In Deutschland wird ein uralter Wald vernichtet, weil es Profit bringt. Die Liquidierung einer solchen ökologischen Kostbarkeit ist ein Verbrechen und für mich eine Initialzündung, NIE wieder an die Vernunft und Menschlichkeit in einer lobbykratischen Politik zu glauben. Der Vorgang hinterlässt Krieger: Krieger des Waldes.
Erinnerungen
Als Kind habe ich keinen Kindergarten besucht; ich spielte mit den Nachbarkindern im Wald. Ganz in der Nähe gab es (und gibt es ihn immer noch) den Igelberg, worunter man sich ein bewaldetes Hügelchen vorstellen muss. Ich kannte diese Gegend wie meine Westentasche, wusste welche Bäche man überspringen konnte und hatte gefühlt jeden großen Baum erklettert. Bei manchen Bäumen war es sehr kompliziert an die ersten Äste zu gelangen, die ein weiteres Besteigen ermöglichten. Ich kannte mich im oberen Gehölz so gut aus, dass ich mich sogar traute, wie ein menschliches Eichhörnchen von Baum zu Baum zu springen, was mir natürlich so manche Blessuren einbrachte. Oft hockte ich dort oben in dieser grünen Welt und war glücklich. Vor allem in den blätterreichen Sommermonaten blieb ich komplett unentdeckt, weil niemand mit meiner Anwesenheit in den Baumkronen rechnete. Bei meinen Freunden waren meine Kletterkünste beliebt, weshalb ich auch zum Chef der Igelbergbande ernannt wurde. Da ich mir aus Chefpositionen schon damals nichts gemacht habe, sah ich meine Führung vor allem darin, kleinere und schwächere Kinder über kleine Mutproben waldtauglich zu machen. Der Wald wurde zu meinem zweiten Zuhause; ich musste dort nur eintauchen und war in meiner Parallelwelt. In meiner eigenen realen Fantasygeschichte!
Diese Passion blieb mir auch erhalten, als ich das Klettern einstellte und stattdessen mit den ersten Freundinnen endlose Waldspaziergänge unternahm. Küsse im Wald waren ein Sinneserlebnis, so als vereinigten sich die Berührungen der Lippen mit den harzig-gewürzigen Geschmacksnoten der Natur. Waldküsse schmeckten zudem nach Wildheit, Freiheit und Endlosigkeit. Ich hatte damals im Kunstunterricht etwas über die Romantik gelernt:
Sie ist als Antwort auf das Zeitalter der Aufklärung zu sehen, das von nüchterner Vernunft und wissenschaftlicher Forschung geprägt war. Dem stellten die Romantiker das Seelenleben der Menschen, das Magische und Mystische, das Übernatürliche und Wunderbare entgegen.“ (1)
Das traf meinen Zeitpuls haargenau: Auch ich spürte diese Magie und Mystik mit jedem Aufenthalt in einem Wald.
Als junger Mann las ich Walden oder Leben in den Wäldern von Henry David Thoreau:
„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“
Sollte ich mal flüchten müssen, so meine Vision, würde ich in einen Wald ziehen. Mir war schon immer diese Welt tausendmal näher und lebendiger, als diese Unwirtlichkeit großer Städte mit ihrer künstlichen Ödnis, offenbar von Städteplanern gestaltet, die einen tiefen Menschenhass in sich hegten und vom Leben enttäuscht waren. Anders ist diese häufig anzutreffende Seelenlosigkeit ihrer Ausgeburten nicht nachzuvollziehen. In ihren Planungen war kein Platz mehr für schattenspendende Bäume oder lauschige Parks, um sich von der Hektik zurückziehen zu können. Die Städte heizen sich immer mehr auf, weil man ihnen die Bäume rausgerissen hatte: Sie standen der Flexibilität im Weg. Städteplaner gingen nach Überlegungen vor, die mit den Menschen, also ihren Bewohnern, NICHTS mehr zu tun haben.
Leben mit Wald
Es gab eine Zeit, in der ich sehr viel wanderte: durch den thüringischen Wald, durch die Wutachschlucht, das Rothaargebirge, den Reinhardswald, den Spessart, aber auch durch den Nationalpark Garajonay auf Gomera oder durch unbekannte Wälder auf meinen Reisen durch Europa. Und immer war es ein Eintauchen in eine unverfälschte Natur. Leider dehnte sich die Dummheit der Menschen auch auf die Wälder aus und obschon es im Grunde einer gewissen Logik entspricht, in die Biodynamik eines Waldgebietes nicht einzugreifen, brauchten die Experten Jahrzehnte, bis sie begriffen, dass ein Urwald ökologischer ist als ein aufgeräumter Forst, in dem Bäume nach den Regeln menschlicher Fantasielosigkeit angepflanzt wurden. Warum lässt man Menschen auf eine Natur los, die nach ihrer eigenen machtfreien Ordnung existieren kann? Die menschlichen Erdenbewohner waren und sind so einfältig und gleichgültig, dass sie riesige Waldflächen verwüsteten und Savannen zurückließen, die Mensch und Tier kaum mehr Schutz bieten konnten.
„Die globale Waldfläche beträgt heute mit 4 Milliarden Hektar nur noch 65 % der ursprünglichen Waldbedeckung vor 8000 Jahren. Gerade noch ein Drittel davon besteht aus Urwäldern. 78 % der Urwälder wurden in den letzten 8000 Jahren zerstört, und jedes Jahr gehen weitere 4,2 Millionen Hektar Urwald verloren. Ebenso geht die Fläche der natürlichen Wälder zurück, während die Fläche der stark veränderten Wälder und Plantagen weltweit zunimmt.“ (2)
Der Wald besitzt – vermeintlich – einen hohen Stellenwert bei dem überwiegenden Teil deutscher Bürger. Man hört, wie Ausflügler oder Urlauber schwärmen, wenn sie im Schwarzwald wandern waren oder bei der Brotzeit unter einem Baum nach langer Entbehrung wieder romantisierende Zustände erfahren haben. Manchmal mucken diese Bürger auf, wenn man eine Umgehungsstraße durch ihren Wald bauen möchte. Es ist ein kurzes Aufbäumen in der Polstergarnitur, ein temporäres Entladen in einer Bürgerbewegung, um dann irgendwann den Bockmist, den ein misanthropischer Lokalpolitiker und bekennender Verkehrsfetischist angerichtet hat, zu schlucken. Das deutsche Liedgut ist voll mit romantisierten Schnulzen über den Wald, man spricht von der grünen Lunge und der Gedanke an das kühle Grün eines Eichenhains weckt tiefste Gefühle in uns. Als ich einmal mit dem VW-Bus durch Griechenland fuhr und mitansehen musste, wie ein riesiges Waldgebiet abbrannte, hielt ich an und weinte.
Eines der nachhaltigsten Erlebnisse war unsere Wanderung durch das Gwaun Valley in Wales. Das wild-romantische Flüsschens Gwaun fließt durch ein wunderschönes bewaldetes Tal. Wir mussten immer wieder anhalten, um zu staunen. Meine Frau schrieb später in ihrem Reisebericht (3)
„Das Grün ist grün, ich meine nicht wie das Grün in verschiedenen Abstufungen des Farbkastens, auch nicht wie das Grün der Ampel. Nicht wie das ewige Grün unseres Kirschlorbeers oder das zarte Grün des Haselnussbaumes in unserem Garten. Es ist ein leuchtendes Grün, ein strahlendes Grün, ein Grün, das grüner ist als grün. Ein magisches Grün.“
Die Menschen bauen Wellnesstempel und legen künstliche Parks an, wenn die nächste Gartenschau naht. Dort liegen sie auf bequemen Liegen und atmen Wald. Man nennt das Walddusche! Doch diese Waldduscher vergessen, was für ein unvergleichbares Erlebnis es ist, durch einen ursprünglichen Wald zu laufen und im realen Grün zu baden: Unter einem Baum zu sitzen und zu lauschen; auf einer Lichtung die Licht-und-Schatten-Spiele der einfallenden Sonnenstrahlen zu beobachten. Und wer sich schon einmal im Wald geliebt hat, versteht nicht mehr, warum sich die meisten mit Betten begnügen!
Hambacher Forst
Vor einigen Jahren tauchte in den Medien zum ersten Mal der Name Hambacher Forst auf, der mir bis dato nicht bekannt war:
„Beim Hambacher Forst handelt es sich um einen Wald mit hoher ökologischer Wertigkeit, die sich aus Relikten von wärmeliebenden Arten ergibt, die in den Altwäldern vorkommen. In den noch verbliebenen Resten des Forstes wachsen Hainbuchen und Stieleichen. Zudem beherbergt der Wald zwei Kolonien der vom Aussterben bedrohten Bechsteinfledermaus, die durch Anlage von speziellen Weideflächen außerhalb des Forstes perspektivisch in andere Wälder im Umkreis des Tagebaus gelockt werden sollen. Die ältesten Bäume im Forst sind 350 Jahre alt.“ (4)
Heute hat dieser Wald eine traurige Berühmtheit erlangt. Die umliegenden Gemeinden haben diese auch als Bürgewald bekannte Fläche 1978 der Rheinbraun AG verkauft, die später mit der RWE – eine der führenden Energiekonzerne Europas – fusionierte. Dem Konzern ging es darum, die Kohleverstromung und –förderung durch einen flächenfressenden und naturzerstörenden Abbau voranzutreiben. Es wurde schnell deutlich, dass dem Konzern ökologische Werte einerlei waren, gleichwohl sich der Wirtschaftsriese gerne mit Klimaschutz brüstet. Die RWE ist aber auch in der bundesdeutschen Lobbykratie keine unbekannte Größe, gehen doch die Manager im Bundestag ein und aus und pflegen beste Kontakte zur CDU. Wen wundert es also, dass die Christdemokraten kein Problem damit haben, den Energieriesen den Rücken zu stärken, wo es nur geht. Als 2009 die erste Proteste begannen und später Aktivisten u.a. durch den Bau von Baumhütten den Wald besetzten, waren auch die Unionisten die ersten, die Braunkohlegegner kriminalisierten. Die CDU gehört zu den lautesten Verteidigern einer Wertegesellschaft; der Wert der Natur gehörte noch nie dazu.
Heute hat dieser Wald eine traurige Berühmtheit erlangt. Die umliegenden Gemeinden haben diese auch als Bürgewald bekannte Fläche 1978 der Rheinbraun AG verkauft, die später mit der RWE – eine der führenden Energiekonzerne Europas – fusionierte. Dem Konzern ging es darum, die Kohleverstromung und
Ich möchte aber nicht die Geschichte des unvergleichlichen Widerstands im Forst wiedergeben; dafür fühle ich mich nicht berufen. Vielmehr geht es mir um eine andere Frage: Warum darf man Wald verkaufen? Wie kann es sein, dass Großgrundbesitzer, die Politik oder Wirtschaft (was identisch ist) eine Waldfläche aufkaufen und mit ihr anstellen, was ihr beliebt? Und wo bleibt der Aufschrei der Naturliebhaber, der Schwarzwaldtouristen, der Lieder-über-den-Wald-Singer, den Unterm-Baum-Picknicker und der Waldwandervögel, wenn Wälder vernichtet werden? Es sind wieder beherzte und engagierte Menschen, die sich auflehnen, um sich anschließend von parteipolitischen Verantwortlichen den Vorwurf anhören zu müssen, Linksradikale, Staatszersetzer oder kriminelle Gewalttätige zu sein. Dass der Hambacher Forst zum Zeitpunkt, wo ich diesen Text schreibe, zerstört wird, hat nichts mit Notwendigkeiten zu tun; das Vorgehen folgt einem politischen Algorithmus, in dem es nicht um Richtig oder Falsch geht, sondern um eine Verkettung von Beschlüssen, Gesetzen und Verordnungen, die letztendlich in keinerlei Beziehung stehen.
Verfolgt man den Wahnsinn, der im und um den Hambacher Forst geschieht, so macht einen das ratlos, wütend, traurig, zornig und aggressiv. Wenn sich Menschen gegenseitig niedermetzeln, so ist das ihre Sache; sie sind Homo sapiens, und könnten es besser wissen. Aber hier geht es um uralte Bäume und einen Wald, der sich nicht selbst kümmern kann, sondern auf unsere Unterstützung angewiesen ist. Die Exekutoren heißen Rolf Martin Schmitz, Herbert Reul, Armin Laschet oder Ina Scharrenbach. Wir wollen diese Namen nie vergessen und diese Personen spürbar an ihre Entscheidungen erinnern, wo immer wir sie treffen: Durch Protestaktionen, Petitionen, Boykotte, Demonstrationen oder zermürbende Briefe. Die Zerstörung des Hambacher Forst hat sich bei uns eingebrannt. Es gibt immer Momente im Leben, wo sich neue Türen öffnen und sich neue Wege auftun. Die Waldliquidierung durch Wirtschaft, Politik und Polizei hat uns in einer vehementen Weise animiert und aufgestachelt, aber auch zum wiederholten Male bestätigt: Ein Mensch, der sich dem Profit und grenzenlosen Wachstum verschrieben hat, ist seelisch verseucht. Jeder Wald, jeder Baum, jeder Strauch, jede Wurzel ist dem Menschlichen näher, als ein eingekaufter Politokrat. Wir wollten uns nie Krieger nennen, aber es soll uns eine Ehre sein, Krieger der Natur und ihrer Wälder zu werden.