Alles hat zwei Seiten – auch Nancy, die Hauptstadt des Département Meurthe-et-Moselle. Leider trügen Zuckerseiten mit bezaubernder Architektur allzu oft, so auch die von Nancy. Hinter der Vorzeigeseite steht natürlich die Frage, wie die Menschen in dieser Stadt zusammen leben konnten.
Im September besuchten meine Frau und ich Metz und Nancy in Lothringen. Metz vor allem wegen des Centre Pompidou. Warum uns Metz trotzdem mehr gefallen hat als Nancy ist ein anderes Kapitel. Statt Metz wurde uns Nancy von vielen Frankreichkennern empfohlen. Wir genossen die École de Nancy mit ihren Jugendstilexponaten sowie die Jugendstilarchitektur quer über die gesamte Stadt. Beeindruckend war der Impuls vieler Jugendstilkünstler, die Kunst um die die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert einer interessierten, aber weniger zahlungskräftigen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Immerhin: Schönes macht uns schön – lautete damals eine Devise.
Abgesehen davon, dieses angeblich so schöne Nancy bereitete uns Probleme. Der Grund war der unüberbrückbare Graben zwischen der touristischen Zuckerseite dieser Stadt und dem gänzlich anderen mittelalterlichen Bild. Wir denken an den Sinn einer Stadt, den Nietzsche (Also sprach Zarathustra) so beschrieb: “wo man nicht mehr lieben kann [und das meint er nicht nur im erotischen Sinn, sondern als Beziehung, Kommunikation und Nähe], da soll man vorübergehen“. Wenn man diesen Riss im Bild einer Stadt wahrnimmt, rufe man sich diese Maxime in Erinnerung: Eine Stadt ist zum Leben und Zusammenleben, nicht zum Anschauen.
Genau da lag unser Problem. Natürlich ist Nancy mit seiner Postkartenidylle schön. Aber eine Stadt ist erst dann schön, wenn sie ihr Ziel, das Zusammenleben ihrer Bürger erreicht. Zusammenleben ist immer wechselseitig. Es bedeutet Wohnen, also Raum gemeinsam gestalten, und mag er noch so armselig sein. An den Sinn von Traditionen glauben und sie eventuell anpassen. Lieben und geliebt werden. Trauern und Trösten … Wenn Wechselseitigkeit in der Stadt, in der man lebt, nicht möglich ist, ist die Stadtplanung schlecht, auch wenn sie optisch schön ist. Die mittelalterliche Stadt ist bei weitem nicht auf diesem Stand, aber sie versucht es. Gehen wir ins Detail!
1. Nancy, sein Place Stanislas und die untouristische Frage
In den prächtigen Bauten im barocken Stil, quadratisch mit einer Seitenlänge von gut 100 m, sind Cafés, Restaurants, ein Museum und teure Hotels untergebracht. Alle vier Seiten sind unterbrochen von wunderschönen schmiedeeisernen Pforten. An der Südflanke schließt sich eine ähnlich lange Allee an mit einem ebenso prächtigen Gebäude am Ende mit einem großzügigen Vorplatz. Militäraufzüge, bunt und beängstigend, waren sicher imposant. Allerdings war damals nicht davon auszugehen, dass die jungen Soldaten bei der nächsten Militärparade noch lebten.
Aus der Statistik weiß man, dass man steinalt werden konnte, wenn man 25 geworden ist. Aber das schafften die wenigsten. Der erste große
Killer waren Probleme im Kindbett, der zweite Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, der dritte die sehr häufigen Kriegszüge. Epidemien und Hungersnöte sind nicht eingerechnet. Das Durchschnittsalter lag unter 40. Und schon sieht die barocke Pracht von Nancy anders aus.
Sagen wir es deutlich: Diese Stadt macht uns Probleme, weil darin Menschen leben, Schutz brauchen und einen Raum, in dem sie mit anderen zusammenleben können.
Wer hat das eigentlich finanziert? Stanislaus war König von Polen. Weil Ludwig XV. die Tochter von Stanislas (Stanisław Bogusław Leszczyński, 1677-1766, exilierter König von Polen) geehelicht hat, bekam er Lothringen als sein Königtum geschenkt und schuf sich in Nancy (1752-55) ein königliches Denkmal, obwohl Lunéville seine Herrscherstadt war. Der Sonnenkönig lässt grüßen. Die architektonische Prachtleistung in Nancy hat Stanislas wie alle Könige im Barock durch Steuererhöhungen finanziert. Natürlich waren der König und seine Pracht Repräsentanten Gottes, wie man so schön sagte, aber es war eine Religion auf Kosten der einfachen Leute.
Diese Pracht haben wir vom Café aus genossen. Aber sie war längst nicht mehr so prächtig, sobald wir uns dieses Finanzierungsdilemma klarmachten, das ein paar Jahrzehnte später (Sturm auf die Bastille 1789) umkippte und zur Revolution führte.
2. Église et Couvent de Cordelières
(ausführlicher Name : église Saint-François-de-Cordelières)
Anders zeigte sich Nancys Altstadt mit dem Franziskanerinnerkloster. Leider wird in den Führern nicht erwähnt, dass dieses Kloster einem weiblichen Zweig des Ordens gehörte. Deren Spiritualität war das Kontrastprogramm zum Place Stanislas. Konvent und Kirche liegen neben dem Palast der lothringischen Herzöge. Wenn man so will: die Ordnung und ihr Nebeneinander von Macht und Mentalität stimmten. Stanislas war zwar offiziell auch ein lothringischer Herzog, seine Residenz war aber viel prächtiger und lag natürlich nicht im alten Nancy
Zur Geschichte und Vorgeschichte dieser Anlage:
Der Orden von Franz von Assisi und seiner Schwester Clara reagierte auf die Ketzergruppen der Waldenser und Albigenser (in Frankreich gegründete Bewegungen im 12. Jahrhundert). Sie brachten das religiös geprägte Mittelalter durcheinander. Aber deren Armutsideale faszinierten die geistliche Oberschicht, aber auch die arme Landbevölkerung. Die Franziskaner und Franziskanerinnen wollten diese Armutsideale in die mittelalterliche Gesellschaft und Religion integrieren. Auch in Nancy.
Als „Cordelières“ wurden sie bezeichnet, weil sie um den Bauch eine Kordel, das sogenannte Cingulum der Ordenstracht, trugen. Einige Jahrhunderte später hießen in der französischen Revolution die Jakobiner ebenfalls „Cordelières“. Wohl wegen der Verwandtschaft zu den mittelalterlichen Ketzer- bzw. Armutsidealen. Revolte und Rückgriff auf eine religiöse Tradition – passt das? Die Bezeichnung stammt aus dem Volksmund, und der kennt keine ideologischen Grenzen.
Natürlich konnten Konvent und Kirche, errichtet von 1477-87, nicht ohne die Spenden der einfachen Leute gebaut werden. Doch diese Spenden basierten auf Gegenseitigkeit, etwa auf Sozialarbeit der Nonnen auch für die Ärmsten der Armen und die, die man in der Stadt – meist wegen Arbeitslosigkeit – nicht innerhalb der Stadtmauern wohnen ließ, die man medizinisch versorgte oder betreute, wenn sie im Sterben lagen … Sicher hofften auch viele, dass ihre Spende dereinst die Himmelstür öffnen würde.
Dieses Nancy, jenseits der Postkartenidylle, war faszinierend. Wichtig war uns zu sehen, was diese Stadt mit ihren Menschen macht. Zuckerseiten, hier und anderswo, verschweigen leider zu viel.
Dank meiner Frau für die Reise, die Diskussionen und die Bilder!