Narration ist Geschichten-erzählen. Immer deutlicher wird die Bedeutung eines Narrativs für den Menschen, sogar das Gehirn, nicht nur unsere Kultur, funktionieren narrativ. Forscher von Kognition und Sprache, Psychologen, Ethnologen belegen die Bedeutung der Narration. Geschichten umgeben uns überall, prägen unser Zusammenleben.
Warum dieses Thema „Narrativ“? Wenn man es ins Deutsche übersetzt und nicht mehr nur als Fachausdruck benutzt, ist es schlicht und einfach: Geschichten erzählen. Seien wir ehrlich: Erzählen ist runtergekommen. Es gibt das Wort noch als Smalltalk, Unterhaltung, Gespräch, Geschwätz, Döneken, Klatsch, unverbindliches Gerede, Plauderei, Konversation, Bullshit, Chat usw. Was davon ist ernst, orientiert und klärt?
Ich habe das Thema: Narrativ, Narration und Narratologie selten gehört. Wohl hin und wieder in Soziologie und Ethnologie, dann aber auch in einem Handbuch für Philologie, also Sprachwissenschaften. Elektrisiert hat mich die Philosophie mit Buch des französischen Philosophen Paul Ricoeur, der unterstreicht, dass nicht nur ein paar Merkmale des Narrativen wichtig sind. Menschen erlangen nur dann Identität, wenn sie Geschichten erzählen können.
Imponiert hat mir der ebenfalls französische – sind die Franzosen besonders interessiert an Narrativen? – Philosoph Michel Foucault. Er findet in allen Schriften sehr wichtig, dass seine Theorien vom (Gottseidank theoriefernen) Leben geprägt werden. Ere erzählt von seinen Lebenserfahrungen. Und eine „Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert herauskommt“, schrieb er. Erfahrungen müssen erzählt werden, damit sie gleichsam gespeichert und im Verlauf des Lebens korrigiert werden können. Wenn das nicht geschieht, wird Leben langweilig.
Als ich einmal auf der Spur des Narrativs war. entdeckte ich sehr viele Philosophen, die Narration sehr wichtig fanden. Narration ist mehr als Smalltalk & Co, weil es für das Leben wichtig ist. Nicht die Umstände dirigieren das Leben, sondern wir selber sind die Dirigenten. Auch in dem Roman von Sten Nadolny (Selim oder Die Gabe der Rede) lernt man: Ich erzähle, also bin ich. Erzählen prägt Existenz – oder andersherum: Wer nicht erzählt, geht am Dasein vorbei.
Der deutsch-amerikanische Kognitionsforscher Fritz Breithaupt (University of Bloomington, USA) erzählte eine Geschichte von seiner Tochter. Sie kam aus der Schule zurück und machte einen sehr belasteten Eindruck. Er sprach mit dem Mädchen. Es ging ihm nicht um irgendeine Form von Therapie, nur um ein Narrativ / eine Geschichte, die Leben gestaltet. Situationen verstehen hilft weniger mit Theorie, besser mit Geschichten, an denen man arbeiten kann bzw. muss.
Das Mädchen (wohl ca. 12 / 13) kam deprimiert aus der Schule. Der Vater sah das sofort, aber wusste natürlich nicht, was geschehen war. Das Mädchen reagierte zunächst mit dem berühmten „nichts ist passiert“. Der Vater war damit nicht zufrieden, und sie erzählte: Bei einer Klassenarbeit hat ihre beste Freundin, die neben ihr saß, abgeschrieben. Die Lehrerin fragte, als sie die Arbeit zurückgab, wer von beiden abgeschrieben habe. Ihre Freundin belog die Lehrerin: Ihre Banknachbarin habe abgeschrieben. Das Mädchen hat dieser Lüge nicht widersprochen, weil sie ihrer Freundin instinktiv helfen wollte. Aber nachher war sie wütend und fragte sich, ob sie nicht einen großen Fehler gemacht hat und ihre Freundschaft aufs Spiel gesetzt hat. Hat die Freundin mit ihrer Lüge die Beziehung kaputt gemacht oder sie mit ihrer Feigheit, die Lüge nicht sofort aufzudecken? Darum das bedrückte Verhalten des Mädchens.
Die beiden sprachen über die Bedeutung und die Grenzen einer Freundschaft und nicht über Moral. Man beachte die Reihenfolge: Erst Verstehen, dann die Moral. Geschichten prägen unser Leben, unterdrückte Geschichten ruinieren unser Leben. Wieso prägen? Eine Geschichte wie diese machte das Mädchen zu einem Ich-selbst. Sie war nicht mehr Spielball der Umstände, sie „lebte“ und „wurde nicht gelebt“.
Wie kann man ein Narrativ verstehen? Ich greife auf einen Sprachwissenschaftler zurück, der eine Skala mit W-Fragen entwickelt hat.
Das Mädchen hatte Glück. Sie hatte einen sensiblen Vater, der wusste, wie wichtig eine Erzählung sein kann. Und wie sehr eine Erzählung sein kann, die Zusammenleben und seine Krisen prägt. Ein amerikanischer Journalist David Shields hat sich jahrelang mit Narrativen befasst. Aus seinem Buch von 2010 ein Zitat, das von Thomae, Kaufmann und Schmid (Der Einfall des Lebens [Theorien über Autobiographie] 2015) übersetzt wurde:
„Insgesamt habe ich zweitausend Interviews [über Narrative, so sein Buchtitel] geführt. Je mehr Leute ich traf, desto mehr Lebensgeschichten hörte ich und desto mehr wurde ich davon überzeugt, dass es fast unmöglich ist, einen anderen Menschen vollständig zu kennen. Wir senden Gefühle an andere aus, aber letztlich sind wir allein. Für mich besteht das Wesen des Lebens darin, wie wir mit unserem Alleinsein umgehen.“
Greifen wir zurück auf die Geschichte der Tochter von Breithaupt. So eine Geschichte ist Auslöser für die Bewältigung kritischer Momente in der Beziehung vieler Menschen. Und was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Soll heißen: Die Geschichte des Mädchens legt den Grundstein für Augenblicke in einer Beziehung, die Krisen bedeuten und eventuell zum Scheitern bringen.
Was sagt uns das Narrativ? Ein Narrativ soll keine Therapie sein. Zudem: das Mädchen wollte und brauchte weder Therapie noch Theorie, nur Klarheit in einer verwirrenden Situation. Klarheit bedeutet nicht Verhaltenskorrektur, eigentlich nur Verdeutlichung, Interesse, Wichtig-genommen-werden, Gewinn an Erfahrung. Ob daraus eine Verhaltenskorrektur wird, zeigt sich später. Dahinter sollten wir auch das Muster und ihre strukturelle Bedeutung wahrnehmen. Erzählen und Erzählt-bekommen gehören zu unserem Leben. Hier einige wichtige Details:
Versuchen wir aus diesen Details einige Konsequenzen zu ziehen:
- Fusion des Lebens und des Erzählens
Genau das ist es, was Hannah Arendt (1905-75) nicht schaffte, aber zum Motto erhob. Sie war jüdische Philosophin, Geliebte von Martin Heidegger, emigrierte wegen der NS-Regeln in letzter Sekunde nach Amerika, wurde webekannt als Prozessbeobachterin im Gerichtsverfahren gegen Obersturmbannführer Adolf Eichmann mit dem bekannten Spruch „Banalität des Bösen“ (im Buch „Über das Böse“), was ihr aber die Sympathie ihrer jüdischen Glaubensbrüder kostete. Ihre Geschichte war grausam, ihre Rettung, wie sie schrieb, mit Hilfe der Erzählung scheiterte: „Liebe ist Leben ohne Welt“. Apropos, sie wollte nicht als Philosophin tituliert werden, sondern als Politikhistorikerin. Geschichte beinhaltet Geschichte(n).
Zurück zu Geschichte(n) erzählen. Arendt schrieb, das Leben könne nur vorwärts verstanden werden kann, und Erzählen nur rückwärts. Also ist die Fusion von Leben und Erzählen alles andere als einfach. Aber das Vorwärts des Lebens wird banal, zur reinen Lotterie ohne Zwischenstopp des Lebensprozesses durch Geschichten. Die bringen uns Orientierung und Sicherheit.
Von Arendt stammen zwei wichtige Begriffe: „web“ (Netz, Gewebe) und „story“. Jemand erzählt eine Geschichte, seine Geschichte wird ein Netz von Figuren und Möglichkeiten. Aber der Erzähler muss vom Hochsitz seiner Theorien und Regeln herabsteigen. Erst dann kann seine Geschichte ein Stück Leben werden.
Sehen wir aus dieser Perspektive die Geschichte der Tochter von Breithaupt. Natürlich habe ich nur ein Gerüst von Fakten notiert, von Breithaupt stammt auch nicht mehr. Was in diesem Gerüst fehlt, sind die Betroffenheit und die Folgen für die Beziehung, also das Stück Leben in der Erzählung. Das hat mich Breithaupt gelehrt.
- Narration: Auf der Spur des Anderen
CD-Titel, Werbeanzeigen usw. sprechen von „Ich & ich“. Damit ist sicher etwas Schönes gemeint: Zwei sind ein Ich – besser wäre der Titel: Ich & Du – d.h. das Ich tut etwas, überschreitet eine Grenze, die Grenze zum anderen. Bei „Ich & ich“, eins großgeschrieben, das andere kleingeschrieben, also Symbiose, wie Psychologen sagen würden, ist das eine wie das andere. Etwas sehr Wichtiges geht verloren: die Spur des Anderen, so ein Buchtitel des französischen Philosophen Emmanuel Levinas. Wieso?
Vielfach gibt es das Interesse an sich selbst: beruflich vorankommen, Selbstentfaltung, Selbstverantwortung usw. Immer nur ich. Wer eine Geschichte erzählt, tut das, um sich an etwas zu erinnern, was einem anderen Klarheit gibt. Er will zeigen, dass er vom Schicksal des Anderen betroffen und an einer guten Entscheidung des Anderen interessiert ist.
Vor allem v.a. im nordafrikanischen Raum gibt es noch – hoffentlich wird das mit der Technisierung der Welt nicht abgebaut – die „Institution“ des Märchenerzählers. Er lebt und viele Menschen dort leben von Geschichten. Vielleicht ist das, wenn Eltern den Kindern Geschichten vorlesen, vergleichbar. Haben die Erwachsenen das verlernt?
- Das Elend der Theorie
Komisch, im 20. Jhd. gab es viele Philosophen, Sprachwissenschaftler, Soziologen usw. – und viele von ihnen gibt es heute noch, viele ihrer Theorien sind auch noch gegenwärtig aktuell -, die das großgeschriebene theoretische „Ich“ von ihrem kleingeschriebenen biographischen „ich“ abkoppeln. Das Ich und das Leben gehören zusammen. Theorie bleibt, aber sie stillt nicht den Hunger nach Wirklichkeit und Leben. Theorien-schmieden ist auch heute noch en vogue. Aber ignorieren wir damit nicht die Forschungsergebnisse vom Narrativ?
Ein Beispiel:
Gehen wir weiter in die Gegenwart von Corona. Eine Geschichte las ich vor ca. einem Jahr in der Süddeutschen Zeitung.
Frau Dunz (inzwischen Chefredakteurin einer anderen Zeitung) feierte den Geburtstag ihrer Eltern und trug mit einigen anderen Gästen den Tisch zum Abendessen auf die Terrasse. Als alle am nächsten Tag wieder zu Hause waren, wurde ihre Schwester als infiziert getestet, Frau Dunz ließ sich auch testen. War sie diejenige, die andere infiziert hat? Und wann? Sie machte sich große Vorwürfe, weil sie eventuell andere und v.a. ihre Eltern infiziert haben könnte, die dann möglicherweise einen schwereren Verlauf zu erwarten hatten. Das war aber nicht der Fall, stellte sich nach einiger Zeit heraus.
Mir imponierte diese Geschichte. Nicht nur die verantwortliche Haltung der Frau. Sondern die Tatsache, dass seitens der Regierung von Verantwortung und Infektionstheorien geredet wurde, die nicht sehr überzeugten. Die Geschichte von Frau Dunz überzeugte. Leider erreichen die Printmedien solche Narrative selten, wohl aber die neusten medizinischen Theorien.
- Aufforderungscharakter der Geschichten
Gehen wir einen kurzen Moment zurück auf Gottfried Ephraim Lessings Ringparabel, die ich sehr mag. Hier in Kürze die Handlung:
Und die Moral von der Geschicht‘: Wer das größere Recht hat, das nur der Träger des originalen Ringes besitzt, kann nicht entschieden werden. Laut Lessing gibt es nur den Beweis der Liebe und Kraft. Mohammedaner, Jude und Christ interessiert nicht, wer die bessere Religion samt Moral und Theologie hat. Lessing schrieb vom „garstig breiten Graben“ zwischen Praxis und Theorie, d.h. Praxis der Hilfe bzw. Liebe (weil noch ein Christ sich in die Tochter des Sultans verguckt hat, aber nicht heiraten darf).
Die Geschichte fasziniert, sie fordert heraus. Die Geschichte hat in sehr verschieden Variationen eine lange Tradition. Auch wir Heutigen brauchen Geschichten, obwohl wir sie nicht haben. Wie mickrig und vor allem theoriebestimmt kommt die Migrationspolitik v.a. in einigen Parteien daher? Nicht die blutarme Theorie der Regeln und Prinzipien gibt uns Orientierung und Richtung, sondern Geschichten, die uns etwas deutlich machen und uns ansprechen.
- Kultur ohne Geschichten
Was, wenn wir keine oder zu viele Geschichten haben? Und das ohne einen Menschen, der sie versteht und anderen verständlich macht? Wenn wir keine Geschichten mehr haben, verlieren wir Orientierung. Dazu ein aktuelles Beispiel: Die Rede von Joe Biden in Warschau.
Ich fand sie nach dem Beitrag aus der Süddeutschen sehr gut, weil der Hintergrund wichtig war. Aber ich vermisste etwas: Warum kein Narrativ?
Eigentlich ist es, auch wenn es sicher richtig ist, leicht dahingesagt, dass wir mit unseren Mitteln Freiheit verteidigen, so Biden in politischer Rhetorik. Und dann kam fast barock klingender Wust über das, was wir verteidigen. Aber was ist Freiheit? Theoretischer Bodensatz? Und warum nur Freiheit der Demokratie? Es geht doch auch um Entscheidungsfreiheit, Wahlfreiheit, Meinungsfreiheit, Freiheitsrechte usw., die Putin verletzt. Ende der politischen Rhetorik?
Eine kleine, aber beeindruckende Erzählung würde uns helfen. Es geht ja nicht um die Utopie des „Frieden schaffen ohne Waffen“, oder darum, welche Exgeneräle für oder gegen Waffenlieferungen votieren usw. Aber wir Möchte-gern-Strategen entscheiden schließlich, wer Recht hat. Es geht doch um die Freiheit in der Demokratie, aber auch um die Freiheit der Person, die uns so wichtig ist, aber die wir leider oft nicht verstehen. Haben wir solche Geschichten, und wie wichtig sind sie uns?
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