Dunkelheit
Holen wir sie uns zurück

Dunkelheit (Foto Arnold Illhardt)
Dunkelheit (Foto Arnold Illhardt)

Punkt halb Zehn erloschen die beiden einzigen Straßenlaternen in dem kleinen Tal im Burgund. Wir hatten am Ende des Tals eine kleine Ferienwohnung auf einem ehemaligen Hof gemietet und genossen für eine Woche die Abgeschiedenheit, ja fast schon Einsamkeit in dem ursprünglichen Landstrich Morvan. Da die Straße kurz hinter unserem Haus endete, durchbrachen nur äußerst selten Autos die Stille dieser Gegend. Als ich am ersten Abend um die Zeit die letzte Runde mit dem Hund antrat und die Laternen um mich herum plötzlich ausgingen, wurde es auf einen Schlag stockfinster. Von jetzt auf gleich lag die komplette Landschaft in einer Finsternis, wie ich sie lange nicht mehr erlebt habe. Tatsächlich sah man die eigene Hand vor Augen nicht mehr und die Füße mussten ertasten, ob ich mich noch auf der asphaltierten Straße befand, oder schon auf dem begrasten Seitenstreifen lief. Ich war fasziniert von dieser Schwärze der Nacht. Stockfinster … das kam von der Dunkelheit der früheren Gefängniszellen, die aufgrund der Ankettung der Gefangenen an Holzblöcke auch Stock genannt wurden. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass sich dunkle Wände um mich herum befanden. Ich wusste, dass etwa 100m weiter ein altes Haus stand, dass sich in Sichtweite ein bewaldeter Berg auftat und dass es an der Weggabelung diesen völlig bemoosten Baum gab, aber nichts davon, nicht einmal schemenhaft konnte ich erkennen. Während sich mein Hund gut auf seine Nase verlassen konnte (ihn schien dieses Naturereignis nicht zu stören), war es für mich eine spannende Herausforderung. Anfangs knipste ich noch, wenn es besonders schwierig war, meine Taschenlampe an, doch später erschien es mir als unpassend und störend. Auch wenn ich bereits unter normalen Bedingungen die nächtlichen Spaziergänge mit dem Hund überaus genieße, so wurden diese nächtlichen Ausflüge in den Tagen im Burgund zu einem Abenteuer der Sinne. Nur langsam stellten sich meine Augen um. Ein allmählicher Lern- und Erfahrungsprozess. Ganz oft blieb ich stehen, manchmal an eine Steinmauer gelehnt und lauschte in die Nacht. Ferne Vogelstimmen, das Rauschen der Bäche, die sich durch die Wiesen schlängelten, das war´s. Dunkelheit und Stille: Ein betörendes Phänomen.

Ortswechsel. Ich hatte meiner damaligen Freundin versprochen, mit ihr nach Paris zu fahren. Relativ spontan brachen wir am späten Nachmittag auf und erreichten die Seinemetropole mitten in der Nacht. Da es noch keine Navis gab und meine Begleiterin das Kartenlesen nicht sonderlich gut beherrschte, kamen wir kurz vor Paris von der Hauptstraße ab und ich fuhr mit meinem alten R4 über eine Nebenstraße. Es war etwas bergig und als ich die Anhöhe erreicht hatte, konnten wir von jetzt auf gleich über ganz Paris schauen. Schon von weitem war uns der erleuchtete Himmel aufgefallen, als würde er von unzähligen Scheinwerfern angestrahlt. Der Eifelturm blendete förmlich in einem Lichtermeer. Alle vermeintlich wichtigen Gebäude waren in Licht gehüllt und durch die Straßen zogen sich endlose weiße und rote Lichterschlangen der Autos. In einer Weltstadt gab es wohl keine Nacht. Es war wie in einem gigantischen Fußballstadion, in dem das Licht angelassen worden war. Oder vielleicht war es die allnächtliche Festbeleuchtung für eine Weltstadt, in der der Tag niemals endet. Niemals endet. Niemals. Erst heute wird mir die schauderhafte Bedeutung bewusst: Es ist nie wirklich dunkel.

Und noch ein Orts-, oder besser Zeitwechsel. Ich war noch Jugendlicher, als wir uns an bestimmten Tagen der Woche in einem Keller eines Gemeindehauses trafen. Teestube nannte sich der Treff. Man saß auf Kissen an niedrigen Tischen, die aus alten Obstkisten bestanden und gerade Platz für die Teetassen, einen Aschenbecher und eine vor sich hin tropfende Kerze boten. Man saß im Schneidersitz. Im Hintergrund leise Rockmusik, manchmal Genesis, manchmal King Crimson, manchmal auch Cat Stevens. Es herrschte nicht dieser entsetzliche Lärm, der heute in vielen Kneipen anzutreffen ist, in denen nicht gesprochen, sondern überschrieen wird, um sich Gehör zu verschaffen. Hier redete meist nur eine Person, während der Rest zuhörte und nur dann und wann in die Diskussion einstieg. Es ging um Gott und die Welt. Vor allem darum, die verdammte Welt da draußen zu verbessern, was beim Geschmack von Jasmintee und im dichten Nebel des Zigarettenrauchs gute Aussichten zu haben schien. Wir liebten die Dunkelheit des Raumes, in dem sich meisten etwas zehn bis fünfzehn Personen befanden. Dunkelheit hieß, man konnte sich auf das Wesentliche konzentrieren, man wurde nicht durch störende Lichter abgelenkt. Rockmusik störte nie! Aber wir brauchten die Dunkelheit auch, denn unsere Überlegungen waren noch unausgegoren und noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Diskutieren als Jugendliche hieß auch, sich auszuprobieren, bestimmte Ansichten zu entwickeln und zum Beispiel politische Einstellungen aushalten zu können. Da konnte das Helle, das Flirren und Flackern des Tages eher ablenken und stören. Viele Gedanken waren für die Allgemeinheit nicht gedacht, hatten vielleicht auch etwas Aufrührerisches und Verbotenes, auch wenn sie nie bis selten in die Tat umgesetzt wurden.

Dunkelheit 2 (Foto Arnold Illhardt)
Dunkelheit 2 (Foto Arnold Illhardt)

Erneuter Zeitwechsel: Jetztzeit – außerhalb eines Tals im Burgund. Alltag. Jeder Tag! Und: Immer Tag! Wir leben in einer Epoche der Atemlosigkeit, der Schnelligkeit, der Jederzeit-Erreichbarkeit, der Überflutung von Reizen, der nicht abreißenden Beleuchtungen in jedem Winkel des Lebens, der sekündlichen Konfrontation mit Meldungen und Nachrichten, der Endlosschleife der Fahrstuhlbeschallung. Egal ob Sozialwohnung oder Bonzenpalast … schaut man nächtens in die Fenster, so scheinen die Menschen nur eines zu tun: Mit paralysiertem Blick auf ihre überdimensionalisierten Fernsehschirme zu starren. Bei vielen flimmert noch nebenbei das Display des Smartphones. Immer auf Bereitschaft gestellt. Immer Kontakt mit der Welt. Die Allzeit-Bereit-Dauerschaltung. Anstatt des klickenden Sekundenschalters auf der klassischen Armbanduhr ist die Wahrnehmung mit Google verschaltet, um jeden Furz der immer wachen Monstergesellschaft zu melden. Big Brother is watching you all the time und eine gigantische Industrie hat ein gewaltiges Interesse daran, uns zu beschäftigen, uns wachzuhalten, damit wir konsumieren und unsere Daten abgefischt werden können. Wie Untote aus einem Zombiefilm laufen junge, aber auch immer mehr alte Menschen mit scheinbar nie ausgeschalteten Smartphones durch die Gegend, immer von der Angst gepeinigt, etwas zu verpassen, nicht mehr dazuzugehören. Da bekommt die Spruchweisheit „Kein größerer Dieb als der Schlaf, er raubt uns das halbe Leben“ eine ganz neue Bedeutung. Fraglich nur, ob wir das Leben noch selber leben, oder schon längst gelebt werden. Wir haben zwar schon vor langer Zeit das Fernsehen abgeschafft, aber auch wir erwischten uns, wie unsere Aufmerksamkeit von Kurzvideos auf dem Niveau von Frühdebilen vom Eigentlichen weggelenkt wurde, um nach einiger, viel zu langer Zeit zu merken: Auf den Leim gegangen. Reingefallen auf den galoppierenden Schwachsinn der Verblödungsindustrie. Noch neulich habe ich die facebook-App vom Handy verbannt: Welch´ ein Segen, welcher Zeitgewinn!

Bald kommen wieder die warmen Sommerabende, an denen meine Frau und ich an unserem Fluss sitzen, der – welch´ Lebensglück – hinter unserem Haus fließt. In der Nacht ändern sich die Geräusche. Tiere, die man über Tag nicht zu Gesicht bekommt, tauchen plötzlich auf, rascheln durchs Gebüsch, glucksen am Ufer. Eine Öllampe gibt einen schwachen Lichtschein und vielleicht spiegelt sich der Mond in der kräuselnden Wasseroberfläche, nachdem gegenüber die Laternen erloschen sind. Und manchmal atmen wir tief aus, als würde all die Bürde der Tageskakophonie von uns abfallen. „Wir schauen in die Dunkelheit und plötzlich entstehen Bilder, Ideen, Themen. Eine Zeit, voller Stille und Tiefe, eine Zeit, in der unsere Köpfe leuchten, Gedanken, die durch ihre Farben das Dunkle zum Singen bringen (1).“ Wie oft haben wir schon die Welt verändert oder innere Revolutionen entfacht. Es ist, als würde die Dunkelheit die gebührende Verpackung dazu liefern, während das gleißende Licht einer unechten Welt wie billige Plastikfolie daherkommt.

Vor ein paar Jahren habe ich ein Gedicht dazu geschrieben, das sich zudem als Installation in einer ehemaligen Telefonzelle befand. Ich wurde viel darauf angesprochen und nach dem Sinn gefragt. So auch eine junge Patientin von mir, die die Sätze im Internet entdeckt hatte. Ich erklärte ihr die Bedeutung des Gedichts. Beim nächsten Termin brachte sie mir ein selbst gemaltes Bild mit, in dem sie Licht und Dunkelheit als Ying und Yang gemalt und darauf einen Teil des Gedichts geschrieben hatte. Helligkeit und Dunkelheit, so ihre Ausführung, seien zwar Gegensätze, aber das eine gäbe es nicht ohne das andere. Sie hatte den Sinn verstanden: Beides ist existenziell.

Dunkelheit – Gedicht (Arnold Illhardt)

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(1) Aus meinem Gedicht“ Nachts am Fluss“ FARASAN – Gemeinschaft für hedonische Lebensweise – Lyrik (farasan-telgte.de)

(2) Ebenfalls FARASAN – Gemeinschaft für hedonische Lebensweise – Lyrik (farasan-telgte.de)