Ich habe mir eine Woche Meditation, Achtsamkeit und Ruhe verordnet, um wieder ins Lot zu kommen. Manchmal muss man erst spüren, dass der Organismus streikt, um innezuhalten.
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Im Rückspiegel des Wohnmobils, mit dem ich in Richtung Köln unterwegs bin, schaut mich ein altes Gesicht an. Gut, ich bin nicht mehr der Jüngste, aber zurzeit fühle ich mich auch alt. Alt und ausgelaugt, unmotiviert und – vor allem – erschöpft. Meine Selbstdiagnose: Rezidivierendes Erschöpfungssyndrom. Ich habe mir also selbst eine Kur verschrieben und bin zuversichtlich, dass mir eine Auszeit gut tun wird. Doch augenblicklich spüre ich vor allem Niedergeschlagenheit, leichte Zweifel und ein Unwohlsein in der Magengegend. Dort sitzt übrigens mein Befindlichkeitsanzeiger!
Auf dem Campingplatz in der Nähe der Domstadt, idyllisch an der Autobahnbrücke Köln-Rodenkirchen gelegen, checke ich mich ein. Mit der sympathischen Frau an der Rezeption komme ich schnell ins Gespräch und erzähle ihr von meiner Absicht, in Köln einen einwöchigen Kursus mit dem vielversprechenden Titel „Mit Achtsamkeit mehr Zufriedenheit im beruflichen Alltag“ zu absolvieren. Sie gratuliert mir zu diesem Entschluss. Sie sei selbst eine Weile in einem buddhistischen Kloster gewesen. „Ich musste mal wieder ins Lot kommen“, so ihre Umschreibung. Ich finde, besser konnte sie den Kern meines inneren Zustands gar nicht treffen: Ich war aus dem Lot geraten und hatte mein inneres Gleichgewicht verloren.
Köln ist sicherlich eine hochinteressante Stadt, wie ich mich selbst schon häufiger überzeugt hatte, aber mir ist nicht nach Großstadt, nicht nach Menschen und auch nicht nach irgendwelcher Kunst oder Kultur. Mir ist nach Abgeschiedenheit und Alleinsein. Das bedeutet in meinem Fall viel, denn es fällt mir überaus schwer, länger als ein Tag von meiner Frau getrennt zu sein.
Der Campingplatz ist vom Regen komplett aufgeweicht, ich finde aber noch ein nettes Plätzchen unter einem Baum, den ich gar nicht nach seinem Namen gefragt habe. Ich sondiere etwas die Gegend, laufe am Rheinufer entlang und fühle mich entsetzlich fehl am Platze. Nahezu einsam! Verdammter Mist, warum mache ich das hier? Über mir donnern unermüdlich die Autos der A4 – ich verbuche es mal als Kontakt zur Realität.
2. Tag
Prompt verschlafen. Die Nacht war unruhig; es ist halt ungewohnt, in der Nähe einer Autobahn Ruhe zu finden. Und das trotz Ohrstöpsel! Gleichwohl reicht es zu einem Frühstück im lauschigen Wohnmobil, meinem vertrauten Ort für die nächsten Tage. Ich mag keine Hotels. Der Regen hat aufgehört, also schwinge ich mich aufs Fahrrad und fahre den Anleitungen der Dame von google maps folgend zu meinem Ziel: Dem Institut „Neues Lernen“, gut 9 km vom Campingplatz entfernt. Die Strecke ist fürchterlich! Obschon ich den Fahrradmodus eingegeben habe, werde ich über Straßen geleitet, die im normalen Leben für Fahrradfahrer verboten sein müssten. Bis auf ein paar wenige ruhige und auch schöne Streckenverläufe ist es ein Kampf ums Überleben. Ich hatte eigentlich nicht vor, Survivaltraining zu betreiben. Das ein oder andere Mal kommen die geballte Faust oder unflätige Worte zum Einsatz.
Unser Referent ist ein überaus sympathischer, nahezu charismatischer Mann, der – wie es sich im Verlauf der Woche zeigen wird – mir unglaublich gut tut. Man trifft absolut selten Menschen mit einer solchen Ausstrahlung. Stefan ist u.a. Meditationslehrer und Achtsamkeitstrainer, hat selbst lange Zeit in buddhistischen Klöstern zugebracht. Meine Seminargruppe ist überschaubar klein und zudem nett. Allesamt haben sie das dringende Bedürfnis nach Ruhe; einige sind Wiederholungstäter. Bei der Vorstellung hört man Begriffe wie Arbeitsverdichtung, Überforderung, Leistungsdruck, Großraumbüro, Erschöpfung oder Schlafprobleme. Ich denke, ich bin hier richtig.
In der Ankündigung des Seminars heißt es: „Der Bildungsurlaub lädt Menschen ein, die im Berufsalltag mehr Zufriedenheit wollen und die mit Belastungen, Stress und Konflikten besser umgehen möchten.“ Mit unglaublicher Geduld und Einfühlungsvermögen führt uns Stefan in die Meditation und in Achtsamkeitsstrategien ein, nutzt dabei auch Elemente aus dem Yoga und der Feldenkrais-Methode und würzt das Ganze mit viel Humor. Meditation im Sitzen, Stehen, Gehen und Liegen. Mir werden plötzlich Körperregionen bewusst, über deren Existenz ich mir gar nicht mehr im Klaren war. Nicht immer ist das meditationsfördernd, zudem stören mich die viertelstündlich läutenden Glocken. Irgendwo wird im Haus gebohrt!
Ich fahre mit einem guten Gefühl in den Feierabend. Die Stimme vom Navi habe ich ausgestellt und fahre, wie es mir gefällt: Mal hier in eine schöne Straße, mal dort durch einen Grüngürtel, dazu scheint die Oktobersonne und ich habe gerade den Eindruck, die Erholung setzt soeben mit praller Vehemenz ein. Das Ende vom Lied: Ich habe mich gehörig verfahren und es ist zu befürchten, dass ich mich schon seit geraumer Zeit nicht mehr im Stadtbereich von Köln befinde. Aber wen juckt´s! Dann ist das eben so!
Abends sitze ich im Wohnmobil, gönne mir ein Feierabendbier und philosophiere vor mich hin, während oben der Regen aufs Dach prasselt.
3. Tag
Die Nacht war besser und der Wecker funktionierte einwandfrei, so dass ein entspannteres Frühstück möglich ist. Ich pfeife heute Morgen auf die Ansagen von google maps und wähle meinen eigenen ausgeklügelten Weg. Ein paar Mal versucht es die Stimme mit „Drehen sie bitte um“, aber ich lasse mich nicht beeinflussen und radele durch Bayenthal, Altstadt-Süd und andere Viertel, von denen ich bisher nie gehört habe. Übrigens regnet es etwas, was mich aber nur wenig stört. Wieder mache ich die Bekanntschaft mit Autofahrern in aufgemotzten Markenkarossen, die sich offensichtlich als IS-Todesschwadronen imaginieren. Sie haben Glück, ich habe heute meine Kalaschnikow nicht mit. Allerdings muss ich feststellen, dass manche Radfahrer nicht besser sind und einen Fahrstil an den Tag legen, der irgendwie etwas Selbstzerstörerisches an sich hat. Idioten! Früher hätte ich die Herausforderung angenommen und ihnen den Garaus gemacht.
Dann wieder Meditation. Stille. Stefans ruhige Stimme. Ich spüre meinen Körper und manchmal auch nicht. Die Glocken vom Kirchturm stören mich nicht die Bohne und die Bohrgeräusche fallen mir erst auf, als ich nach ihnen lausche! Wir lernen eine schöne Übung mit einem Holzstab. Die Aufgabe: Ihn in senkrechter Haltung mit möglichst wenig Körpereinsatz zum Stehen zu bringen. Für eine kurze Weile wurmt mich die Aufgabe, weil der blöde Stiel gar nicht daran denkt, stehen zu wollen, doch dann wandele ich die Aufgabe einfach um: Ich lasse mich durch den Vorgang des Auspendelns in einen entspannten Zustand versetzen. Dieses Ruhegefühl in mir ist unglaublich schön und vor allem: Unglaublich ungewohnt. Denn die Norm ist: Immer mehr in kürzerer Zeit mit gleichen personalen Ressourcen. Normalerweise würde ich jetzt eine Predigt über das dämliche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem vom Stapel lassen, würde in aggressiver Weise das Höher, Weiter, Schneller verdammen, doch mir wird in diesen Momenten der inneren Gelassenheit klar, dass es gar kein System gibt! Es gibt nur mich und es liegt ganz allein an mir, ob ich mich vom Höher, Weiter, Schneller beeinflussen lasse. Wie sagt Stefan: Der innere Schweinehund steckt nicht in uns, sondern wir sind es selbst. So ähnlich jedenfalls!
Bevor ich in mein Refugium zurückkehre, mache ich Halt in einem Szenecafé und gönne mir einen Kaffee nebst Käsekuchen. Zum Nachtisch gibt es einen Rotwein. Und dann sitze ich da, zurückgelehnt und denke: Mann, warum tust du dir all diesen Stress immer wieder an. Ja, ich bin ein absoluter Gegner all dieser kapitalistischen Machenschaften, die uns Menschen zerstören, unser Hirn aufweichen und uns vergessen lassen, dass eigentlich nur das gelebte Leben im Fokus stehen sollte, doch unzählige Male pro Tag, was sage ich: pro Stunde trete ich meine eigene Einstellung mit Füßen und lasse mich durch diesen unsinnigen Stress ruinieren.
„Zuhause“ gehe ich zum Fluss. Vater Rhein: Schöne Anrede. Ich habe mir in den letzten Tagen angewöhnt, dies bedächtig zu tun. Achtsamkeit bedeutet auch, achtsam zu gehen. Wir würden sicherlich viele Unfälle und –glücke vermeiden, wenn wir etwas bedächtiger vorgehen würden. Am Ufer finde ich einen Stamm, mit dem ich die Übung vom Morgen wiederhole. Vielleicht sieht das für die vorbeihetzenden Jogger merkwürdig aus. Später sitze ich auf einem dicken Stein und schaue den Schiffen zu. Und dann entdecke ich die alte Unrast in mir, diese Unruhe, die mich aufspringen lassen möchte, weil mir im Kopf schon eine neue Aufgabe vorschwebt. Weil ich mich getrieben fühle von einem Irgendwas, dessen Definition mir nicht einmal klar ist. Ich bleibe sitzen, aber es ist unglaublich schwer!
4. Tag
Mir scheint, ich fahre jeden Morgen einen anderen Weg und gelange dann doch wieder an Orte, an die ich mich erinnere. Unterwegs treffe ich Leute, die mir bereits an den letzten Tagen begegnet sind. Zum Beispiel die sehr dicke junge Frau mit den unvorteilhaften Leggins, die jeden Morgen zur Straßenbahnhaltestelle rennen muss oder der ständig gelangweilt aussehende und telefonierende Mann vor dem Bodybuilding Center. Und dann flitzt diese Bohnenstange auf dem Rennrad an mir vorbei; für ihn scheint der Radweg keine Option mehr zu sein. Doch es gibt auch die Kamikazefahrer – auf zwei oder vier Rädern. Mir fällt allerdings auf, dass sie mich gar nicht mehr stören. Vielleicht denke ich, dass es arme Schweine sind. Vielleicht hatten sie am Vorabend schlechten oder keinen Sex, vielleicht ist auch das Auto das letzte bisschen Geltung, was ihnen geblieben ist. Plötzlich tuen sie mir auch klein bisschen Leid. Aber nur ein klein bisschen.
Ich denke an die Sätze in der Seminarbeschreibung: „Sie decken gewohnheitsmäßige Reaktionsmuster, destruktive Denk- und Verhaltensmuster, Selbstbeschränkungen auf. Mit wachsender Erfahrung bekommen Sie die beruflichen Anforderungen gelassener und selbstbestimmter unter Kontrolle.“ Es scheint zu funktionieren und die Meditation durchfließt mich wie ein warmer Strom. Und für einen Moment denke ich, ob dieser Zustand nicht der Urlebensstrom ist, der mir und all den anderen abhandengekommen ist.
Auf dem Rückweg mache ich mit dem Rad einen Abstecher nach Rodenkirchen. Ich stelle mein Rad ab, kaufe mit einen Prasselkuchen und prassel die Bank auf dem kleinen Platz voll. Ein wenig erinnert es mich an ein Theater: Um mich herum Bewegung, Hektik und Eile. Ich halte es nicht lange hier aus!
5. Tag
Mit einem euphorischen Gefühl wache ich auf. Zum einen freue ich mich auf mein Seminar, vor allem aber ist heute der Tag, an dem meine Frau nachreist, um mir die letzten Tage Gesellschaft zu leisten. Auf meinem Weg zur „Lebensarbeit“ grüße ich plötzlich fremde Menschen. Einem Typen im Unterhemd, der mürrisch aus dem Fenster schaut, wünsche ich einen guten Morgen. Er ist verdutzt, grüßt zurück und lächelt mit einem breiten Grinsen.
Die Meditation dauert mir fast schon etwas zu lange, nachdem ich die Nachricht von meiner Frau bekommen habe, dass sie unversehrt und – der Bundesbahn sei Dank – unverspätet angekommen ist. Sie wartet im Wohnmobil auf mich. Auf dem Rückweg lege ich einen neuen Rekord hin. Es ist aber kein Rasen, sondern eher ein befreites Bewegen. Schon oben von der Brücke sehe ich sie unten stehen. Ich winke ihr zu, sie winkt zurück, aber auch eine fremde Frau, die mir mit dem Rad entgegenkommt. Es ist alles so einfach. Und dann: Wiedersehen. Es sprudelt aus mir heraus, als wäre ich wochenlang auf hoher See gewesen. Marion muss direkt die Übung mit dem Stab ausprobieren. Da dies mitten auf dem Radweg am Rheinufer geschieht, werden wir zum Hindernis für einige Radfahrer.
Abends gehen wir in eine schrullige Kneipe, das Poller Fischerhaus, das sich seit über 100 Jahren seiner „einzigartige Lage inmitten der Natur mit Blick auf den schönen Vater Rhein …“ auszeichnet. Der Mann neben mir quatscht mich an. Wohl nicht von hier, fragt er. Ne, sage ich, komme aus dem Münsterland. Und was machst du hier, will er wissen. Ich erzähle ihm, dass ich eine Fortbildung mache. Aha, erwidert er und dann schaut er mich eine Weile an und setzt nach: Lohnt sich das denn noch in deinem Alter?
6. Tag
Es ist ein etwas melancholisches, fast schon trauriges Gefühl, das letzte Mal zu meinem Seminar zu radeln. Ich werde meinen Lehrer Stefan vermissen. Er hat in der kurzen Zeit unglaublich viele Spuren hinterlassen. Aber mir gehen an diesem Morgen noch ganz andere Gedanken durch den Kopf. Es war eine Woche der absoluten Ruhe, jenseits jeglicher Reizüberflutung. Ich musste mich nicht mit Arbeitsabläufen herumärgern, die jeglichen Sinn entbehren und es gab keinen Terminstress oder Ärger mit unsympathischen Zeitgenossen. Das Köln keine Fahrradstadt ist: Schwamm drüber. Aber wie würde es mir möglich sein, die hier gemachten Erfahrungen, das Zurückkehren zu meinem ureigenen Ich aufrechtzuerhalten? Wie ließe sich die Achtsamkeit in den Alltag und damit auch in die Arbeit integrieren?
Abends essen meine Frau und ich in dem sehr netten Lokal Rhein und Wiese, um meine Woche kulinarisch abzurunden. Untertitel der Lokalbeschreibung ist: Essen mit Aussicht, was sich in diesem Fall auch auf eine andere Form des Ausblicks bezieht. Wir überlegen nämlich, was mir helfen könnte, kleine Kurskorrekturen einzuleiten und die gemachten Erfahrungen umzusetzen. Und was mich besonders freut: Wie wir dies zusammen hinbekommen können.
Eine Woche später
Ich fahre mit zahlreichen Vorsätzen nach Hause. Wenn auch nicht regelmäßig, so aber doch regelmäßig unregelmäßig nutze ich die Zeit, um zu meditieren. Und zwar gemeinsam mit meiner Frau, die sich schnell infizieren ließ.Immer häufiger verlasse ich die Zeit, halte für einen Moment inne, atme durch und kehre langsam zurück. Es sind die kleinen Momente am Tag, die ich mit mehr Achtsamkeit belege und damit belebe. Es ist ein schwieriger Weg, aber ich gehe ihn mit sehr viel Zuversicht. Und es fühlt sich wie ein Urzustand an. Wie steht es auf dem Grabstein von Herbert Marcuse? Weitermachen!