Hass ist die neue internationale Seuche: Ansteckend und komplex in seiner Entstehung. Dabei treffen existentialistische, soziale und psychologische Bedingungen aufeinander. Ein Konflikt zwischen innerer und äußerer Realität. Eine entsetzliche Fratze des Menschlichen.
Kann ICH hassen?
Hattest Du schon einmal ein Gefühl wie Hass, fragte mich meine Frau beiläufig in einem der Nächte füllenden Unterhaltungen. Wie bei einem Geldspielautomaten ratterten in meinem Kopf Namen und die dazu gehörigen Befindlichkeiten ab. Oh ja, es fielen mir einige Namen aus dem näheren Dunstkreis ein, auf die ich sauer bis wütend war, über die ich geflucht habe oder die mir schlaflose Nächte gekostet haben. Es fielen mir auch Namen ein, von denen ich enttäuscht war oder mit denen ich so etwas wie Ausgesetztsein verband, aber hassen…? Habe ich wirklich jemals jemanden gehasst? Ich dachte über Menschen nach, die mir aufgrund einer gewissen Position in der Politik oder der sonstigen Öffentlichkeit sauer aufgestoßen sind. Ich trug früher einen Anti-Strauss-Aufkleber, finde Dieter Bohlen arrogant und asozial und halte die komplette Garde der Rechtspopulisten ohne Unterschied ihrer Parteizugehörigkeit für Sozialverbrecher. Aber hasse ich sie? Die Antwort müsste eher „nein“ heißen.
Dieses Ergebnis will aber nicht heißen, dass ich nicht zu Hass fähig wäre. Ich selbst kann niemanden hassen, den ich nicht kenne. Ich könnte z.B. keine Fans anderer Fußballvereine hassen, ich könnte keine Menschen einer anderen Religion oder Nationalität hassen und ich könnte auch keine Schwerverbrecher hassen. Es war einer der Gründe, warum ich meinen Wehrdienst verweigert habe. Müsste ich eine Person, die ich erschießen sollte, nicht auch hassen? Ich wurde mit christlichen Werten erzogen, komme aus einem Elternhaus, in dem ich viel Liebe erfahren habe, bin Pazifist, lehne Machtstrukturen vehement ab und halte mich für einen reflektierten Menschen, der sich über seine inneren Zustände durchaus im Klaren ist. Doch mag ich nicht sagen, welche negativen Energien bei mir freigesetzt würden, wenn jemand meine Frau, meine Kinder oder meine Familie angreifen, sie verletzen oder töten würde. Ich wäre mir nicht sicher, ob dies nicht ohnmächtigen Hass in mir schüren würde! Oder gar – Vernichtungsfantasien! Kann also jeder hassen?
Kürzlich berichtete mir in meiner Tätigkeit als Kinder- und Jugendpsychologe ein 15jähriges Mädchen von einer Vergewaltigung, die vor einigen Monaten stattgefunden hat. Ein Thema, mit dem ich leider sehr häufig konfrontiert werde. Auf meine Frage, ob sie den Täter hasse, verneinte sie. Sie umschrieb das Gefühl eher als eine Mischung aus Traurigkeit, Ekel und Enttäuschung. Der Täter war ihr sehr vertraut!
Warum hassen Menschen nicht, die Grund zum Hassen hätten? Und warum ist andererseits das Netz voll mit grauenhaften Hasstiraden und -parolen, bei denen man das Motiv vergeblich sucht? Warum hasst man Flüchtlinge, obschon mal selbst nie persönlichen Kontakt mit ihnen hatte, nie mit ihnen gesprochen oder einen Abend mit ihnen verbracht hat? Warum kleben Fans des Fußballvereins XY Aufkleber an Laternenmasten, in denen sie von Vernichtung faseln und schlimmste Feindseligkeit gegenüber Fußballfans des Vereins YZ ankündigen? Warum hassen Rechtspopulisten Menschen mit islamischem Hintergrund, wenn sie nicht einmal andeutungsweise Hintergrundinformationen über die Religion haben? Und warum hassen sie eigentlich nicht alle Religionen? Wiederum umgekehrt: Warum gibt es Hassprediger oder religiös-fanatisierte Terroristen, die ihr Denken für allgemeingültig halten und alles hassen, was nicht in ihr kleines Glaubenshirn passt? Der Begriff Terrorist ließe sich durch Titel wie Diktator oder Tyrann ersetzen.
Hass, ein komplexes Gefühl
Was ist Hass für ein eigenartiges Gefühlskonstrukt? Ist Hass überhaupt noch ein Gefühl (= psychologische Grundfunktion) bzw. eine Emotion (= psychophysiologisches Phänomen) oder ist es ein noch komplexerer Zustand, der sich aus existentiellen, psychologischen und sozialen Bedingungen speist? Soziologie und Psychologie bieten zahlreiche Erklärungsversuche an, um die Entstehung von Hass zu definieren. Und dabei landet man immer wieder bei der möglicherweise überraschenden Aussage, dass ein Mensch, der mit sich im Reinen ist, der zufrieden ist, nicht hassen kann. Weder sich selbst noch eine andere Person. Könnte man daher nicht sogar weitergehen und behaupten: Wer hasst, ist gestört, weil er sich die zugrundliegenden Motive für seine innere Realität (z.B. traurige Kindheit, Gewalterfahrungen etc.) nicht bewusst ist? Der Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit, der sich über viele Jahrzehnte mit männlichen Gewalttätern befasste, fand eine ähnliche Umschreibung: Menschen, die Gewalt ausüben wollen beziehungsweise müssen, tuen dies, „…um zu einem Gefühl eigener Lebendigkeit zu kommen.“ (1)
Hass ist zunächst einmal ein Maximalgefühl und steht an der Spitze einer Steigerung wie gereizt-verärgert-wütend. Margarete Mitscherlich (2) nennt es eine spezifische Erscheinungsform von Aggression. Darüber hinaus muss man es als Negativ- und Mischgefühl bezeichnen, da es mit komplexen Zuständen wie Angewidertsein, Aggression, Ohnmächtigkeit, Ausgesetzt- oder gar Ausgeliefertsein paktiert. Während Emotionen wie Angst, Wut oder Trauer als menschlich akzeptiert sind, tendiert ein Zustand wie Hass genauso ins Pathologische wie eine Depression mit anhaltender Trauer oder Panikattacken als Steigerung von Angst. Allerdings verlässt Hass die Grauzone des Normalen oder Akzeptierten, weil es als Untugend im Sinne einer Entgleisung gesehen wird und zudem sich Hass (außer beim Selbsthass) gegen andere richtet und somit eine potentielle Gefahrenquelle darstellt. Dies ist umso vertrackter, wenn zum Beispiel Rechtspopulisten ihren Hass gegen alles und jeden Andersdenkenden richten, während man in der eigenen Ideologie – soweit es überhaupt eine gibt – den Hass der sogenannten „Islamisten“ als Gefahr brandmarkt. Es ist, als würde man Feuer mit Feuer bekämpfen!
Es ist unmöglich, Hass als Einzelfunktion herauszulösen und auch müßig, denn menschliches Handeln ist meines Erachtens nur schwerlich beziehungslos zu betrachten. Genauso wie viele andere, wenn nicht alle Lebensmechanismen ist Hass ein Zusammenspiel von zahlreichen Faktoren wie abwehrende Reaktion auf Bedrohung und Gefahr, ein Mechanismus aufgrund von Ohnmacht und Hilflosigkeit, das Abschwächen von Ängsten, ein Vermeidungsverhalten bei dem Gefühl des Ausgesetztseins und als letzte Instanz, um so etwas wie Selbstwirksamkeit zu erfahren. Hasserfülltes Verhalten wird somit auch von Persönlichkeitsstrukturen gesteuert und ist zudem abhängig davon, ob mir Verhaltensalternativen zur Verfügung stehen. Gerne wird der Hass auch als Abwehrmechanismus bezeichnet, der zum Einsatz kommt, wenn mir keine anderen Maßnahmen zur Verfügung stehen. Die Personen oder der Zustand, gegen die sich die aggressive Feindseligkeit richtet, können somit Ersatzobjekt und Blitzableiter für ein „gekränktes Selbstwertgefühl“ (2) sein.
Soziale Entstehungsbedingungen
Darüber hinaus greifen auch soziale Aspekte bei den Überlegungen zum Hass. Eine Erziehung oder auch Kultur, die aggressive Aspekte des Menschen ahndet und stattdessen versucht, schlichtende Elemente zu verwenden, ist sicherlich ein besserer Ausgangspunkt, als die Anerkennung von schädigendem Verhalten. Vor allem in Filmen und in der Musik geben Aggressionen von unglaublichem Ausmaß einen Ankerreiz vor. Befinde ich mich in einer Gang, in der aggressives „Rumgeballer“ zum guten Ton gehört, werde ich mich mit freundlichem Habitus dort wenig beliebt machen. Hier ist auch das politische System zu nennen, in dem ich mich befinde bzw. indem ich aufwachse. Je mehr ich fremdbestimmt, reglementiert, oder ausgebeutet werde, desto mehr wird in mir mehr als nur Wut mit Resignation und Angst gemischt entfacht. Da ich diese Wut nicht gegen das Regime selbst richten kann (oder mich nicht traue), muss eben ein anderes Opfer leiden. Diese Mechanismen kennen wir auch beim Mobbing.
Im dritten Reich, dass zurzeit von den Rechten, sowie anderen „Antirationalisten“ verklärt und von manchen gar zurückgewünscht wird, hasste fast eine ganze Nation die Juden. Recherchiert man die Gründe, so lag das Motiv für diesen Hass oftmals im Neid. Überproportional viele Juden hatten einflussreiche Stellen inne oder spielten auf hohem intellektuellem Niveau eine wichtige Rolle. Es ist natürlich nachvollziehbar, dass die jetzigen Rattenfänger erpicht darauf sind, ein wütendes Volk zu regieren und emotional aufzuheizen, deren Mitglieder mehrheitlich nicht in der Lage sind, zwischen innerer Realität (= Gefühl der Benachteiligung, mangelnder eigener kognitiver Fähigkeiten etc.) und äußerer Realität (= Flüchtlinge und Migranten, die als Bedrohung erlebt werden) zu unterscheiden. „Man selbst ist erniedrigt; aber es gibt Menschen, auf die man noch herunterschauen kann. Dieser Gedanke bildet einen wichtigen Bestandteil jedes militanten Glaubens.“ (2) Und je mehr das Hassen zur Normalität wird, umso mehr gedeiht dieser Zustand zu einer Seuche, einer Pandemie. Hass ist ansteckend. Wir haben die meisten Seuchen in den Griff bekommen, wird dies auch bei der Hasspestilenz gelingen? Der Shoa-Überlebende Elie Wiesel meinte einmal in einem Interview: Hass kennt „…keine geografischen, religiösen oder ethnischen Grenzen. Leute, die hassen, hassen jedermann, und am Ende sich selbst.“ (3)
Hass, ein existentialistisches Problem
Hass ist aber auch ein existentialistisches Konstrukt. In seinem Buch „Haben oder Sein“ skizziert der Soziologe, Psychologe und Philosoph Erich Fromm zwei Existenzweisen. Danach sind Menschen, die vom „Haben“ bestimmt sind oder werden vor allem durch Verhaltensweisen wie Machtausübung, Autorität, Gier oder Ansammlung von Privateigentum gekennzeichnet, während der Modus des Seins eher Unabhängigkeit, Freiheit und kritische Vernunft bedeutet. Zum „Sein“ zu tendieren, bedeutet auch Gier und Hass zu überwinden. Oder: „Zum Sein gelangt man, wenn man durch die Oberfläche dringt und die Wirklichkeit erfasst.“ (E. Fromm in Sein und Haben).
Ein Mann, offensichtlich Anhänger der AfD, formulierte auf Facebook im entsetzlichsten Deutsch eine Hasstirade gegen sämtliche muslimischen Menschen. In diesem Posting gebrauchte er Begriffe wie abknallen, an die Wand stellen und standrechtlich erschießen usw. Gleichzeitig nutzte er in seinem dummerweise nicht verdeckten (inzwischen aber gelöschtem) Account unreflektiert Begriffe wie „christliches Abendland“, das es zu schützen gilt. Ist das ein Widerspruch, weil Hass und christlich nicht zusammengehen oder existiert Hass in jedem Menschen, wird nur von Weltanschauungen, die das ausschließlich Gute im Menschen sehen, verleugnet?
In vielen Bibelstellen wird die Liebe als ausgleichendes Etwas dem Hass gegenübergestellt und man wird hier nicht müde, an den Edelmut und das „Menschliche im Menschen“ zu appellieren. Erstaunlicherweise wimmelt es anderenorts von Hassaussagen der übelsten Sorte: „Ich zerschmettre allen den Kopf. Was dann von ihnen noch übrig bleibt, töte ich mit dem Schwert. Keiner von ihnen kann entfliehen (…). Und wenn sie vor ihren Feinden her in die Gefangenschaft ziehen, dann befehle ich dort dem Schwert sie zu töten.“ (Am 9:1-4). Die Bibel gehört daher nicht zu meinem Buch der Bücher! In meiner sehr katholischen Sozialisation bin ich zahlreichen Menschen begegnet, denen offenbar ihr Katholischsein nicht viel genutzt hat. (Nicht umsonst findet man vor allem in kirchlichen Institutionen ein hohes Maß an Mobbing.) Das Hasspotential was mir hier u.a. begegnete, war enorm und ist es immer noch. Ein Pater, den ich im Rahmen eines Klosteraufenthalts zur Abiturvorbereitung kennenlernte, äußerte sich im Zusammenhang mit den in der Stadt ablaufenden Demonstrationen von linken Studenten, man solle sie alle an die Wand stellen und abknallen. Da scheinen mir Parallelen zum AfD-Anhänger zu bestehen. Religion schützt nicht vor Hass!
Ausrichtungen von Hass
In den Ausführungen über den Hass, egal welcher Richtung oder welchen Genres, wird oft die Ausrichtung des Hasses vergessen. Mal abgesehen vom Selbsthass ist der Hass eines Vaters auf den Täter, der für den Mord am Kind verantwortlich ist, ein anderer, als der Hass des AfD-Anhängers auf Flüchtlinge oder des Paters auf linke Demonstranten, die er gar nicht kennt und die ihn gar nicht persönlich betreffen. Findet hier eine Verschiebung der Motive statt? Ist der AfD-Mensch vielleicht nur neidisch auf die Zuwendung, die Flüchtlinge erhalten, und der Pater stinkig, weil er in seinem Orden nicht so laut seine Meinung sagen darf, wie die aufmüpfigen Studenten? Ist Hass, der nicht in einer ausweglosen Situation angeregt wird, Ersatzbefriedigung oder vielleicht sogar die Reaktion auf ein chronisches Defizit des Geliebtwerdens? Eben gescheiterte Liebe, wie es Søren Aabye Kierkegaard formulierte. Und auch von Hermann Hesse kennt man einen Satz, der diese „Statt-dessen-Funktion“ im Hass umschreibt: “Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.”
Vor allem im Hass, der nicht aus persönlicher Not heraus gerichtet wird, steckt auch eine gehörige Portion Egoismus, Eigennutz, aber auch mangelnde emotionale Intelligenz, soziale Kompetenz und kognitive Geistesgröße. Anstatt die eigenen Probleme in Angriff zu nehmen und seinen Frustrationen oder Desillusionierungen einen konstruktiven Weg zu bahnen, wird der Feind im Fremden und Unbekannten gesucht. Es scheint ein Leichtes zu sein, solche Menschen durch rechte Ideologien zu kanalisieren und ihre Wut zur Machtbereicherung zu missbrauchen.
Schlussgedanken
Der spanische Philosophieprofessor und Schriftsteller Fernando Savater formulierte dies in einer philosophischen Abhandlung für Jugendliche folgendermaßen: „Man kann also sagen: Je glücklicher und fröhlicher sich jemand fühlt, umso weniger Lust hat er, böse zu sein. Ist es dann nicht vernünftig zu versuchen, das Glück der anderen mit allen Mitteln zu fördern, anstatt sie unglücklich und daher für das Böse anfällig zu machen?“ (In: Tu, was du willst. Ethik für Erwachsene von morgen.) Solche Sätze klingen gut, wirken aber angesichts der momentanen kollektiven Hassbereitschaft mit all dem völkischen Egoismus wie süße Aufkleber mit Glitter für Kleinmädchen-Poesiealben.
Gestern begegnete ich einer biestig guckenden Frau mit einem noch biestiger dreinschauenden Hund. Ihr Gesicht wirkte vergrämt und verhärtet. Da ich gerade diesen Artikel schrieb, musste ich auch an das Zitat von Savater denken. Einen Versuch wäre es wert, dachte ich, und lächelte sie und auch ihren Hund an und bekam ein breites Ganzgesichtslächeln zurück. Es scheint doch irgendwas dran zu sein.
Wenn es doch so einfach wäre.
———————————————————————————————————————————————–
- Jan Feddersen: „Möglichst viele Opfer, möglichst spektakulär“ in TAZ, 30./31. Juli 2016
- Margarete Mitscherlich: Müssen wir hassen? Über den Konflikt zwischen innerer und äußerer Realität
- Zitiert in: In Johanna Henkel-Waidhofer: „Hass ist eine Seuche“ in Kontext, 24.9.2016