Nestbeschmutzer kennen wir seit Jahrhunderten. Valentin und wir sehen das anders. Eine verdreckte Welt behindert Menschen und macht Leben schwer. Hier ein paar Beispiele von vielen.
Als ich bei Karl Valentin, dem bayrischen Komiker und Satiriker (1882–1948), herumschmökerte, hielt ich den Titel „Ich bin ein Vogel, den (!) das Nest beschmutzt“ für einen Druckfehler. Geht es um den Vogel, der (!) sein Nest beschmutzt? Schließlich kommt doch das Wort „Nestbeschmutzer“ daher. Genau das nimmt Valentin aufs Korn und sieht das umgekehrt.
Nicht der Vogel beschmutzt das Nest, das wäre trivial und alles andere als komisch. Komisch und entlarvend wird das Bild erst – mit einer sehr kleinen Änderung („den“ statt „der“) – wenn wir 1. das Nest als Lebensraum, 2. Lebensraum als Verwaltungsobjekt der Politiker bzw. Bürokraten statt der Bevölkerung und 3. den verschmutzten Lebensraum als Gefahr für die verstehen, die darin leben müssen. Eine Graphik soll Valentins Perspektive verdeutlichen, welche die Nestbeschmutzer-Perspektive vom Kopf auf die Füße stellt.
Das ist Satire: In der Kaiserzeit, in der Valentin lebte, und auch danach waren Nestbeschmutzer Menschen, die verbindliche Annahmen in Frage stellten. Heute ist das viel bedeutungsschwerer. Um gleich in die Vollen zu gehen: Frau Barley, unsere Justizministerin, hat (laut Netzzeitung) was gegen ein Gesetz, das die Nestbeschmutzer schützt, heute Whistleblower genannt. Barley und leider viele andere vergöttern bestehende Traditionen, Regeln, Gesetze, Leitlinien etc. und blockieren Valentins neue Perspektive, dass ein verdrecktes Nest uns schmutzig macht. Sie ticken noch wie in der Kaiserzeit des vorletzten Jahrhunderts. Können wir in einer verdreckten Welt leben? Blockieren die dreckigen Dinge gute Beziehungen? Was ist eigentlich mit „Dreck“ gemeint?
Dreck ist die Welt, in der wir leben, besser: leben müssen. Egal wo wir sind, mit einer verdreckten Welt müssen wir zurechtkommen. Schließlich leben darin viele andere Menschen, mit deren Dreck wir leben müssen und umgekehrt: Die müssen mit unserem Dreck leben. Das sind nicht nur Abfall, sondern auch unsere teils krausen Ideen, Geschmäcker, Einstellungen, Vorlieben, ungerechte Aggressionen, Urteile bzw. Vorurteile, Beschränkungen der Freiheit anderer, auch meiner eigenen, die mich zur Klette anderer machen usw. Hier einige Beispiele:
Beispiel 1: Müll in Neapel
Neapel ‚hat‘ keine Sehenswürdigkeiten, Neapel ‚ist‘ eine Sehenswürdigkeit. Das zu schützen ist ungeheuer kompliziert, weil diese Stadt immer schwerer bewohnbar und organisierbar wird. Die dortige Küste wurde ca. 800 Jahre v.Chr. besiedelt, zunächst von Griechen, dann von Puniern, Afrikanern, Etruskern, Lukanern, Römern, Langobarden, Sarazenen, Spaniern, Franzosen, Deutschen, Italienern. Salvini und Di Maio – also Italiener, die vergessen haben, dass auch andere Völker Italien und ihre Freundlichkeit geprägt haben – kamen danach.
Aber Italien leidet nicht unter den Fremden, sondern am Totalversagen der Bürokratie (z.B. in der Mülltrennung (die etwa im nahen Salerno gut klappt). Das wunderschöne Neapel verkommt. Müllberge türmen sich gelegentlich an den Straßen. Man sieht auch leere Mülltonnen. Keimt Hoffnung auf oder funktioniert wieder verstärkt die Camorra (Name der süditalienischen Mafia)? Müll in den Städten braucht unbedingt eine verlässliche Müllentsorgung, aber die italienische Regierung – derzeit unfähig – hat ja die Camorra mit ihrer relativ verlässlichen Müllentsorgung. Kann man in vermüllten Städten leben?
Unsere Regionalzeitung (Badische Zeitung) berichtete kürzlich, dass ein japanischer Student (inzwischen sind es über 30) den Dreck von den Altertümern Neapels wegräumt. Irrtum. Lässt sich das Dreckproblem ehrenamtlich lösen? Nicht die Denkmäler gehen kaputt, sondern wir. Sie sind Zeichen unserer Geschichte und Wegmarken unserer Gegenwart, unsere Werke. Nicht umsonst sahen wir in Neapel die stolzen Gesichter der Alten, wenn man sie in stümperhaftem Italienisch nach Sehenswürdigkeiten fragte, die man im Gewirr der Gassen nicht fand. Das war ihre Stadt, nicht die der Camorra.
Schließen wir Deutschland mit ein! Gegenwart wird verwaltet und organisiert durch Bürokratie. Ist das Arbeitsteilung? Nein. Warum nicht? Bürokratie gibt uns in fremde Hände. Nicht mehr „wir“ sind verantwortlich, sondern die, die uns zu Handlangern des Systems machen. Was würden die Archäologen bei uns finden? Müll und verrottete Trecker im Weinberg. Wir haben zwar die Verantwortung, aber eigentlich haben wir nur das System hintergangen. Das ist nicht mehr unser Nest.
Beispiel 2: Schlamperei der Kontrollorgane
Beispiele dafür, sogar dramatische, gibt es ohne Ende. Nicht nur die schlimmen Fälle mit ihrer kriminellen Energie sind das Problem, das so viel Aufregung erzeugt. Das Problem liegt auch bei uns, besser bei den Kontrollorganen. Bei vielen Terroranschlägen, etwa in Nizza, Madrid, London, Paris, Berlin usw., lag das Mitverschulden bei den Behörden, die nicht rechtzeitig den Täter aus dem Verkehr gezogen haben, obwohl es durchaus möglich gewesen wäre. Kontrollversagen?
Auch der Fall des Paares in Staufen, das gemeinsam die häufige Vergewaltigung des 9jährigen Sohnes der Frau zugelassen hat, ist ohne die Schlamperei einiger Kontrollorgane nicht zu denken. In welchem Nest leben wir eigentlich? Nicht Jammern hilft, sondern mehr Koordination. Und die braucht mehr Durchsichtigkeit und Mitsprache der Kontrollorgane, aber keinesfalls eine hierarchische Ordnung der Mitentscheider.
Ein anderes Kontrollversagen hat mich in meinen letzten Berufsjahren der Ethik-Kommission beunruhigt. Es ging um die seltsame Kontrolle der Zulassung von Arzneimitteln, die das Vertrauen in die Pharma-Forschung sehr stark beeinträchtigte. Neben der Ethik-Kommission sind die beiden Bundesoberbehörden zuständig (die für Arzneimittel und Medizinprodukte und das Paul-Ehrlich-Institut). Letztere machen bzw. bekommen von Brüssel immer mehr Auflagen für die Details neuer Pharmaka, Geräte, Substanzen usw. Aber die Sicherheit der Produktentwicklung nimmt um nichts zu, allerdings vergrößert sich der Datenfriedhof. Schlamperei im Nest?
Das Ganze in der Nussschale: Die Prioritätensetzung ist falsch. Nicht das Funktionieren des Nests, um beim Bild zu bleiben, ist wichtig. Es sind die aktuellen Interessen, der Moment zählt, nicht die langfristige und nachdenkliche Perspektive.
Beispiel 3: der überforderte Mensch
In dem Roman von Juli Zeh „leere Herzen“ wird eine Welt von 2025 gezeigt, die politisch zerrüttet ist (Merkel abgetreten, EU aufgelöst usw.). Schuld an dieser politischen Zerrüttung sind nicht die Rechten, sondern diejenigen, die sich bei der Wahl zwischen einer Waschmaschine und dem Wahlrecht für die Waschmaschine entscheiden. Überforderung? Resümee: Es gibt offensichtlich nichts mehr, was Sinn macht und auf was man sich verlassen kann. In Juli Zehs letztem Roman „Neujahr“ rührt die Überforderung aus der Zusammenballung von Ängsten und Katastrophen (Beruf, Beziehung, Lebensqualität usw.) her. Sie rettet sich in die Psychotherapie, scheint die schreibende Juristin festzuhalten. Hilft das?
Das hilft, aber reicht mir nicht. Man denke an Valentin. Wir leben in einem Nest, d.h. einer Welt, die viele von uns in Überforderung stürzt. Nur wenige stemmen die Forderungen, viele andere leiden. Sie sehen die Forderung als Überforderung, reduzieren Aktivität und Lebensqualität, verlieren Freude, zerstören Freundschaften, glauben nicht mehr an Sinn usw. Unser Nest lässt so etwas zu?
Denken wir einen Moment über das Wort „Forderung“ nach. Leider gerät die Forderung, die uns einleuchtet, in unserer Welt schnell zu einer Über-Forderung. Forderungen passen nicht mehr können immer weniger eingehalten werden. Zusammenhalt geht kaputt. Armes Nest.
Beispiel 4: Systemsprenger
„Systemsprenger“, ein preisgekrönter Film der Berlinale, stammt aus dem Praxisalltag der Erzieher. Aus deren Sicht funktioniert das System mit seinen Untersystemen nur für die paar Wenigen nicht, die in gar keines dieser Systeme hineinpassen. Der Film handelte von einem Kind von 9 Jahren, es sprengt das System der Erwachsenen mit seinen Regeln, Gesetzen, Traditionen, den von Institutionen und Behörden vertretenen Vorschriften. Vielleicht hätte man es als ADS-Kind ruhig stellen können und damit die Ordnung hinter diesem Chaos vernichtet. Gilt das nicht auch für Erwachsene? Die Ordnung im Nest lässt kein Chaos zu.
„System“ ist ein wichtiger Begriff der Soziologie. Es kommt einem das Bild von den Rädern, die ineinandergreifen, damit am Ende etwas Brauchbares herauskommt. Systemkritik gilt dann oft als Sand im Getriebe. Tolerieren wir die Störung des Systems? Ja, wir wünschen es sogar, weil nur ein System angemessen ist, das sich aktualisiert, Veränderungen einbaut und vielleicht sogar Systemsprenger akzeptiert. Hält das Nest das aus, in dem wir leben?
Fazit: Was sagt uns das?
Ich verstehe den Iraner Navid Kermani (berühmt seit seiner Rede im Bundestag) sicher richtig, als er schrieb: „Man schämt sich ein ums andere Mal für diese Stadt [Köln], die man doch liebt, in der man gern lebt, von der man nicht wegkommt“. Das Nest namens Köln (und mag es noch so groß sein) gibt ihm Kultur, Anregung, Offenheit, Freiheit zur Kritik usw. Aber, seine Stadt macht diese Lebensräume mehr und mehr kaputt, in denen man leben kann.
Wir müssen uns Gedanken machen, warum Lebensraum, Valentins Nest, zugrunde geht. Wir müssen alles in Frage stellen, was in unserem Lebensraum ohne Grund gilt. Nur was wirklich gut begründet ist, hilft uns und lässt uns leben – das ist leider selten der Fall. Unsere Welt ist auf Kostenbilanzen gepolt, nicht auf Zusammenhalt.
- Ein erster Schritt in diese Richtung ist mehr Durchsichtigkeit der Ordnung und ihrer Begründung (Transparenz).
- Folglich ist wichtig, weniger Regelungen von Politikern und ihren bürokratischen Behörden (Deregulation – seit der berühmten ‚Ruckrede‘ des Bundespräsidenten Herzog 1997). Alle haben applaudiert, aber keiner hat verstanden.
- Schön wäre überdies, wenn nicht nur die Alten – mehr als 60% des Parlaments sind über 60 -, sondern auch die von der Zukunft Betroffenen an den Entscheidungen beteiligt würden (Kooperation). Stattdessen wird die alte höfische Welt von Fürsten und Lakaien inszeniert. Zusammenhalt ade.