspiel aller Arten dieser Erde. Aber da haben wir Menschen wohl schlechte Karten, weil wir weder bereit sind mit anderen zusammen zu spielen, noch bereit sind, uns kooperativ zu verhalten. Das Ergebnis dieser verhängnisvollen menschlichen Hybris sehen wir heute. Es trifft uns mit voller Wucht. Was könnte, was müsste sich ändern?
Die Verbindung neu aufbauen
Wie wäre es, zunächst den Gedanken zuzulassen, dass die Erde, die Natur und mit ihr alle nicht-menschlichen Lebensformen die gleiche unantastbare Würde und das gleiche Recht auf Unversehrtheit haben wie wir Menschen? Für uns Menschen in den sog. westlichen Industrienationen ist dieser Gedanke eine wahre geistige und auch emotionale Herausforderung! Fast wie ein Schock. Sind wir doch so daran gewöhnt, wie Gockel im Hühnerstall auf der Erde herumzustolzieren und alle anderen Lebensformen für minderwertig und frei zu unserer Verfügung stehend zu halten. Wenn wir aber versuchen, diesen Gedanken zuzulassen und dann vielleicht gar zu bejahen, wären wir vermutlich nicht länger in der Lage, das Zerstörungswerk unserer Habgier fortzusetzen. Wir Menschen würden uns dann an dem Platz einfinden, der der unsere ist: als Teil eines Ganzen, als Teil einer wunderbar vielfältigen Gemeinschaft. Der Boden unter unseren Füßen, die Luft, die wir atmen, die Berge, die wir erwandern, das Wasser in den Flüssen, Seen und Meeren – wir würden ihnen die gleichen Rechte zugestehen wie uns selbst. Und mit ihnen all den Pflanzen und Tieren, die mit uns gemeinsam auf der Erde leben. Wir würden die Krone, die wir Menschen uns vor langer Zeit so selbstherrlich aufgesetzt haben, vom Kopf nehmen und erkennen, dass wir alle Kinder derselben Mutter sind.
Freundschaft schließen
Als mit Empathie und der Fähigkeit zur Dankbarkeit und Fürsorge ausgestattete Lebewesen würden wir beginnen, unsere Mutter und unsere Geschwister zu umsorgen. So wie sie es mit uns tun. Wir würden sie hegen und pflegen. Wir würden Freundschaft schließen mit den Baumwesen um uns herum, mit den Pflanzen, die still und doch so bewusst in unserer Nähe wachsen, mit den Tieren, dem Wasser, den Wiesen, den Bergen. Mit der gesamten Natur, deren Teil wir sind. Aber wie soll das möglich sein, wo es doch keine Kommunikationsmöglichkeit, keinen Austausch mit anderen Lebewesen gibt? Aber – gibt es sie wirklich nicht? Jeder, der mit Tieren zusammenlebt, weiß, dass es anders ist. Berührungen, Blicke, das gegenseitige Sich-Aufeinander-Einlassen, das Erfühlen, die Emotionen, ja, sogar die Sprache – all das sind Möglichkeiten, mit anderen Lebewesen in Kontakt zu treten und auch zu bleiben. Zahlreiche neue Forschungen zeigen, dass z.B. Pflanzen sehr bewusste Lebewesen sind, die nicht nur untereinander kommunizieren, sondern auch in Kontakt zu uns Menschen treten können. Und es auch wollen! Nein, mit Esoterik hat das nichts zu tun! Meine eigenen Erfahrungen als Gärtnerin und als Kräuterkundige zeigen eindeutig in diese Richtung. Ist die Krone vom Kopf, werden die Sinne wieder frei. Die Antennen wieder ausgefahren. Davon bin ich überzeugt. Und von da aus ist der Weg nicht mehr weit, allen Lebensformen auf der Welt die Grundrechte auf Würde und Unversehrtheit zuzugestehen.
Dankbare Ernte
Ja, ich höre sie, die Stimmen, die sich jetzt rufen, dass dann doch keine Tiere und Pflanzen mehr gegessen werden dürften. Doch, das dürfen sie. Vorausgesetzt, dass wir verantwortungsbewusst mit den Geschenken, die sie uns Menschen machen, umgehen, sie wertschätzen und dass wir grundsätzlich nur so viel nehmen, wie wir benötigen. Und – dass wir zurückgeben. Hierzu möchte ich einige Erfahrungen aus unserem Garten schildern:
Als wir unseren Garten anlegten, gab es nur wenige Arten, die hier wuchsen. Ein schwerer, karger, verdichteter Boden voller Steine mit einer geringen Humusschicht ließ keinen Artenreichtum zu. Jahrzehnte lang war der Garten als Heuwiese oder für den Getreideanbau genutzt worden. Schwere, den Boden verdichtende Traktoren waren Jahr um Jahr zur Ernte über ihn gefahren. Wir gruben uns buchstäblich mit den Händen in den Boden, lernten ihn kennen, fluchten und lachten, wir entfernten so gut es ging die Steine, brachten Kompost und Pferdemist auf, auch um die wenigen Regenwürmer, die es gab, zu versorgen. Wir säten Gründünger und andere dem Boden wohltuende Pflanzen. Und der Boden begann ganz langsam wieder zu atmen. Ja, und dann kamen die ersten neuen Pflanzen. Wildkräuter, die nirgendwo hier im Umkreis (mehr) wachsen. Das, was uns in diesem Zusammenhang heute immer noch beschäftigt, ist das Phänomen, dass genau die Wildpflanzen, die wir uns gewünscht haben, tatsächlich kamen! Unter ihnen phantastische Heilpflanzen und köstliche Wildkräuter. Wir hatten sie wohl unbewusst gerufen – und sie waren gekommen! Heute beheimatet unser Garten eine Artenvielfalt, die es hier im Umkreis in nur äußerst wenigen Gärten gibt. Viele Menschen, die auf dem Wanderweg an unserem Garten vorbeigehen, bleiben stehen, staunen und haben ganz offensichtlich ihre Freude an ihm. Ein lebendiges buntes blühendes duftendes fröhliches Chaos! Ein sinnliches Vergnügen. Wir machen noch viele Fehler, haben zu oft noch die Haben-Mentalität, reißen aus, ohne dass es nötig ist (Hilfe! Unkraut!), dabei sind wir wie besessen vom menschlichen Ordnungswahn, verdinglichen die Pflanzen und reduzieren sie auf die Möglichkeit, unseren Speiseplan zu bereichern. Aber wir spüren eine immer stärker werdende Veränderung: wir begrüßen die Pflanzen und Tiere, die sich dort tummeln, erzählen ihnen von dem, was uns beschäftigt, fragen sie, was wir für sie tun können, bitten sie um etwas, danken ihnen, meckern rum, werden angemeckert, sind manchmal auch sauer auf sie, so wie sie auf uns, schweigen aber auch mit ihnen, hören zu und schauen hin. So ist zwischen mir uns und dem Garten mittlerweile eine tiefe freundschaftliche – wenn auch nicht krisenfreie – Beziehung entstanden und unsere Fürsorge wird von ihm mit einem üppigen Wachstum erwidert. Ja, und die sog. Schädlinge? Sie gehören zum Garten. Auch wenn es manchmal wütend macht, hilflos zuschauen zu müssen, wie manche Insektenarten und Schnecken sich quasi über Nacht ganze Reihen an Gemüsenpflanzen einverleiben. Unsere Maxime ist: ein Drittel für die anderen, zwei Drittel für uns Gärtner. Damit fahren wir gut und kommen so auch gänzlich ohne Kunstdünger aus. Und unsere Ernte ist eine Ernte voller Wertschätzung und Dankbarkeit! Nie würden wir den Garten im Herbst leerräumen ohne zurückzugeben, nie kahl und nackt in die dunkle, kalte Jahreszeit entlassen. Die Wildpflanzen und Stauden bleiben bis zum Frühjahr stehen, weil sie im Winter Schutz für all die Klein-Lebenwesen sind, und den nackten Boden mulchen wir nicht nur im Sommer, wir decken ihn zu wie ein Kind, das abends ins Bett geht. Und dann wünschen wir allen Lebenwesen dort einen guten Winterschlaf.
Was wir tun können
Dankbarkeit für das, was wir von Mutter Erde geschenkt bekommen – das fehlt uns Menschen leider nur allzu oft. Denn woher kommt all das, was wir oft ohne nachzudenken im Supermarkt kaufen? Auch wenn wir vieles von dem, was wir Nahrung nennen, bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, bleibt es letztlich doch ihr Geschenk an uns. ALLES von dem, was wir benötigen, kommt letztlich von ihr. Und anstatt uns wie ungezogene, missratene Kinder zu verhalten, wäre es an uns, diese Fürsorge zu erwidern. Wir können anfangen, uns zu kümmern. Wie um eine kranke Mutter. Denn krank ist im Moment vieles auf der Erde. Müll aufsammeln, weniger Auto fahren, bescheidener konsumieren, bewusster essen, Bäume pflanzen, einen Garten anlegen (auch auf dem Balkon), Vögel im Garten füttern und Nistmöglichkeiten schaffen, den Garten im Herbst nicht aufräumen, Kröten über die Straße helfen, Wildpflanzen aussäen, wieder heimische Sträucher wie Weißdorn, Holunder, Wildrosen, Schlehen usw. anpflanzen und auch in der eigenen Stadt darauf hinwirken, das Gespräch mit Besitzern der „Gärten des Grauens“ suchen, Samenkugeln aus Wildkräutersamen herstellen, sich auf Wanderungen kundig machen, wer da wächst und unterwegs ist, und vor allem Tiere und Pflanze als gleichberechtigte Geschwister behandeln… Es gibt so viel, was wir tun können! Oder auch lassen können, denn es gilt auch zu akzeptieren, dass ein Mensch nicht immer und überall willkommen ist. Entscheidend ist, der Erde und all ihren vielfältigen Lebensformen mit Liebe, Aufmerksamkeit, Respekt und auf Augenhöhe zu begegnen und anzuerkennen, dass sie alle wie wir ein Recht auf ein würdiges Dasein und Unversehrtheit haben. Auch könnten wir eine kleine, aber sehr feine Nuance in unserer Sprache ändern: anstatt uns zu fragen, WAS da blüht und lebt, könnte mensch zukünftig unbekannte Pflanzen und Tiere respektvoll fragen „WER bist du?“ und sich dann schlau machen, mit welchen Geschwistern wir es hier zu tun haben. Diese kleine sprachliche Veränderung, die Schluss macht mit der Verdinglichung der Natur, kann sehr viel in unserer Wahrnehmung verändern. Die Lakota (Sioux) in den USA bringen diese Lebenseinstellung in ihrem wunderbaren Gruß „Mitakuye Oyasin“ zum Ausdruck: Wir sind alle miteinander verwandt. Denn unsere gemeinsame Mutter ist die Erde. Könnten wir uns in unserer Sprache nicht Ähnliches einfallen lassen? Denn Sprache spiegelt das Bewusstsein wider – und Sprache kann Bewusstsein verändern. Ein spannendes Thema!
Anmerkungen:
1. Die in diesem Artikel geäußerte Kritik am zerstörerischen Verhalten der Menschen bezieht sich ausschließlich auf die Menschen, die diesen Frevel tatsächlich begehen, anordnen, gutheißen und/oder dulden. Diese Kritik auf ALLE Menschen zu übertragen, auf „die Menschheit“, wäre unsinnig und vor allem unfair, da es immer noch Kulturen gibt, die nicht am Zerstörungswerk beteiligt sind, sich bewusst auch nicht beteiligen wollen und die sich massiv gegen diese Zerstörungen zur Wehr setzen. Angehörige dieser Kulturen bezahlen ihren Widerstand allzu oft mit ihrem Leben. Die dramatische Situation, in der wir Menschen und zwar ALLE Menschen zurzeit leben, hat ihre Ursache vorwiegend in der Geschichte der westlichen Welt. Der traurige Siegeszug der westlichen Kolonisatoren, ihrer Wirtschafts- und Sozialformen, ihrer Religion begann vor ca. 600 Jahren und er ist bis heute nicht beendet. Hier näher auf die Ursachen einzugehen, die weit in die Geschichte des Abendlandes zurückreichen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen und ist ein Thema für sich. Die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte ist dennoch äußerst erhellend und anregend. Auch innerhalb der westlichen Welt wächst der Zweifel an der „imperialen“ Lebensweise und den gängigen Narrativen. Der Widerstand gegen die irr-sinnigen Zerstörungen wird auch hier größer und es gibt immer mehr Menschen, die versuchen, die Verbindung zur Natur, zur Erde wieder aufzunehmen. Ohne esoterischem Geschwafel zu erliegen und ohne rechte Verschwörungsmythen und Blut-und-Boden-Ideologien! Auch hier gilt, dass es eben nicht „die Menschen“ gibt. Verallgemeinerungen sind immer fehl am Platz. Und genau das gibt Hoffnung und macht Mut.
2. 2017 bekam der Wanghanui River in Neuseeland per Gesetz den Status einer (juristischen) Person zuerkannt. Die Richter folgten in ihrem Urteil der Argumentation, dass der Fluss kein Ding, sondern ein Lebewesen sei. Die Initiatoren (Kläger) waren die Wanghanui Iwi, die zu den Maori, den Ureinwohnern Neuseelands gehören. Die Argumentation: „Die Sicht der vergangenen 100 Jahre ist, dass man den Fluss besitzen und managen kann. Doch für uns ist er ein lebendes Wesen, ein unteilbares Ganzes“, sagte Gerrard Albert, der Verhandlungsführer des Maori-Stammes. „Wir sind nicht die Herrscher über die Natur, sondern ein Teil von ihr“, so Albert weiter. „Dieser Grundüberzeugung gemäß wollen wir leben.“ (Zitat aus: geo, Peter Carstens, 17.03.2017)
https://www.geo.de/natur/nachhaltigkeit/15997-rtkl-neuseeland-maori-fluss-erhaelt-rechte-als-person
weiterführende Literatur:
1. Joseph Scheppach: Das geheime Bewusstsein der Pflanzen.
2. Andreas Weber: Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie.
3. ders.: Indigenialität.
4. ders.: Natur tut gut. Warum Kinder draußen glücklicher sind.
4. Robin Wall Kimmerer: Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen.
5. Norman Glatzer und Vanessa Braun: Mittendrin im Draußen. Pilze, Pflanzen und Tiere direkt vor unserer Haustür – Eine Entdeckungsreise.
6. Geseko von Lüpke: Politik des Herzens. Nachhaltige Konzepte für das 21. Jahrhundert. Gespräche mit den Weisen unserer Zeit.
alle Fotos: MM