Soziale Müdigkeit
Zwischen Menschenflucht und Misanthropie

Menschenflucht und soziale Müdigkeit sind die Ergebnisse eines sich dramatisch veränderten Zusammenlebens. Die Interaktion zwischen Mensch und Mensch wird immer aggressiver, gleichgültiger, oberflächlicher und damit unerträglicher. Eine Abrechnung mit – vielleicht – happy End.

Die müde Gesellschaft

Menschenmenge1 (Quelle Pixabay)
Menschenmenge1 (Quelle Pixabay)

Normalerweise perlen Artikel über Lifestyle-Themen – in welchen Medien auch immer – an mir ab wie an einer gut gefetteten Teflonpfanne. Es interessiert mich wenig bis gar nicht, was schlanker, gesunder, sexuell standfester oder sonst wie glücklicher macht. Doch aufmerksam wurde ich, als in verschiedenen Zeitungen etwa zeitgleich über den Erschöpfungszustand der Bevölkerung – hier zunächst der deutschen – berichtet wurde. Moment, auch mir geht es häufig so, mich müde, abgeschlagen und erschöpft zu fühlen ohne dafür Gründe benennen zu können. Mein Alter kann es allein nicht sein, denn in eher zufälligen Gesprächen, in denen es um dieses Phänomen ging, berichteten auch deutlich jüngere Mitmenschen darüber, am liebsten nur noch schlafen und in Ruhe gelassen werden zu wollen. Also doch ein Gesellschaftsproblem? Entsprechend alarmierend klingen Zeitungsüberschriften wie „Die Bevölkerung ist erschöpft“ (TAZ, KH), „Ständig müde, alles ist zu viel“ (Tagesspiegel, AA) oder „Aufwachen … Eine Suche nach Wegen aus der großen Erschöpfung (Die ZEIT, AP).

Geht es um die Hintergründe dieses Phänomens und ihre Beleuchtung durch die Wissenschaft, so landet man natürlich zunächst bei der Coronapandemie, die an allem schuld ist. Schönes Ablenkungsmanöver! „Die Coronapandemie hat bei allen Altersgruppen zu schweren Einschnitten des normalen Lebensrhythmus geführt. Viele Menschen haben das Gefühl, aus dem Tritt geraten zu sein, die Kontrolle verloren zu haben, sie sind erschöpft“ (KH), ist die Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Klaus Hurrelmann. Dabei geht er sogar soweit, eine Analogie zum Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung zu sehen (was diesem Störungsbild wenig dienlich ist.). Anstatt nach dieser Zeit endlich zur Ruhe zu kommen, „…stehen wir vor den nächsten Krisen: Klima, Krieg, Inflation, vielleicht auch noch eine Fluchtbewegung. Auch diese Krisen können von einem Individuum nicht mit eigenen Ressourcen bewältigt werden. Es ist die nächste Überforderung … Wir verstehen nicht mehr, was eigentlich los ist, weil es über die eigenen Kräfte hinausgeht. (KH).“

Dafür, dass jeder Zweite laut Umfrage erschöpft ist, sieht man auch im TAGESSPIEGEL (AA) zahlreiche Gründe: Arbeitsbelastung, die politische Situation, gesundheitliche Probleme, die digitalisierte Welt und in diesem Zusammenhang eine ständige Erreichbarkeit. Stephan Herpertz, Präsident des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin, wird mit dem Satz zitiert: „Zu gesellschaftlichem und individuellem Stress kommt es, wenn wir mit Herausforderungen konfrontiert werden, die wir nicht kennen oder gegen die wir keine Resilienz haben.“ Ohnmacht und Kontrollverlust haben sich auch durch den Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor zwei Jahren und die Angst vor einer europäischen Ausweitung bei vielen Menschen eingestellt, was zu einem kollektiven Einbruch des Wohlbefindens in Europa geführt hat. Man sieht, Kriegsführung geht auch ohne Waffen! Der Mangel an Lösungen, sowie nach Meinung vieler Wissenschaftler falsche Umgang mit diesen Themen seitens der Regierung, entfache Zukunftsängste, die jegliche Motivation ersticken lassen.

Florence Glaub, Politologin am Nato Defense College in Rom, beschreibt das gesellschaftliche Erschöpfungssyndrom folgendermaßen „Uns erschöpfen zwei Faktoren: erstens der Dauerkrisenmodus, ständig müssen neue Feuer ausgetreten werden. Und zweitens, dass gar keine Zukunft auf uns zu warten scheint, für die sich der Aufwand überhaupt lohnt. Das ist auch ein politisches Versagen, niemand denkt öffentlich über den Möglichkeitsraum Zukunft nach.“ (AP): Wenn dann Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) in seiner ihm eigenen Arroganz schwafelt, dass – damit Deutschland wieder wettbewerbsfähiger werde – die Menschen ihre Software, womit er die Einstellung zur Arbeit meint, ändern müssten, so hat er – wie zumeist – komplett den Kontakt zur Basis verloren. Vielleicht würden sich die arbeitende Bevölkerung mehr anstrengen, was er explizit fordert, wenn das Lebensumfeld und damit ist auch die politische Ebene gemeint, stimmen würden.

Die andere Erschöpfung: Soziale Müdigkeit

Menschenmenge 2 (Quelle Pixabay)
Menschenmenge 2 (Quelle Pixabay)

Viele dieser Motive einer allgemeinen Müdigkeit sind nachvollziehbar. In letzter Zeit sprach ich mit vielen Personen über die Thematik und bekam ähnliche Begründungen widergespiegelt, doch ein wesentlicher Aspekt schien mir zu fehlen. Ein Aspekt, der mich auch schon vor (!!) Corona beschäftigte: Die zwischenmenschliche oder soziale Müdigkeit. Es ist vielleicht ein Randthema, doch besagte Gespräche nebst Selbsterfahrungen bestätigten mich in meiner Annahme, dass in der zwischenmenschlichen Interaktion einiges hakt. Um es gelinde auszudrücken! Ich möchte dies mit eigenen Erfahrungen einleiten.

Eigene Erfahrungen mit der sozialen Müdigkeit

Es liegt schon einige Jahre zurück als mir eine zunächst harmlose Veränderung auffiel: Ich begann, Menschen zu meiden. Ich ging Gesprächen aus dem Weg, begann Telefonate zu verhindern und machte selbst bei Spaziergängen mit dem Hund einen großen Bogen um meine menschlichen Artgenossen. Inzwischen stoßen mich Leute auf der Straße, die mir telefonierend begegnen, einfach nur noch ab. Größere Menschenansammlungen lassen sich für mich nur noch bei Anti-AfD-Demos oder Rockkonzerten aushalten, da hier eher der Zweck der Zusammenkunft entscheidend ist: Die Rettung der Demokratie bzw. das Genießen von Musik. Unsere Urlaube wurden die letzten Jahre danach ausgerichtet, weitgehende Einsamkeit vorzufinden; Städte wurden für mich Orte, denen es zu entgehen galt. Manchmal erwische ich mich, eine nahezu angewiderte Einstellung gegenüber Menschen zu entwickeln, da mir ihr Getue, Gehabe oder Gequatsche entsetzlich auf den Geist geht. Es bildete sich mit der Zeit eine Grundaggression heraus, die sich in meinen Kommentaren auf sozialen Medien, aber auch in Artikeln widerfanden. Meine Menschenflucht hat nichts mit sozialen Ängsten zu tun; ich habe Talkshows moderiert, Vorträge vor vielen Hunderten von Zuhörern gehalten und gelte zumeist als humorvoller und unterhaltsamer Partygast. Zudem gehört es als Psychotherapeut zu meinem Handwerkszeug, mit Menschen ins Gespräch zu kommen.

Als ich in einer Unterhaltung auf provokative Weise äußerte, dass mir die meisten Menschen auf den Geist gehen, ging mein Gegenüber darauf mit der Frage ein: Und das als Psychologe? Meine Antwort darauf: Nicht „als“ Psychologe, sondern „weil“ ich Psychologe bin. In meinem Beruf (ich muss hinzufügen, dass ich fast ausschließlich mit weiblichen Jugendlichen arbeite) bin ich Tag für Tag mit den Auswüchsen einer verkommenen Gesellschaft konfrontiert. Viele meiner Patienten wurden krank aufgrund von Ausgrenzung, Mobbing, mangelnder Geborgenheit, lieblosen und mit sich selbst beschäftigten Eltern, Missbrauchserfahrungen, entmenschlichten sozialen Netzwerken oder den hilflosen Bemühungen, einer auf Leistung getrimmten Umgebung entsprechen zu können. Ich sah meine immer mehr Raum einnehmende Menschenmüdigkeit anfangs als Ergebnis einer beruflichen Überreiztheit. Vielleicht doch Zeichen eines Burnouts? Einer Depression? Doch trotz meiner Menschenflucht begegneten mir immer wieder Personen, die aus einer alltäglichen Unterhaltung heraus von ähnlichen Auffälligkeiten bei sich berichteten: „Mir gehen Menschen auf den Sack“, „ich finde Menschen einfach nur noch abstoßend“, „ich habe eine faszinierende Abneigung gegenüber Menschen (eine 15Jährige)“, „ich ertrage nur noch meinen Hund“ oder „70% der Menschen sind Arschlöcher“. So oder ähnlich äußerten sich Personen unterschiedlichen Alters über ihre Erfahrungen bezüglich Zwischenmenschlichkeit. Das meiste kann ich unterstreichen.

Menschenmenge (Quelle Pixabay)
Menschenmenge (Quelle Pixabay)

Wie so oft finden sich in der Jugendsprache Ausdrücke, die einen Sachverhalt sehr gut wiedergeben. So fällt in den Therapiestunden mit Jugendlichen häufig der Ausdruck social battery oder zu Deutsch: soziale Batterie oder sozialer Akku. Gemeint ist mit diesem Ausdruck die Kapazität einer Person für soziale Kontakte. Davon, dass der Mensch ein „Herdentier“ ist und ihm bzw. ihr soziale Kontakte ausschließlich gut tun, muss man sich wohl verabschieden. Die soziale Batterie zeigt: Irgendwann ist Schluss, dann brauchen wir Abstand von Menschen. „Bei dem Begriff der „Social Battery“ oder des „sozialen Akkus“ handelt es sich um eine Metapher, die beschreiben soll, dass soziale Kontakte einem Menschen Energie rauben können. Denn jede Person hat begrenzte Kapazitäten, mit Menschen Zeit zu verbringen und mit ihnen zu agieren. Wenn dieser Akku leer ist, können sich Menschen müde, abgeschlagen, gereizt und unglücklich fühlen. Dann kann es von Vorteil sein, sich aus den sozialen Interaktionen rauszuziehen und den Akku erst einmal wieder aufzuladen. (RW)“ Mir erscheint, mein Akku ist nicht nur leer, sondern müsste ausgetauscht werden.

Ursachenforschung

Es stellt sich natürlich die Frage: Was steckt hinter dieser Menschenmüdigkeit, die viel mehr sein kann, als nur eine leere Batterie? Machen wir uns auf Spurensuche. Ein Sprichwort, das auf einer Karte zu lesen ist, die sich auf unserer Gästetoilette befindet, lautet: Die Leute sagen immer: die Zeiten werden schlimmer; die Zeiten bleiben immer, die Leute werden schlimmer. (der Spruch soll an einem Balken im Hausgang in Regesdorf bei Zürich zu lesen sein). Schaue ich auf die bewusst erlebten Jahre meiner inzwischen fast 65 Lenze, so kann ich diesem Spruch beipflichten: Während die Zeit wie immer für die einen fließt, für die anderen verrinnt, hat sich die Idiotisierung der Menschheit verdramatisiert. Das, was sich möglicherweise herablassend im Sinne von „alles Idioten, außer mir“ anhört, ist das Ergebnis von mehr als frustranen Erlebnissen mit der Spezies Mensch, die ich persönlich nicht als die Krönung der Schöpfung bezeichnen würde. Zudem muss ich gestehen,  diese Idiotie an der einen oder anderen Stelle selbst zu unterstützen. In einem Graffiti, das ich neulich in den sozialen Medien sah, heißt es: „Ich will aus der Menschheit austreten!“ Der Weg ist geebnet – Ich bin dabei! Oder vielleicht schon raus?

Will man verstehen, warum ein Mensch sozial müde wird und der Menschheit den Rücken kehrt bzw. es am liebst täte, so muss man die Ursachen sortieren. Denn in der Regel handelt es sich um ein Wahrnehmungs- und daraus resultierendes Gefühlschaos. Es sind drei Stränge zu nennen:

  1. Die sichtbaren und damit offensichtlichen Hintergründe in Gesellschaft und Politik
  2. Die eher verdeckten Prozesse
  3. Die in unmittelbarer Umgebung stattfindenden Vorgänge

Zu 1)

Der Blick in die Tagesschau oder wahlweise Tages-/Wochenzeitung reicht, um in den Wahnsinn getrieben zu werden und sich die entsetzte Frage zu stellen: Wie grässlich kann die Menschheit sein? Ein kleiner und wahlloser Rundumschlag aus ca. zwei Wochen:

  • Bestialischer Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine
  • Terrorangriff der Hamas auf Israel, maximal brutale, zum Teil mit Vergewaltigung einhergehende Geiselnahme und die brutale Antwort Israels ohne Rücksicht auf das Leben palästinensischer Menschen. (By the way: Mir gehen auch Religionen und das damit zusammenhängende oft scheinheilige Getue immer mehr auf den Geist.)
  • Bahnbrechende Wahlsieg der faschistischen, nationalpatriotischen AfD in weiten Bereichen Deutschlands
  • Finanzierung von AfD-Politikern durch China und Russland – also durch maximal autokratische, menschenverachtende Systeme
  • Das Friedensgutachten ergab: 2023 gab es mehr Gewaltkonflikte als je zuvor.
  • Großrazzia wegen Kindesmissbrauch in Hessen
  • Politiker verschiedener Parteien werden körperlich attackiert.
  • Die Radikalisierung von islamischen Menschen nimmt zu.
  • Remigrationspläne der AfD und anderer rechtsnationaler Kräfte
  • Die Zahl der Opfer durch häusliche Gewalt ist gestiegen.
  • Antisemitismus wird in Deutschland zunehmend salonfähig.
  • In Mannheim wird ein Polizist getötet.
  • Versnobte Strammdeutsche finden es chic, nach der Melodie eines Schlagers „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ zu grölen.
  • Zunahme von volksverhetzenden Inhalten und Propagandadelikten wie das Verwenden von Hakenkreuzen oder anderer NS-Symbolik in den sozialen Netzwerken.
  • Ich lese von einem Streit, bei dem der Angreifer das Opfer mehrmals ins Gesicht getreten hat. (War das früher selbst bei Schlägereien nicht ein Tabu?)

Es ist natürlich nur ein kleiner Auszug, doch es sind hässliche Prozesse, an die wir uns zu gewöhnen haben, die uns jeden Abend in der Tagesschau oder sonst wo um die Ohren oder Augen gehauen werden. Der Gewöhnungsprozess hat bei vielen bereits eingesetzt. Bei anderen, so bei mir, ein anhaltendes, krankmachendes Entsetzen ausgelöst. Ich will mich nicht an all die menschlichen Entsetzlichkeiten gewöhnen!

Exkurs: Installation und Film „Die Krönung der Schöpfung“

2016 erstellten meine Frau und ich eine Installation in einem leerstehenden, ehemaligen Schlecker-Laden, der uns für Kulturzwecke zur Verfügung stand. Über etwa 100m verliefen in Collagenform Ausschnitte aus Zeitungen oder Illustrierten, auf denen Szenen abgebildeten waren, die allesamt die Dramaturgie einer Spezies (so der Untertitel), nämlich der menschlichen Spezies darstellten. Darauf hatten wir mit weißer Farbe Begriffe geschmiert, die ebensolche Widerlichkeiten der menschlichen Interaktion benannten: Amoklauf, Machtmissbrauch, Polizeigewalt, Massenmord, Arbeitslager, Vergewaltigung, Ausbeutung, Rassismus, Menschenrechtsverletzung, Attentat, Nationalsozialismus, Islamistische Gewalt usw. Die Reihenfolge war willkürlich. In dem späteren Video hört man einen Text, in dem die emotionalen oder kognitiven Möglichkeiten und Fähigkeiten des Menschen beschrieben werden, die aber diametral zu den Aussagen der Bilder und Begriffe stehen. Der Mensch wäre zu Großem in der Lage (und hat dies ja auch immer wieder beweisen können), doch er – sie auch – mutiert immer mehr zu einer Bestie, die den Titel „Krönung“ in keinster Weise verdient. Den Film dazu kann man unter Krönung der Schöpfung – YouTube anschauen.

Zu 2)

Menschengruppe (Foto Arnold Illhardt)
Menschengruppe (Foto Arnold Illhardt)

Wir alle haben Gesichter von politischen „Größen“ abgespeichert, die als destruktive Machthaber, emotionslose Hulks oder „infantile Größenwahnsinnige“ (Noam Chomsky über Trump) auftreten, wobei – auch wenn ich Ferndiagnosen ablehne – jeder und jede eine Reihe von fiesen Persönlichkeitsstörungen in sich vereint. Dieses Phänomen würde zwar zu 1) gehören, doch ist meines Erachtens ein ganz anderer Aspekt viel maßgeblicher. Man könnte diese Gestalten – und davon gibt es ja auch in Deutschland viele – unter seelenlose, machtgeile Idioten abspeichern, allerdings erscheint es mir viel schlimmer, dass es unzählige gesichtslose Speichellecker dieser entemotionalisierten Figuren gibt. Nicht Putin allein ist unerträglich, sondern dass Millionen sein menschenverachtendes Verhaltens gut finden, nicht Trump ist ein blasiert-dummes Quarkhirn, sondern all die Personen, die ihn verehren und es sogar für ehrenvoll halten, wenn seine Rumhurerei vor dem Gericht endet und seine Kommentare die inhaltliche Fülle einer in der Sonne brutzelnden Nacktschnecke wiedergeben. Dass aktuell in Deutschland so viele AfD gewählt haben, eine Partei, die die Demokratie nebst offener Gesellschaft abschaffen will, um auch in Deutschland eine Diktatur einzuführen, ist kein Zeichen von Protestwahl, sondern von einer gewollten Entscheidung für einen faschistisch orientierten, autoritativen Staat, in dem nur wenige bestimmen, was ALLE zu befolgen haben (also das, was ständig als Bevormundung kritisiert wird). Und warum dackeln so viele Menschen bar jeglicher eigener Reflexion in den Krieg, nur weil maximal kranke Machthaber dies befehlen und obendrein angezettelt haben? Muss man das verstehen und akzeptieren?

Doch geht es nicht nur um Politik, um all den Raubtierkapitaltismus, um den digitalen Faschismus, um eine Kultur, die Tabus zerstört, um eine enthemmte Gesellschaft oder um eine Militarisierung der Straße (was auch verkehrstechnisch der Fall ist), sondern es geht auch darum, dass es immer mehr Menschen scheißegal ist, was mit der Umwelt, mit dem Tierwohl, der Artenvielfalt oder einer Kultur des gegenseitigen Wertschätzung passiert. Noam Chomsky, einer der wichtigsten und wie ich finde letzten Denker der Gegenwart, beschrieb es so: „Man hat den Eindruck, dass die Menschen verdummen und sich immer weiter dem Abgrund nähern, während sie im Dunst der Globalisierung und des Kapitalismus ihren selbstzerstörerischen Tätigkeiten nachgehen.“

In dem Buch „Ruin des Zusammen-lebens“ (FJI) meines hoch geschätzten Bruders Franz Josef Illhardt geht es um Corona und die Erneuerung der Gesellschaft. Hier findet sich der Satz: „Zusammen-leben (die Trennung ist gewollt) ist nur möglich, wenn man auf die Lebensbedingungen des Anderen achtgibt.“ Zudem zitiert er die Grundprinzipien, die nach Immanuel Kant die Menschenwürde (für die jungen Menschen: Das war früher mal wichtig) ausmachen:

  • Achtung vor dem Anderen,
  • Anerkennung seines Rechts zu existieren und
  • Anerkenntnis einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen.

Wird es still, so hört man nur noch ein weißes Rauschen; Achtung, Anerkennung oder Anerkenntnis scheinen Relikte aus einer vergangenen Zeit zu sein. Den Slogan „Machen, was zählt“ auf einem Wahlplakat der GRÜNEN ergänzte jemand mit dem Zusatz „Für sich selbst“ per Eddingstift. Die Schmiererei steht meines Erachtens stellvertretend für den aktuellen Gesellschaftsgedanken: Egoismus zuerst, der Rest ist egal. Ist das die neue Maxime der Jetztzeit?

Menschenmenge (Foto Arnold Illhardt)
Menschenmenge (Foto Arnold Illhardt)

Vor gut 15 Jahren haben wir das Fernsehen abgeschafft und leben außer dem gelegentlichen Einschalten der Tagesschau auf dem Handy „TV-frei“. Es ist ein Labsal, auf den visuellen Schrott verzichten zu können. Die Entscheidung dazu war eine Reaktion auf den dort betriebenen Verblödungsmodus und einer unerträglichen Darstellung von „Eliten mit geistigem und charakterlichem Mittelmaß“ (Bernhard Bueb). So fällt eine Quelle des galoppierenden Schwachsinns weg, doch was ist mit den sozialen Medien, von denen ich mich nur schwer trennen kann (was ja von den Betreibern genauso gewünscht ist)? Mehr asoziales und denkfreies Gebolze ist kaum zu überbieten. Man hat das Gefühl, dort sitzen tagein, tagaus gelangweilte Menschen im schalen Licht ihres PCs, um ihren Hass in die Welt zu rotzen.

Zu 3)Muss ich das aushalten? Muss ich mich daran gewöhnen? Muss ich das tolerieren oder schlimmer: akzeptieren? Wo ist der Notausgang aus einer Gesellschaft, mit der ich mich nicht mehr identifizieren kann?

Handelt es sich bei 1) und 2) eher um Prozesse, die die allgemeine Gesellschaft und hier Bereiche der Politik, der Wirtschaft oder des generellen Zusammenlebens betreffen, so geht es in 3) um die ganz privaten Erfahrungen im Alltag. Es reicht, eine halbe Stunde in den sozialen Medien unterwegs zu sein oder auf einer Straße von A nach Z zu fahren, um allgegenwärtig Zeichen einer „defekten Gesellschaft (FJI)“ festzustellen. All die Heizer, Hetzer und aggressionsgelenkten Zeitgenossen sind jeden Tag eine nicht hinnehmbare Herausforderung. Ich fahre inzwischen auf meinem Arbeitsweg eine etwas längere Strecke, da dort die Wahrscheinlichkeit, auf maximal wenig Menschen zu treffen am größten ist. Reden wir von DEM Menschen oder DER Gesellschaft, so bleiben die Gesichter dahinter anonym. Man redet über ein Phänomen, nicht über Individuen. Doch bei den persönlichen Kontakten ist es ein Vis-a-vis. Nachbarn mit dem Blick eines nicht gefütterten Kampfhundes, im Dauermodus rumnörgelnde Kollegen*innen oder Zufallsbegegnungen mit Menschen im Supermarkt, deren Physiognomie wegweisend ist – nämlich mit Drang zum Ausgang. Enttäuschung und Desillusionierung gehen im Kontakt mit ihnen Hand in Hand. All dieser aufgestaute Frust, intrigierendes Verhalten oder rechthaberisches Gebaren zerrt an den Geduldsnerven. Ich bin dringend für die Wiedereinführung von Telefonzellen, da all das öffentlich und allgegenwärtige ausgetragene Gequatsche und Geplapper an den Smartphones mehr als nur eine beiläufige Begegnung ist: Es quält mich zunehmend  – ich will ihren Stumpfsinn nicht hören! Als Dreiviertelveganer (ich esse noch Käse) ist es für mich immer mehr unverständlich bis verstörend, mit welcher Gleichgültigkeit vermeintlich intelligente Menschen aus meinem Umfeld selbst billigstes Fleisch konsumieren, obschon die mediale Flutung auch bei ihnen ein gewisses Wissen über die katastrophale Tierqual in der Tötungsmaschinerie der Fleischindustrie angekommen sein müsste. Oder dass selbst einfachste Vorgänge eines aktiven Umweltschutzes mit Füßen getreten werden. Allgegenwertig sind Menschen, mit einer zur Arroganz aufgeblasenen Dummheit, die sich aus lauter Ich-habe-mal-gehört-Wissen speist; eine lärmende Expertengesellschaft, die leere Denkhülsen einem Erfahrungswissen vorzieht.

Wie ich bereits weiter oben beschrieben habe, ist die Tatsache, als Psychologe und Psychotherapeut mit den Auswüchsen einer verkorksten Gesellschaft Tag für Tag konfrontiert zu werden, Grund dafür, dass die eigentlich verdeckten oder allgemeinen Aspekte (1 und 2) mehr und mehr zu persönlichen Erfahrungen werden. Die kranke Gesellschaft sitzt ständig in Form ihres Nachwuchses vor meiner Tür und bedarf einer Therapie und das bedeutet häufig auch – einer gesellschaftstauglichen Grunderneuerung.

Was tun?

friends-Menschenmenge3 (Quelle Pixabay)
Menschenmenge3 (Quelle Pixabay)

All die hier angesprochenen Aspekte – und sie entbehren natürlich jeglicher Vollständigkeit – können dazu führen, eine soziale Müdigkeit zu entwickeln. Man hat keine Lust mehr auf Menschen, geht ihnen aus dem Weg, fühlt sich in ihrer Gesellschaft nicht mehr wohl und neigt immer mehr dazu, Rückzugstendenzen einzuschlagen. Warum zum Teufel müssen schon morgens vor 7 laut plappernde Frührentnerinnen mit ihren Walkingstöcken meine Hunderunde zerkratzen? Oft muss ich an eine Darstellung aus der alten Kunst denken, auf der ein griesgrämig dreinblickender Mann dargestellt ist: Der Misanthrop. Bin ich zu einem solchen Misanthropen geworden? Oder doch nur ein Menschenflüchter? Ist mein Problem mit den Menschen temporär oder bereits als Dauerspur eingebrannt?

Wikipedia beschreibt Misanthropie als „… eine Geisteshaltung, die sich durch eine Abneigung gegenüber der Menschheit auszeichnet. Es handelt sich dabei nicht um eine Handlungsweise, sondern um eine Einstellung. Ein Misanthrop muss nicht gewalttätig, aggressiv oder arrogant sein, und altruistisches Handeln ist bei ihm nicht ausgeschlossen. Der Begriff Misanthrop stammt aus dem Griechischen und bedeutet „hassen“ oder „ablehnen“. Das Gegenteil eines Misanthropen ist ein Philanthrop, der die Menschen liebt.“

Schnell werden hier die Regler der Psychopathologie gezogen, nach denen ein derart negatives Menschenbild dauerhaft in die Isolation führt. Auch bei der Depression sind menschenabweisende Prozesse und Rückzug mehr als bekannt und daher weit verbreitet. Meine Beobachtungen weichen allerdings von einem psychopathologischen Denken ab, denn hier geht es nicht um einzelne Phänomene der Menschenverdrossenheit, sondern darum, dass es eine mehr und mehr gesellschaftlich verbreitete Erscheinung zu sein scheint. Beziehe ich die Ausführungen auf mich, so gibt es durchaus Momente, in denen ich mich unter Menschen pudelwohl fühle, in denen ich viel Energie aus Begegnungen tanke oder gar beglückende Gefühle (sogar Flow-Erlebnisse) entwickle. Bin ich doch noch zu retten und was ist in solchen positiven Momenten anders?

Diese Überlegungen bringen mich zu dem Konzept einer privaten Miniaturgemeinschaft, dass auch mich davor rettet, mit der Wahrnehmung der Gesellschaft bankrott zu gehen und als Auswanderer und/oder Eremit zu enden (Zugegeben: Ich denke oft daran!). In einer solchen Miniaturgemeinschaft liegen all die Bedingungen vor, die für mich ein glückliches Dasein auch unter Menschen bedeuten. In dieser Kleinstgesellschaft, bestehend aus meiner Frau, meiner Familie, engen Freunden, netten Kollegen/Kolleginnen, Nachbarn und bewusst ausgewählten neuen Personen, kann ich meine Erwartungen von einer offenen Gesellschaft, einer Gleichberechtigung und einem libertärem Denken, sowie seiner Umsetzung verwirklichen. Das bedeutet aber auch, mich von unliebsamen Zeitgenossen zu trennen, sie aus meinem Leben zu werfen. Ich muss keine toxischen Kontakte aushalten! Es ist somit der Gegenentwurf einer enthemmten, (dennoch) autoritätshörigen Gesellschaft. Immer mehr dieser Minigesellschaften können sich verknüpfen und untereinander austauschen und sich gegenseitig befruchten. Somit ist das Konzept einer Miniaturwelt keine erneute Spaltung, sondern ein menschlicher Separatismus mit Herz.

Abseits (Quelle Pixabay)
Abseits (Quelle Pixabay)

Eine Jugendliche, mit der ich im Rahmen einer klinischen Psychotherapie ein Abschlussgespräch führte, erzählte mir, am liebsten in der Klinik bleiben zu wollen. Als ich sie nach den Gründen fragte, antwortete sie, dass die Bedingungen menschlicher seien als zu Hause. Es sei überall ein Klima der Wertschätzung, Achtung, Anerkennung und Gleichheit zu spüren. Wir Therapeuten seien keine gefühlskalten Erwachsenen, sondern umsichtige Menschen, die ein anderes Zusammenleben lebten. Solche „Übungsgemeinschaften“ sollte es mehr geben, denn auch dieses Mädchen gab an, ihre Erfahrungen zuhause weiterleben zu wollen.

Ein menschliches und respektvolles Zusammenleben klingt nach einer Utopie, doch je mehr ich darüber nachdenke, gibt es dank dieser Miniaturwelten kleine Realisationen. Die Hoffnung stirbt oft zuletzt, wenn nicht – ist es gesellschaftlich irgendwann zappenduster. Und dann … Gnade Mensch!

 Quellen:

 AA – Alice Ahlers: Ständig müde, alles ist zu viel: Die Stressfaktoren unserer Zeit (tagesspiegel.de)

AP – Anant Agarwala und Maximilian Probst. DIE ZEIT No. 8, 15. Febraur 2024

FJI – Franz Josef Illhardt: Ruin des Zusammen-lebens. Verlag Karl Alber, Baden-Baden 2023

KH – Interview mit Klaus Hurrelmann, Forscher über Zustand der Gesellschaft: „Die Bevölkerung ist erschöpft“ – taz.de

NCNoam Chomsky im Gespräch mit EEmran Feroz: Kampf oder Untergang! Westend- Verlag, Frankfrut/M. 2018

RWRelana Waldner. Social Battery: So vermeidest du einen leeren „sozialen Akku“ – Utopia.de