Plädoyer für den Aufstand
Genug an der Nase herumregiert

Telgte. In letzter Zeit tauchen in der kritischen Presse vermehrt  Kommentare auf, in denen nur noch drastische Veränderungen als Chance für eine andere und das heißt auch „echtdemokratischere“ Welt  gesehen werden. Freunden wir uns schon mal mit einer seriös formulierten Revolution an.

Revolution (Foto A. Illhardt)
Revolution (Foto A. Illhardt)

Das Leben – im Gemeinen und Speziellen – ist letztendlich ein unglückliches Konglomerat aus Sichzurücknehmen, Kompromissen, Einschränkungen, Rücksichtsnahmen, So-tun-als-ob und anderen zurückgewandten Vermeidungsstrategien. Warum das so ist, lässt sich schlussendlich kaum mehr nachvollziehen, da jene Instanzen, denen wir meinen, unsere Lebendigkeit opfern zu müssen, versteckt operieren oder mit Taktiken hantieren, die nie wieder hinterfragt werden. Eine der ersten Auflagen, die uns ursprünglich als selbstdenkende Wesen angelegten Menschen davon abhalten, unsere Existenz lebendig zu machen, ist die anerzogene Maxime, dass höchstmögliches Angepasstsein die Chance erhöht, als braver Bürger wenn schon nicht Karriere machen zu können, so doch wenigstens weitgehend unauffällig und damit auch unbehelligt zu bleiben. Interessanterweise sind diejenigen, die diese Maxime nicht befolgten oder „stilfrei“ umschifft haben, häufig die Mächtigen und Bestimmer.

Früher war es vor allem der Katholizismus, der als alles überragende Instanz das Leben unterminierte. Das ganze Sein musste abgeglichen werden an einer Institution, die mit den Folgen der Sünde drohte, aber selbst schwer an den Symptomen einer Doppelmoral krankte und deren inhaltlicher Überbau heute vor allem als Blaupause für CDU-Politiker und selbsternannte Traditionshüter dient, um mit hohlen Phrasen über das christliche Abendland Pluspunkte bei den Denkphlegmatikern einzuheimsen.

Während sich die Kirche auf Reformationskurs begab und heute teilweise lockerer mit der Lebendigkeit des Lebens umgeht als all die ewiggestrigen Sonderlinge auf den konservativen

Sein (Foto A. Illhardt)
Sein (Foto A. Illhardt)

Regierungsbänken (hier meine ich keine bestimmte Partei, sondern eigentlich fast alle!), haben sich unzählige andere Instanzen zu lebenseinschränkenden Im-Weg-Stehern entwickelt, um auf mal mehr, mal weniger auffallende Weise humanistische, demokratische oder soziale Grundelemente zu schreddern und sie damit ad absurdum zu führen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht irgendein Volksvertreter bravourös von demokratischen Vereinbarungen verabschiedet, um sich der Wirtschaft anzubiedern und in der Kaste der eh schon Privilegierten einzuschleimen. Ein demokratisches Selbstverständnis mutiert zur Bordüre am Doppelrippschlüpfer. Bis auf kritische Berichterstatter in linken Medien scheint das den Mainstream nicht zu erschüttern. Selbst in der Lokalpolitik wundert man sich oft, wie sehr letztendlich Geldinstitute und Wirtschaftsbetriebe gesellschaftliche Abläufe und Prozesse bestimmen und deswegen hofiert werden. Man hat sich daran gewöhnt und blendet es einfach aus. In unseren Behörden, die ursprünglich die Funktion hatten, uns verwaltungsmäßig mit Rat und bestenfalls auch Tat zur Seite zu stehen, werden vor allem Schnapsideen, unsinnige Regularien, Verschlimmerungen, Verschlimmbesserungen, Verkomplizierungen und Barrieren geschaffen, deren Lebenserleichterungsfunktionen diametral gegen Null gehen. Die Notwendigkeit eines deutschen Beamtentums hat noch nie jemand verstanden, aber abschaffen kann man es nicht, da es unter Artenschutz steht. All die Machenschaften vermeintlich erwachsener Menschen, ihre Selbsterhöhungs- und Selbstbereicherungsstrategien, ihre Korruption, Machtgeilheit, Verlogenheit und Oberflächlichkeit, was die Liste der Schlechtigkeit sicherlich nicht komplettiert, sind von einer widerwärtigen, arroganten und asozialen Art, die den Verhaltensweisen wilder Raubtiere, aber auch in der Sonne schmorender Nacktschnecken in nichts nachsteht.

Good System (Foto A. Illhardt)
Good System (Foto A. Illhardt)

In einer recht privaten Gesprächsrunde ging es neulich um dieses Thema, wie wir Menschen Systemen ausgeliefert sind, wie mit uns Dinge geschehen, die wir nicht mehr nachvollziehen, sowie beeinflussen können, aber auch nicht verändern wollen. Reaktionen auf diese menschlichen Tragödien und Widerwärtigkeiten, mit denen wir in nahezu allen Bereichen unserer Gesellschaft konfrontiert sind, fallen sehr unterschiedlich aus. Und auch in anderen Gesprächen fällt mir auf, dass die häufigste Reaktion die Depression ist. Sie lässt sich am besten mit dem Gefühl der Hilflosigkeit ausdrücken. „Was soll ich tun, ich kann ja doch nichts ändern!“ oder „Ich habe längst aufgegeben, an positive Veränderungen zu glauben“ oder der Klassiker: „Was soll ein Mensch allein schon bewirken.“ Vermutlich befindet sich Dreiviertel der Gesellschaft in einem Gefühl der Paralyse und Einflusslosigkeit. Und es klingt nahezu pathologisch, wenn diejenigen, die Macht ausüben können, weil sie es dürfen, Freude an dieser desolaten Stimmung ihrer vermeintlich Untergebenen haben.

Eine weitere Reaktion auf das einen umgebende Desaster ist die Ironisierung. Man macht Witze über das, was da oben passiert. Zwar verbirgt sich dahinter ebenfalls eine gewisse Hilflosigkeit, doch mit dem Verhöhnen, Austeilen von Seitenhieben und der Ironie entsteht für den Ausübenden zumindest der Eindruck, aktiv zu sein. Es ist eine Art temporäres Darüberstehen, ähnlich dem Bettler, der sich über Passanten lustig macht, die zu geizig sind, Geld in seinen Hut zu legen.

Nach der besagten Diskussion sprach mich ein junger Mann an, der meine Aktionen und Texte, vor allem aber Verballhornungen gesellschaftlicher, politischer oder wirtschaftlicher Abläufe offenbar kannte, ob es mir nichts ausmache, damit anzuecken und mir Feinde zu machen. Ich erwiderte ihm, dass es mir mit zunehmendem Alter und wachsendem Hintergrundwissen einfach nicht mehr möglich sei, das mich umgebende Establishment inklusive aller existierenden Parteien ernst zu nehmen. Es kommt mir immer mehr vor wie ein schlecht gespielter, alberner Mummenschanz!

Es gilt der Vollständigkeit halber noch eine weitere Reaktionsmöglichkeit hinzuzufügen, über die man aber nur sehr leise sprechen darf. Es ist die Revolution, der Aufbruch oder Aufstand als die aktivste und radikalste aller Reaktionsmöglichkeiten. Doch weil so etwas in Machtkreisen auf wenig Gegenliebe stößt, wurden frühzeitig Einrichtungen implantiert, die jegliche Revolutionsgedanken im Keim ersticken lassen sollen. Wer von den Menschen, die im Besitz von Macht sind, will schon eine gerechte, gleichberechtigte und machtfreie Welt?

In letzter Zeit bündeln sich allerdings in der kritischen Presse die Kommentare derjenigen, deren Geduld ebenfalls aufgebraucht ist und die nur noch in einer drastischen Veränderung eine Chance

Gegenwind (Foto A. Illhardt)
Gegenwind (Foto A. Illhardt)

für eine andere und das heißt auch „echtdemokratischere“ Welt sehen. Es gibt ausreichend Literatur – alte wie neue, die mit hochspannenden Beschreibungen und detaillierten Analysen aufwartet. Sie stellt dar, was wo wie und warum passiert und was Auswege aus dieser politischen Tragödie sein könnten. In dem viel und kontrovers diskutierten Buch „Der kommende Aufstand“ (Nautilus Verlag) erörtert ein anonymes Autorenteam, dass in den Revolten wie z.B. in Frankreich oder Griechenland Symptome des Zusammenbruchs der westlichen Demokratie zu erkennen sind. Sie entwickeln als Gegenentwurf eine Gesellschaft von föderierten Kommunen und selbstverwalteten lokalen, ökonomischen Organisationen. Solche Ideen und Visionen prallen zumeist hart auf die Meinungen der vermeintlichen Demokratieverfechter, die z.T. mit Märchenerzählerqualitäten etwas für schön verkaufen, was längst zum Gammelfleisch mutiert ist.

Unsere Stadt (Foto A. Illhardt)
Unsere Stadt (Foto A. Illhardt)

Wenn die Demokratie eine solch heldenhafte Erfindung ist und als beste aller möglichen politischen Gesellschaftsformen gepriesen wird, warum wird sie dann nicht gehätschelt, getätschelt und gepflegt wie ein sensibles Pflänzchen? Warum wird dann auf die Meinung des Volkes so wenig Wert gelegt? Warum hält man sich dann nicht an Wahlversprechen? Keine!!! Partei setzt das um, was sie angekündigt hat, sondern taktiert schlingernd im freien Raum durch die Galaxis des Parlamentarismus! Warum sprechen sich Demokratievertreter für TTIP oder CETA aus, obschon es sich hier um klare Oligarchie, nämlich die Herrschaft der Wirtschaft, handelt? Warum kann eine deutsche Troika unterstützt von nicht demokratisch gewählten und zudem eigentlich nicht zuständigen Institutionen ein Land wie Griechenland mit Mitteln in die Knie zwingen, die mit Demokratie so viel zu tun haben, wie Sepp Blatter mit eigenem aktivem Fußballspiel? Wie kann es sein, dass ein antidemokratischer Politiker wie Wolfgang Schäuble ein Land wie Griechenland mit starrsinniger und zerstörerischer Politik überzieht? Warum kann es in einem demokratischen Land möglich sein, dass Menschen abgehört und ausspioniert werden, die anderen Meinungen sind als die gerade aktuelle Regierungsdenke? Warum dürfen in Deutschland Waffen in diktatorisch geführte Länder exportiert werden? Warum dürfen sich Politiker jedweder Couleur von Wirtschaftsverbänden schmieren lassen? Warum dürfen oder müssen Menschen 30x so viel verdienen als hart arbeitende Werktätige? Warum haben Banken und Wirtschaft inzwischen mehr Macht als die gewählten Volksvertreter? Warum arbeiten Behörden gegen, statt für uns und warten sogar mit gewollten Falschinformationen auf? Sind die Grenzen zwischen Demokratie, Lobbykratie, Oligarchie und Diktatur nicht längst verschwommen? Und warum schützt uns kein Verfassungsschutz oder eine sonstige Demokratieüberwachungsinstitution vor unseren entdemokratisierten Politikern? Und warum schauen wir dieser Zerstörung der Demokratie zu, ohne mit drastischen Mitteln einzugreifen?

Immer wenn einem nichts Gescheiteres einfällt, wird ja gerne die Bibel aus dem Ärmel gezogen und zitiert. Wie durch Zufall fiel mir neulich eine solche Bibelpassage in die Hände. In der als Tempelreinigung oder auch Tempelaustreibung bekannten Passage geht es darum, dass der als Pazifist bekannte Jesus auf recht aggressive Weise Händler aus dem Vorhof des Tempels vertreibt, um gegen die kriminellen Machenschaften zu protestieren. So wie er den Kapitalisten dort vorwirft, aus dem Gotteshaus eine „Räuberhöhle“ zu machen, könnte man auch einem Großteil der Politikern und Wirtschaftsverantwortlichen den Vorwurf machen, aus unserer Demokratie einen Saustall gemacht zu haben. Ganz ehrlich: Ich denke es ist höchste Zeit für eine Rathaus-, Landtags- oder Bundestagsreinigung. Übrigens wurde bei Jesus wegen aufrührerischen Verhaltens ein Strafverfahren angestrengt, was mit einer Kreuzigung vollstreckt wurde. Bei uns werden Demokratiebewahrer als Verrückte, Linke, Anarchisten oder Terroristen gebrandmarkt, was mal wieder beweist: Es hat sich nichts geändert, es wird nur weniger gekreuzigt! Der Marsch durch die Institutionen scheint mir aktueller und erforderlicher denn je! Oder – wie sich der Literaturwissenschaftler Anselm Lenz neulich in einem TAZ-Artikel ausdrückte – wir sollten uns mit dem Gedanken an eine seriös formulierte Revolution anfreunden.

Norm (Foto A. Illhardt)
Norm (Foto A. Illhardt)
Protest (Foto A. Illhardt)
Protest (Foto A. Illhardt)