Das geheime Band zwischen Mensch und Natur: Eine Literaturempfehlung zu Peter Wohllebens Buch, das nicht nur unterhält und informiert, sondern auch eine Bereicherung für einen anderen Lebensentwurf ist. Ein Zurück zum Eigentlichen.
„Den Trend zurück zur Natur könnte man so gesehen eher als Ausbruch aus einem selbst geschaffenen Gefängnis interpretieren, denn als träumerisches, zu belächelndes Verweigern der Wirklichkeit.“ (P.W.)
In der Kulturgeschichte stellt man gerne zwei Richtungen gegenüber: Die Klassik und die Romantik. Während sich die Klassik eher in einem holzschnitzartigen Normativen, Geordnetem und in großer Klarheit präsentiert, spielen in der Romantik andere Aspekte eine Rolle: Naturverbundenheit, Phantasie, Liebe, Sehnsucht, Traumwelten, Unheimliches, Weltflucht, aber auch Gesellschaftskritik. Kultur wird von Menschen gestaltet, somit auch verändert. Und da Kultur immer auch durch sozial- und persönlichkeitspsychologische Aspekte geprägt wird, kann man den Bogen sogar noch weiterspannen: Lassen sich die Charakteristika von Klassik und Romantik nicht auch auf uns Menschen anwenden? Ich habe mit Blick auf mein eigenes Leben gar den Eindruck, dass sie in einer jahrzehntelangen Wechselhaftigkeit Präsenz zeigten. War meine Naturverbundenheit in jungen Jahren sehr ausgeprägt – ein Tag ohne Naturkontakt war ein verschenkter -, tauschte ich ein paar Jahrzehnte lang u.a. berufsbedingt dieses Lebensgefühl gegen schnöde Systemunterworfenheit und normative Vernunft ein. Die Menschen hetzen mit Pulsmesser und Schrittzähler durch die Landschaft und nennen es Sport; die Natur um sie herum wird zu einer Art Kulisse. Doch je älter ich werde und je mehr ich vom menschlichen Verhalten enttäuscht, ja geradezu entsetzt bin, je mehr zieht es mich zurück zu dem für mich Eigentlichen. Eben zu dem, wo ich mein Selbst unverfälscht ausleben kann. Bei diesem Eigentlichen spielt die Natur und meine Verbindung zu ihr eine große Rolle. In meinen Aphorismen „Satzeichen“(1) formierte ich kürzlich den Gedanken: Könnte ich mir einen Nachbarn aussuchen, ich wählte einen Baum. Dieser Satz basiert auf eigenen intensiven Naturerfahrungen und hat eine literarische Grundlage: Das Buch „Das geheime Band zwischen Mensch und Natur“ von Peter Wohlleben.
Bis dato hatte ich mich mit Auswirkungen der Natur auf uns Menschen wenig beschäftigt. Es gibt immer wieder Phänomene, die mit großem Brimborium wissenschaftlich und quasi-wissenschaftlich durchleuchtet werden, von denen man eigentlich aber immer dachte, es handele sich um Selbstverständlichkeiten. Nun sind sie plötzlich bewiesen. Tatsächlich – und auch darum geht es in dem Buch von Peter Wohlleben – existieren inzwischen viele Untersuchungen und damit Ergebnisse namhafter universitärer Einrichtungen zum Verhältnis Mensch und Natur. Das erinnert an ein Zitat des chinesischen Philosophen Zhuangzi „Das Wirken der Natur zu erkennen, und zu erkennen, in welcher Beziehung das menschliche Wirken dazu stehen muss: Das ist das Ziel.“ Doch da wir in einem Zeitalter leben, in dem man eher Dummschwätzern auf youtube Vertrauen schenkt als Wissenschaftlern oder Praktikern, die sich Tag für Tag abmühen, eine Hypothese zu verifizieren oder zu falsifizieren, muss man sich nicht wundern, wenn auch Wohllebens wissenschaftsbasierte Darstellungen verrissen werden. Es gab Kritiken, die sein Buch als überromantisiert, einseitig oder fortschrittskritisch aburteilten.
Worum geht es in „Das geheime Band zwischen Mensch und Natur„? Und sind wir überhaupt noch mit der Natur verbunden oder ist es nur blinde Schwärmerei, die – wie es Berthold Brecht formulierte – ein Resultat der Unbewohnbarkeit der Städte ist? Auf der Internetseite des Autors findet man dazu folgende Antwort: „Das Band zwischen Menschen und Natur ist bis heute stark und intakt, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind: Unser Blutdruck normalisiert sich in der Umgebung von Bäumen, die Farbe Grün beruhigt uns, der Wald schärft unsere Sinne, er lehrt uns zu riechen, hören, fühlen und zu sehen. Umgekehrt reagieren aber auch Pflanzen positiv auf menschliche Berührung. Anhand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und seiner eigenen jahrzehntelangen Beobachtungen öffnet uns Peter Wohlleben die Augen für das verborgene Zusammenspiel von Mensch und Natur. Er entführt uns in einen wunderbaren Kosmos, in dem der Mensch nicht als überlegenes Wesen erscheint, sondern als ein Teil der Natur wie jede Pflanze, jedes Tier. Und er macht uns bewusst, dass es in unserem ureigenen Interesse ist, dieses wertvolle Gut zu bewahren.“ (2)
Obschon es eher ein Sachbuch ist, dazu ein leicht lesbares, kam es mir vielmehr wie eine Art packende Erzählung vor, was möglicherweise an meiner manchmal sehr ausgeprägten Phantasie liegen mag. Dem Autor und Förster Wohlleben gelingt es auf den 240 Seiten, mir das Gefühl zu vermitteln, mit ihm zusammen durch den Wald zu streifen, um mir anschaulich all das noch einmal zu erklären, was meinem Biologielehrer zu Gymnasialzeiten nicht gelang. Vielleicht lag es daran, dass mein Lehrer dozierte, während Wohlleben in einer Mischung aus langjähriger Erfahrung und einer guten Portion Humor, aber auch Gesellschaftskritik aufwartet. Manche Leser sahen gar einen erhobenen Zeigefinger; den muss ich wohl überlesen haben. Das Sichten von erhobenen Zeigefingern ist dann und wann nichts Anderes als das Gefühl, bei seiner eigenen Unzulänglichkeit erwischt worden zu sein.
Peter Wohlleben ist kein moderner Hermann Löns, der das Waldleben als Jäger und Heger idealisiert. Im Gegenteil: Er geht sehr kritisch mit dem Forst- oder Jagdwesen um und bezieht sich in seinem Buch auch auf die Auswirkungen der Klimakrise. Der Autor zeigt zudem Flagge gegen die brutale Zerstörung des Hambacher Forstes, dem er ein eigenes Kapitel widmet. Laut Wohlleben entsprechen nur noch 0,3 Prozent aller Wälder in Deutschland dem Ökosystem des Hambacher Waldes. Man lernt bei der Lektüre allerdings auch, dass Wald nicht gleich Wald ist.
„Hiesige Forstverwaltungen scheuen den Begriff Plantage wie der Teufel das Weihwasser. Dabei wäre damit auch dem Laien viel klarer, wie wenig echte Natur wir um uns herum haben.“
Somit ist es nur zwischen den Zeilen ein Buch, das den Wald romantisiert; tatsächlich gibt es immer auch schockierende Informationen. Wer bedenkt schon, dass der überwiegende Teil unserer Wälder bzw. Forste einzig und allein der maschinell betriebenen Bewirtschaftung oder – wie es der Autor benennt – Schlachtung dient. Mit dem chicen Holzschrank im Wohnzimmer verhält es sich letztendlich genauso wie mit dem Schnitzel in der Fleischwarenabteilung: Bei beiden „Endprodukten“ handelte es sich einst um lebendige Wesen. Dazu passt der Untertitel seines Werkes: „Erstaunliche Erkenntnisse über die 7 Sinne des Menschen, den Herzschlag der Bäume und die Frage, ob Pflanzen ein Bewusstsein haben.“ Haben sie übrigens, das sei schon mal verraten.
Ein Buch zu lesen ist die eine Sache, doch aus einem Buch zu lernen oder gar eine Bereicherung zu erfahren, eine andere. Bevor ich „Das geheime Band zwischen Mensch und Natur“ las, saßen meine Frau und ich bis tief in die Nacht in einem Wald in der Nemitzer Heide (Wendland). Wir schwiegen anstatt wie gewohnt zum Teil tiefschürfende Unterhaltungen zu führen und es war ein Erlebnis, das weit über unsere gelegentlichen Meditationserfahrungen hinausging. Das Band zwischen uns und der Natur war von berauschender Art und beide – unabhängig voneinander – waren der Meinung, länger nicht mehr mit derart geschärften, auf Feinempfang gestellten Sinnen das Um-uns-herum wahrgenommen zu haben. Als wir den Ort verließen, kam es uns wie eine Art Säuberung vor. Viele Menschen, denen wir dies erzählten, verstanden uns nicht. Doch unser Waldbad hatte noch einen weiteren Effekt: Uns war schier unverständlich, wie politische Vandalen Wälder – wie die Beispiele Hambacher und Dannenröder Wald zeigen – zerstören, um sie einer längst überholten, da klimaschädigenden Verkehrsmobilität zu opfern. Nachdem ich das Buch gelesen habe und dabei an unsere Erlebnisse im Nemitzer Wald dachte, wurde mir noch bewusster, wie dumm es ist, die Verantwortung für die Natur macht- und profitgeilen Politikern zu übertragen. Der deutsche Physiker und Essayist Hans-Peter Emil Dürr drückte es folgendermaßen aus:
„Wir müssen die Natur nicht als unseren Feind betrachten, den es zu beherrschen und überwinden gilt, sondern wieder lernen, mit der Natur zu kooperieren. Sie hat eine viereinhalb Milliarden Jahre lange Erfahrung. Unsere ist wesentlich kürzer.“
Wohlleben und die Natur selbst sind großartige Lehrmeister. Von ihnen Lehre anzunehmen, fiel mir (im Gegensatz zu sonst) sehr leicht. Und es hat nachhaltige Wirkung.
- https://www.farasan-telgte.de/satzzeichen/
- https://www.wohllebens-waldakademie.de/das-geheime-band-zwischen-mensch-und-natur-m53502
(PW) Peter Wohlleben: Das geheime Band zwischen Mensch und Natur. Büchergilde Gutenberg, 2019