Zeitvertreib
Ein aus den Fugen geratenes Zeitverständnis

Bevor man das Zeitliche segnet, sollte man mal über einen Ausdruck wie Zeitvertreib und die damit verbundenen philosophischen Zeitbetrachtungen nachdenken! Ein Plädoyer für den Müßiggang!

Zeitvertreib (Foto Arnold Illhardt)
Zeitvertreib (Foto Arnold Illhardt)

Zeitvertreib – warum sollte man sich die Mühe machen, über dieses Wort nachzudenken? Ein alltäglicher Begriff wie Schuhanzieher oder Dunstabzugshaube. Man sagt schon mal: ach, das ist ein schöner Zeitvertreib und meint damit das Lesen von Büchern, Kreuzworträtsel lösen oder Pullover stricken. Doch dröselt man Zeitvertreib in seine Bestandteile „Zeit“ und „vertreiben“ auf, wird man stutzig, gesetzt den Fall man kommt vor lauter Zeitvertreib dazu.

Die Zeit, so wird uns gehetzten, gescheuchten und fremdbestimmten „Säugewesen“ in Kolumnen der ZEIT, mehrseitigen Artikeln der BRIGITTE oder als Schwerpunktthema in der Apothekerrundschau suggeriert, ist eine überaus kostbare und daher pflegenswerte Lebenseinheit. Sogar Servietten oder Speisekarten, oder gleich ganze Lokale schmücken sich mit dem schon Wurzeln treibenden Spruch Carpe Diem, was uns ja geheißen soll, den Tag und somit seine zeitlichen Untermieter wie Stunden und Minuten zu nutzen. Die Zeit, so eine weitere schlaue Einsicht, ist endlich und somit vor allem auch unsere Lebenszeit. Bevor man sich versieht oder aus Versehen nicht schon tot ist, ist es zu spät, sich auf seine zur Verfügung stehende Zeit zu besinnen. Zwischenzeitlich jammern wir, zu wenig Zeit zu haben oder stellen bestürzt fest, dass die Zeit mal wieder davongerannt ist. Ultimatives Fazit der sträflichen Zeitvertrödelung: Auch wenn der Zeiger steht, die Zeit vergeht.

Nun stellt sich natürlich die Frage, warum muss man die Zeit vertreiben, wenn sie doch angeblich so kostbar ist? Man vertreibt lästige Fliegen, Menschen wegen unerlaubten Apfelessens aus dem Paradies und Zeugen Jehovas von der Haustür, aber warum die Zeit? Was hat sie uns getan? Vor allem: Liegt nicht eine gewisse Paradoxie darin, wenn man andererseits die Kostbarkeit der Zeit so hervorhebt?

Zeit (Foto Arnold Illhardt)
Zeit (Foto Arnold Illhardt)

Erfahrungsgemäß glauben viele Zeitgenossen, Zeit sei lediglich der temporäre Raum, in dem unser Herz schlägt und Verdauungsprozesse ablaufen. Damit nicht unnötige Energie verhudelt wird, stellt der Zeitvertreiber das Gehirn auf Sparmodus, was sich bevorzugt mit dem überwiegenden Teil der Fernsehsender, PC-Spielen, sowie Trivialliteratur oder Zeitschriften aus der Regenbogenpresse hervorragend bewerkstelligen lässt. Eine ganze Industrie lebt davon, uns vom Denken abzuhalten und uns das Gefühl eines sinnerfüllten Zeitvertreibs zu geben. Mit Erfolg, denn jegliches Zeitgefühl kommt uns abhanden, eine allumfassende Wahrnehmungsleere legt sich über uns und alle Sinne verflachen auf Nimmerwiedersehen. Wer aus dem Dämmerzustand eines dreistündigen Fernsehabends erwacht und mit einer Art Medienkater in die Jetztwelt zurücktaumelt, weiß wie sich ein solcher Zeitvertreib anfühlt: bedeutungslos!

In seinem Buch „Homo Deus“, in dem der Historiker und Schriftsteller Yuval Noah Harari „…die Geschichte des Homo sapiens angesichts neuer Technologien (Biotechnologie, künstliche Intelligenz) weiterdenkt…“ www.spektrum.de), beschreibt der Autor die Vision einer Unsterblichkeit des Menschen und damit verbunden eine Verabschiedung vom Homo sapiens hin zum gottesgleichen, unsterblichen Homo Deus. In diesem Zusammenhang stellt er auch die Frage, was eines Tages der Sinn der Spezies Mensch überhaupt noch sei, denn schon jetzt erledigen Maschinen unsere Arbeit, die künstliche Intelligenz steuert unser Leben und Facebook und Google wissen besser, wie wir uns fühlen, als mancher Mensch selbst. Wir hätten also, spinnt man diesen erschreckend realistischen Gedanken weiter, eines Tages unglaublich viel Zeit, die es zu vertreiben gilt oder gar – totzuschlagen (ein anderer grausamer Ausdruck des Umgangs mit dem Fortschreiten der Gegenwart von der Vergangenheit hin zur Zukunft). Die gigantische Zeitvertreibungs- und Verblödungsindustrie wird eine große Freude an dieser Entwicklung haben und unsere unendliche Zeit sicher gewinnbringend nutzen können. Unsere einzig verbleibende Funktion wird die des Konsumenten sein!

verlorene Zeit (Foto Arnold Illhardt)
verlorene Zeit (Foto Arnold Illhardt)

Rührig sind ja auch die Überlegungen großer Denker und Philosophen zum Thema Zeit. So gibt es zum Beispiel von Arthur Schopenhauer den gedrechselten Satz: „Gewöhnliche Menschen denken nur daran, wie sie ihre Zeit verbringen. Ein intelligenter Mensch versucht sie zu nützen.“ Auf den ersten Blick klingt eine solche Aussage a la Carpe Diem nach besonnener Betrachtung. Aber auf den zweiten Blick muss man Herrn Schopenhauer zunächst einmal eine gewisse Arroganz vorwerfen, denn wieso kommt er zu der Annahme, intelligente Menschen würden mit ihrer Zeit besser umgehen, als gewöhnliche? Ich kenne unendlich viele vermeintlich intelligente Menschen, die in an Selbstverstümmlung grenzender Leistungswut ihre Arbeit nebst rudimentärer Freizeit als Kampfzone betrachten. Sie roboten 10 Stunden für irgendwelche übergeordneten Instanzen, bilden sich dabei ein unglaublich wichtig zu sein und hetzen anschließend in der Freizeit (was von freier Zeit kommt) mit gefletschten Zähnen und pumpendem Herz auf ihren Rennrädern über Bundesstraßen, um ihr Stressgleichgewicht aufrechtzuerhalten! Ich halte ein solches Vorgehen für absolut verschwindend intelligent.

Aber was ich an dieser Schopenhauer´schen Aussage noch viel bedenklicher finde, ist die Frage, warum man unbedingt Zeit nutzen muss. Und weitergefragt: Ab wann gilt „genutzt“ als anerkanntes und sinnvolles Vorgehen? Bedeutet Zeit nutzen auch, den Wolken beim Vorbeiziehen zuzuschauen oder auf einer öffentlichen Bank den Fließgeräuschen der Ems zuzuhören? Ist träumen oder nachdenken noch nützliche Zeit oder gerate ich dabei schon gefährlich ins Vergeuden? Und – ich traue mich einfach mal diese bösen Worte zu nutzen – was ist mit Faulheit oder Langeweile? Wie oft musste man sich als Jugendlicher von den leistungsorientierten Eltern anhören, nicht blöd rumzusitzen und stattdessen etwas Sinnvolles anzustellen? Und neuerdings gibt es gruselige Ausdrücke wie Zeitmanagement, die suggerieren, seine kostbare Zeit möglichst produktiv zu nutzen. Sobald betriebswirtschaftlich anmutende Begriffe in unser Zeitkonzept eintauchen, sollte man stutzig werden. Will da vielleicht jemand mit meinen spärlichen Momenten – natürlich rein uneigennützig – ins Geschäft kommen?

Zeitstillstand (Foto Arnold Illhardt)
Zeitstillstand (Foto Arnold Illhardt)

Doch zurück zum Zeitvertreib! Der Ausdruck zeigt, dass es Sinn macht, Worte zu hinterfragen. Beginne ich damit, meine Zeit zu vertreiben, bin ich ultimativ auf einem falschen Weg oder wahlweise Dampfer. Entweder bin ich auf einen blöden Philosophen reingefallen oder das gesellschaftliche Manifest von der Notwendigkeit menschlicher Betriebsamkeit hat sich auch in mein Zeitverständnis eingefressen. Es geht weder darum, Zeit zu vertreiben, noch sie stets in welcher Form auch immer zu nutzen, sondern schlicht und ergreifend darum, Zeit für sich zu haben und dafür zu sorgen, dass ich sie in ausreichendem Maße bekomme!

Heute fand ich eine Aufzeichnung von einem Urlaub auf Korsika in dem kleinen Dörfchen Ota. „Meine Konzentration ist auf Details fokussiert. Minutenlang beobachte ich die galanten Bewegungen der Geckos, die sich mal gegenseitig jagen, mal in der Sonne ihre Yogaübungen absolvieren. Ich bewundere die Farbenpracht der Blumen, die sich aus liebevoll drapierten Kübeln recken oder aus Mauerspalten herauszwängen. Vor allem das Durchhaltevermögen und die Genügsamkeit dieser Pflanzen faszinieren mich. Manchmal kommt ein struppiger Hund zum Kraulen vorbei, den ich in den letzten Tagen kennengelernt habe. Auf unserem kleinen Tisch im Schatten unseres alten Hauses, das wie all die anderen hier in Ota am Felsen klebt, liegt ein Buch. Vielleicht werde ich gleich ein paar Seiten lesen, vielleicht auch nicht…. Seit gestern sind die vom Arbeitsstress herrührenden Magen- und Rückenbeschwerden verschwunden. Ich lausche noch einmal in mich hinein: Nein, keine Symptome, die mich außerhalb des Urlaubs plagen und mir manchmal schon morgens den Tag vernebeln. Wie gut das Nichtstun mir bekommt! Es lebe der Müßiggang!“