Versteckte Schönheit
Marga von Etzdorfs Suizid

Der Roman „Halbschatten“ von Uwe Timm behandelt die kurze Lebensgeschichte der Fliegerin Marga von Etzdorf aus mehreren Blickwinkeln, meist aus den Gräbern anderer „Größen“ ihrer Zeit auf dem Invalidenfriedhof in Berlin. Für mich erzählt Timm nicht über Rekorde und Bruchlandungen, sondern über die Schönheit eines Menschen.

DTV-Cover Halbschatten von Uwe Timm (mit Erlaubnis des Deutschen Taschenbuchverlags)
DTV-Cover Halbschatten von Uwe Timm (mit Erlaubnis des Deutschen Taschenbuchverlags)

Uwe Timm hat einen schönen Roman mit einer total ungewöhnlichen Idee geschrieben. Es geht – vordergründig – um eine Kunstfliegerin, die als Erste Looping und Fliegen auf dem Rücken der Maschine gewagt hat. Aber – hintergründig: Hintergrund ist mein Metier – geht es um ein Problem, das man nicht vermutet: Sich selber treu bleiben. Das ist ein Art von Schönheit. Typisch, Marga von Etzdorf (ab jetzt abgekürzt als M.v.E.) ist hübsch, wenn auch nicht unbedingt in Fliegermontur oder als Modell. Aber da sind andere Elemente ihrer Biographie, die im Folgenden besprochen werden sollen. In Timms Roman geht es um beides, ohne dass dieses abgegriffene Wort „Schönheit“ – außer ein paarmal nebenbei – vorkommt.

Wieso abgegriffenes Wort? Für Querzeit suchte ich nach Bildern, die zu diesem eigenartigen Titel passen und kostenfrei downgeloadet werden können. Was dabei herauskam, erspare ich euch. Seltsam ist, dass die Suche immer Frauen, manchmal Paare, aber immer schmachtende Wesen ergab. „Seltsam“, weil sie etwas verwechseln: Schönheit ist nicht Attraktivität, (Sex-)Appeal, „goldener Schnitt“, wie die Maler sagen, oder anderes. Schönheit ist keineswegs ein Resultat chemischer oder mathematischer Formeln, von Attraktivität, oder von Leidenschaft, ist nicht etwas für andere. Sie ist eine innere Größe, ich zu sein, auch wenn man scheitert. Erst diese Größe macht Schönheit aus. Das erleben wir in dem Roman, wenn auch sehr hintergründig.

Timms Buch verrät uns einiges über Schönheit. M.v.E.  ist eine der besonders risikobereiten Kunstfliegerinnen, eine der ersten weiblichen „Herren“ der Lüfte, zwischen dem 1. und 2.  Weltkrieg. Mit 25 Jahren hat sie sich erschossen. Sie liegt in Berlin auf dem Invalidenfriedhof neben vielen Flieger- und anderen „Größen“ vor und während der NS-Zeit begraben. Dieser Friedhof lag vergammelt an der Mauer zwischen BRD und DDR, ist inzwischen aber restauriert.

Die Romanfigur, der Graue bzw. der Friedhofswärter, erzählt über die Einzelheiten dieser brillanten Fliegerin, wir hören viele Kommentare der Toten aus den Gräbern des Friedhofs. Für mich ergeben die Faktenschilderung des „Grauen“ und auch die Kommentare der Toten ein Gesamtbild. Aus „oral history“ (Geschichte von lebenden Zeugen*innen) wird dead men history. Uwe Timms Buch ist, Gott sei Dank, eben nicht eine Art Faktencheck, wie wir ihn so oft  (z.B. im Fernsehen) serviert bekommen. Es ist meist ein Gemisch aus angeblichen, aber leider ausgeblendeten Fakten:

  • dem Hintergrund der Faktenauswahl und
  • dem Interesse, das die angeblichen Fakten prägt.

Solange wir Leser das nicht gesagt bekommen, ist das Buch nichts wert. Uwe Timm umgeht das Problem ungewöhnlich und wortstark. Nur Zitate aus behördlichen Kommentaren sind gesperrt gedruckt. Er verzichtet auf alle (möchte-gern-psychologischen) Erklärungen.

Eine wichtige Figur ist erfunden, gründet aber auf recherche-basierten Gesprächen und Theorien. Sie werden am Ende des Buches angegeben. Ebenfalls auf dem Invalidenfriedhof liegt Anton Miller, Komödiant (Stimmenimitator) in der NS-Armee. Immer wieder erzählt er von M.v.E. Einst küsste Miller ihre Hand. Seine Hand roch nach Öl und Benzin und wirkte damit für M.v.E. anziehend. Aber es wird kein Verhältnis daraus, eher beginnt ein distanziertes Vertrauen. Miller erzählt in seinen Friedhofskommentaren von dem erfundenen Freund  Christian von Dahlem, auch Flieger und an Rüstungswirtschaft interessiert.

Das Buch klärt nichts. Auch die Nacht bringt keine Klärung, die M.v.E. und Herr von Dahlem in Japan nach dem (damals weitesten) Flug gemeinsam im gleichen Zimmer verbringen. Aber nichts passiert außer Begehren, Reden und Rauchen. Eine spätere Szene wieder mit von Dahlem wird deutlicher, aber  kein Erotikevent. Timm formuliert wie folgt:

Erotik ist wichtig und macht das Leben schön. M.v.E.s Suizid mit 25 hat sicher zu tun mit der Enttäuschung, dass von Dahlem doch nicht der war, welcher … Oder war es die dritte Bruchlandung oder die Tatsache, dass sie auf Bitten der Nazis Waffen ins befreundete Ausland verbrachte? Wurde M.v.E. also eine Art fliegende Reklameträgerin, deren Lebenszweck nicht mehr die Kunstfliegerei war? Immerhin, schreibt Timm in ihrem Namen: Fliegen mache Leben wichtig. Er hält ihren Suizid auch deswegen für möglich.

Gehen wir Einzelheiten dieses Buches durch. Fragen wir nochmal: Was macht das Leben lebenswert? Fliegen? Das war Timms Frage und die von M.v.E. und es ist auch unsere. Rekapitulieren wir also:

  • Glück der Ruhe
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Fast ohne Beschäftigung in den Himmel gucken, schrieb Timm über M.v.E. Sie genoss die oftmals mehrere Stunden andauernden Flüge, in denen außer Starten und Landen nichts passierte.  Schließlich hat sie ja als erste den weiten Alleinflug (Berlin – Tokio) geschafft, und dabei gab es viel Ruhe.

Entdeckung der Langsamkeit (Ruhe [?]) war ein wichtiger Roman von Sten Nadolny. Interessant war auch die Story danach, die in dem Roman nicht erzählt wurde. John Franklin, Nadolnys Hauptfigur, bereitete eine weitere Expedition mit dem Schiff vor. Ganz gegen sein Prinzip der Langsamkeit wurde die Zubereitung der Essenvorräte verzögert, Franklin machte Druck, die Bevorratung wurde in höchster Eile (Verschluss der Konserven) vorgenommen. Und die Expedition endete als tödliche Katastrophe. Also setzt man besser auf Ruhe.

Ruhe provoziert Glück, auch das Glück der M.v.E.

  • Die Größe, ich zu sein

Ich zu sein, ist alles andere als leicht. Schwer vor allem in einer Zeit, wo man die beste sein wollte. Große Konkurrentinnen waren Amy Johnson, Elly Beinhorn und andere. Ich sein bedeutet nicht, sie zu übertreffen, sondern ihren eigenen Stil zu leben.

Ich-sein ist wichtiger als man denkt. Nur wer ein Ich-selbst ist, ist verantwortlich für das, was er/sie entscheidet, lebt, wird nicht gelebt. Auch wenn’s mal daneben geht. Alle Models in Modekatologen sind hübsche 0-8-15-Gestalten. Hoffentlich keine Vorbilder. Oder doch? Ich-sein scheint unwichtig.

  • Sich selbst neu erfahren

Immer kommt etwas dazu, was nicht zum Bestand ihres Ichselbst gehörte: Genießen,  Lieben, Angst haben, Scheitern, Auftreiben von Geldern usw. Mit anderen Worten: Ich sein ist nichts Statisches. Es muss ständig ausgebaut werden. Erweiterung heißt Lebendig sein des Ichselbst.

Sich selbst neu erfahren ist der Aus- und Aufbau des Ichselbst. Das heißt: Nur das ist sich selber treu bleiben. So manche Biographie, anders als die von M.v.E., verschweigt die Mühe, Ich-selbst in neuen Situationen zu werden. Bin ich dann der alte oder der neue? Festgefahren oder eine Mogelpackung?

  • Sprünge in Goldlack fassen

Ein Porzellangefäß – ein Bild aus Japan – fällt zu Boden. Es ist damit nicht Müll, sondern ein Geschenk des Herrn von Dahlem, das die Fugen der Scherben in Goldlack fasst. Jetzt erst  bekommt es Wert. Hierzulande wird etwas wertlos, wenn es zu Bruch geht.

Doch genau das stimmt nicht, habe ich aus Timms Roman gelernt. Sprünge in einer Beziehung haben ihren Wert. Sie bekommen Bedeutung, wenn man sie ernst nimmt und als Spielraum des Neuwerdens betrachtet. Wenn einem, bildlich gesprochen, eine kostbare Schale in die Brüche geht, kommt sie dann zum Müll? Scheitern ist Gold, nicht Schande.

  • Gleichzeitigkeit von Respekt und Begehren

Es gibt in Timms Roman mehrere Szenen, die ähnlich sind wie die, die ich am Anfang des Beitrags zitiert habe. Erotische Momente leben von Begehren, aber auch von Respekt und Distanz. Den anderen zu wollen setzt voraus, ihn zu respektieren, sonst wäre es eine Art Überrumpelung. Begehren ohne Respekt ist Leidenschaft pur. Respekt ist eine Art Barriere, die Kontakt von der wirklichen Zustimmung beider Partner abhängig macht. Ohne Respekt gibt es keine Aussicht auf Nähe. Und die wollte M.v.E. natürlich auch.

Beinahe typisch. Timm hat in Philosophie über A. Camus promoviert, in jungen Jahren ein Frauenheld später Freund mancher Frau.

Bekenntnis aus meiner Werkstatt

Zugegeben, ich tappte voll in die Testosteron-Falle, als Timm von jener Nacht erzählte: M.v.E. landete früher in Tokio als geplant und Herr von Dahlem bot ihr an, die Nacht in seinem Schlafzimmer zu verbringen, was sie (natürlich pro forma) ablehnte. Ein Tuch von japanisch zarter Seide trennte die beiden, sie schoben das Zigarettenetui darunter her. Aber das Tuch erschien als ein Symbol von Respekt.

Erst danach begriff ich, dass dieser Roman anders gestrickt war, als ich vermutete. In dem Gemisch von Stimmen auf dem Friedhof verstand ich nach und nach, dass es um kein einziges Urteil ging, verstand vielleicht etwas mehr, was Schönheit ist. Und dass Urteilen nichts bringt.