Union der Ego-Booster
Ist die Europäische Union am Ende?

Zurzeit erlebt die EU eine Krise nach der anderen. Mein Verdacht: Unfähig zur Gemeinsamkeit. Lässt sich etwas dagegen tun?

Unser Problem

Katastrophen zu prophezeien ist ein Geschäft mit der Kristallkugel. Dieser Artikel kündigt nichts an, analysiert nur. Die wichtigsten Gründe für das Überleben einer politischen Institution sind:

  • Ihre Akzeptanz durch die Mitglieder,
  • das Funktionieren der Gesetze,
  • das Selbstbild dieser Institution und
  • die Zielsetzung der Institution.

Nichts passt. Inzwischen hat sich Großbritannien von der EU gelöst. Die NZZ vom 25./26. Juni 2016 kommentierte: „Eine neue identitätsstiftende Vision ist nötig […]Eine solche Union wäre offener, beweglicher, freier, anschlussfähiger für neue Mitglieder und wohl selbst für die […] Briten akzeptabler“ – sicher auch für viele von uns. Ein paar Seiten später titelte diese Zeitung: „In Brüssel geht die Angst vor dem Zerfall um“. Führte der BREXIT zur Erkrankung der EU oder die kranke EU zum BREXIT? Meines Erachtens letzteres. Der BREXIT ist der Ruf nach einem neuen Europa. Der Kölner Wissenschaftler und Schriftsteller Navid Kermani sagte dem Deutschlandfunk, dass der Egoismus und das Desinteresse der älteren Generationen zur Trennung von UK und EU führten.

Das Drama ist nicht die unzureichende Verfassung der EU, sondern es sind die Mitglieder, die nicht die Gemeinsamkeit der Länder im Auge haben.

Skizze des Chaos

Ich will aussteigen (Karikatur von K. Stuttmann, Quelle BZ vom 10.7.2016 )
Ich will aussteigen (Karikatur von K. Stuttmann, Quelle BZ vom 10.7.2016 )

Zwei große Krisen hat Europa durchgemacht: eine Wirtschafts- bzw. Finanzkrise und die Bankenkrise. Dass die EU überlebt hat, wenn auch mit einigen Schrammen, spricht für sie. Aber jetzt kommt auch noch die Flüchtlingskrise, eines der ungelösten Probleme des BREXIT. UK hat zwar einen guten Kompass für die eigene Größe, aber nicht für andere Menschen. Die EU steht rat- und konzeptlos da, ist nicht mehr Lösung, sondern Problem. Dabei hat sie einmal Solidarität und Fairness groß geschrieben.

Der Wille zur Gemeinsamkeit existiert nicht mehr. Die aktuellen Krisen haben ihre Wurzel im Schwund dieser Basis. WIR ist ein Konglomerat von ICHs ohne Format und Perspektive. Es scheint, als wäre die EU nicht gewollt.

Ego (Detailvergrößerung aus dem Isenheimer Altarbild - Foto Johanna Scherle-Illhardt)
Ego (Detailvergrößerung aus dem Isenheimer Altarbild – Foto Johanna Scherle-Illhardt)

Es gibt eine beängstigende Entwicklung der Ego-Booster-Mentalität. Hier einige Schlaglichter: Vorrang nationaler Interessen, Wiedereinführung der Grenzen, Angst vor dem Fremden, Interesse an Wirtschaft vor Menschlichkeit, Erdogan-Deal, fehlende Mitbestimmung, Menschenrechtspolitik, Klimaschutz, Handelsabkommen, verschwommene Ziele usw. Wenn die EU nicht aus dieser Mentalität herauskommt, steht der Bankrott ihrer einstigen Ideale ins Haus. Keiner der 28 Staaten macht gemeinsame Sache, einige Mitglieder der sogenannten Europäischen Gemeinschaft – aber was ist daran schon Gemeinschaft, also um mit Begriffen von Habermas zu reden: Interaktion, Wechselseitigkeit, gemeinsame Wertebasis – werden sogar im Stich gelassen. Was könnte man tun? Die Fehlentwicklung korrigieren? Yes we can“ sagte einst Obama und bekam u.a. für diesen Optimismus den Nobelpreis. Das war einmal. Obamas Nobelpreis war, auch wenn Schweden nicht zur Eurozone gehört, der wichtigste Preis aus Europa – nach dem Ölpreis.

Identität der EU

Hellas-Euro (Foto Johanna Scherle-Illhardt )
Hellas-Euro (Foto Johanna Scherle-Illhardt )

Ethnologen halten es für wichtig, wenn eine Population einen Ursprungsmythos hat, also eine Geschichte – egal ob sie „wahr“ ist oder nicht – die sagt, wie es zur Gründung dieser Population gekommen sein könnte, was sie von anderen unterscheidet und was ihnen Identität gibt. Sten Nadolny bricht das in seinem Roman „Selim oder die Gabe der Rede“ herunter: Wenn jemand über ein Erlebnis keine Geschichte erzählen kann, wird er bedeutungslos. Für Europa gibt es m.W. keinen Ursprungsmythos, es sei denn, man greift auf eine Geschichte zurück, die vor fast 3000 Jahren entstanden ist. Sie kam natürlich sofort auf die „Europa-Serie“ der griechischen Euromünzen.

Nun zur story: Ein junges Mädchen namens Europa, so hieß man damals, badete gern nackt am Strand, vermutlich an der libanesischen Mittelmeerküste bei Sidon (nördlich von Tyros, südlich von Beirut). Göttervater Zeus, vom Olymp aus die ganze Welt überblickend, wurde von Leidenschaft gepackt, wie so oft, und verwandelte sich in einen Stier, um das Mädchen fortzulocken und für sich zu haben. Bei Stieren schöpft man nicht so leicht Verdacht, hat aber Angst. Er nahm Europa huckepack und trug sie übers Meer nach Griechenland. In Kreta schwächelte er, verwandelte sich zurück in einen Mann, zeugte mit Europa drei Halbgötter. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann …. Die Entstehung von Europa ist von erotischen Gefühlen geprägt, aber mehr noch von Gier, Betrug und Gewalt. Das zumindest hat sich über die 3000 Jahre durchgehalten.

Mezquita von Cordoba (Foto Johanna Scherle-Illhardt).jpg
Mezquita von Cordoba (Foto Johanna Scherle-Illhardt).jpg

Warum nicht ein neuer Ursprungsmythos? Er könnte auf der berühmten Mezquita von Cordoba gründen, der Moschee des Islam, die auch von Christen benutzt wurde. Kaiser Karl V. (1500–1558) ließ anlässlich seiner Hochzeit 70 von den über 1000 Hufeisenbögen (siehe Foto) abreißen und den dadurch gewonnenen Raum christlich gestalten. Er hat zwar den Umbau genehmigt, war aber, als er die Moschee besichtigte, über das Ergebnis enttäuscht und soll gesagt haben. „Ihr habt etwas gebaut, was man überall hätte bauen können, und etwas zerstört, was einmalig war.“ (Führer Andalusien, DuMont 2008).

Das Reich des Kaisers sprengte damals zwar die Grenzen von Nationen, Religionen und Kulturen, aber seine spezielle Reaktion war für einen christlichen Regenten entwaffnend. Nach der Rückeroberung (Reconquista) Andalusiens aus der mohammedanischen Besetzung (Mauren) wurden gute maurische Handwerker geduldet. Sie ist der erste Schritt zu einer Koexistenz der Religionen. Übrigens, diese Geschichte ist treffender als die von Zeus und Europa.

Die neuere Geschichte von Europa begann nach dem zweiten Weltkrieg, und nahm dann – Verzeihung für diese grobe Skizze – ihren Weg mit der Montanunion, einem gemeinsamen Markt von Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden für Kohle und Stahl (1951), wurde ausgeweitet zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für alle Wirtschaftsprodukte dieser sechs Länder (1957) und schließlich zur Europäischen Gemeinschaft für viele Länder (zur Zeit 28) mit verschiedenen zentralen politischen Institutionen in Brüssel (1993). Diese Gemeinsamkeit basiert auf dem Willen zu Aussöhnung, Solidarität, Aufhebung der Grenzen und Stärkung eines gemeinsamen Marktes. Nicht viel (und das nur mit Einschränkung) passt zum heutigen Zustand von Europa. ICH heißt auf Europäisch EU.

Lösungsvorschläge

Wenn es nur Lösungen gäbe …! Dann müssten sie auf jedenfalls so grundsätzlich sein, dass sie wirklich eine Kehrtwende anstoßen. Probieren wir ein paar Vorschläge:

Test der Lächerlichkeit

Diesen Test hat erstmals der Philosoph Shaftesbury (1671-1713) vorgeschlagen (test by ridicule). Anlass für diesen Test war das Durcheinander der religiösen und philosophischen Meinungen zu seiner Zeit. Manch einer war als Anhänger einer Glaubens- oder Denkrichtung dieser Meinung verpflichtet, aber ob sie substanzlos oder wirklich ernst zu nehmen war, konnte man vom neutralen Standpunkt aus nicht wissen. Shaftesbury schlug stattdessen eine Diskussion vor, die den harten Kern einer Idee abklopft, um die auszusondern, die lächerlich sind. Walter Benjamin, Zionist, neomarxistischer Philosoph, umgekommen auf der Flucht vor den Nazis, spezifizierte diese Idee, weil er einen Showdown der substanzlosen Politik befürchtete. Politik wird wie im Märchen von „des Kaisers neue Kleider“ entlarvt: Der hat ja nichts an, schreit ein Kind in die Menge der kaiserlichen Bewunderer. Den Zuschauern im Märchen fällt es wie Schuppen von den Augen. Der Kaiser ist blamiert, nicht mehr mächtig, nur noch lächerlich.

Viel zu selten wird dieser Test der Lächerlichkeit vorgenommen. Nationalistische Parteien in der EU wie AfD, Ukip, FPÖ, Front nationale usw. präsentieren Positionen in der Flüchtlingsfrage, die letzten Endes zu Ego-Boostern werden, weniger auf Interessen der Bürger und mehr auf angebliche landestypische Leitwerte setzen. Also steht der Kaiser doch in Unterhosen da?

  1. Perspektivenwechsel

In einem Roman („Als Nietzsche weinte“ von E.D. Yalom) scheiterte die Psychotherapie von Nietzsche, den seine verehrte Lou André Salomé verlassen hat, und J. Breuer, den Salomé für den größten hielt. Welcher Therapeut willigt da nicht ein? Nach einigen Sitzungen therapiert Nietzsche seinen Therapeuten wegen seiner Ehe- und Existenzkrise. Nietzsche begriff Krankheit nicht nur als biologisches Problem, sondern als ein Daseinsproblem. Insofern war sein Perspektivenwandel vom Kranken zum Therapeuten zwangsläufig. Auf jeden Fall bewies er trotz seiner psychischen Erkrankung, dass sein Therapeut therapiert werden müsste, weil der nichts vom Leben verstand.

Perspektivenwechsel ist nicht nur Voraussetzung für Kants kategorischen Imperativ in seinen drei Versionen. Eine alte indianische Weisheit entspricht dem: Will man die Richtigkeit einer Regel überprüfen, sollte man 100 Schritte in den Mokassins des anderen gegangen sein. Die EU widerspricht beidem.

  1. Moralischer Imperialismus

Loriot soll nicht zum Philosophen hochstilisiert werden. In „Szenen einer Ehe“ bringt er ein alltägliches Beispiel für eine imperialistische Moral. Die Frau sagt ihrem Herrmann, anstatt nichts zu tun und nur herumzudenken, sollte er Illustrierte lesen. Das sei erholsam und mache Spaß. Er kommt gegen die stets praktisch überlegene Empfehlung seiner Frau nur mit Mühe an und wollte keine Illustrierten lesen. Rede und Gegenrede der Eheleute werden immer heftiger. Das ganze endet in Beziehungskrampf und Schreigespräch. Am Schluss der Szene sagt sie: „Warum schreist du denn?“ Er schreit zurück: „Ich schreie doch gar nicht“. Imperialistische Moral endet in Geschrei.

Moralischer Imperialismus ist gängige Praxis. Er schätzt die Handlungsempfehlung einer überlegenen Gruppe bzw. eines einzelnen, der im Auftrag dieser Gruppe oder einer herrschenden (!) Meinung agiert, höher ein als jede andere Empfehlung. Grund ist nicht das stärkere Argument, sondern die stärkere gesellschaftliche Position.

  1. Menschliche Interaktion
Europa (Quelle artedeablog.wordpress.com)
Europa (Quelle artedeablog.wordpress.com)

Wichtig wurde für mich ein Aufsatz des Ethnologen Marcel Mauss („Die Gabe“, Original „Essai sur le don“ von 1928). Man beobachtet, dass eine Gruppe einer anderen ein Geschenk gibt, das für diese Gruppe Wert hat. Die anderen wissen sich, wenn sie das Geschenk akzeptieren, in der Pflicht, auch ein Geschenk vorzubereiten. Darin liegt der Austausch von Einfühlung, Verpflichtung, Sich-darbieten, Identität usw. Leider ist dieser Austausch heutzutage verkommen, manche fühlen sich durch Geschenke erniedrigt, andere geben ein Geschenk im gleichen kaufmännischen Wert (etwa 20 € gegen 20 €) zurück. In der EU funktioniert Interaktion nicht mehr – Austausch wird Geschäft.

Im Kontakt mit Flüchtlingen scheint die EU die Chance vertan zu haben, dass die einen den anderen als eine Art Geschenk begegnen. Sich-Geben bedeutet den Anderen bekommen. Das verstärkt Nietzsche: „Bleiben wir in uns hängen, woran sollten wir wachsen und reicher werden? … Die Lust am Menschen ist … nötig.“ Die EU bekommt nichts und niemand mehr, höchstens Terror.