Politisches Selbstverständnis
Wenn demokratisches Fehlverhalten zur Normalität wird

Das Ziel eines politischen oder gesellschaftlichen Prozesses ist es, zu einem Selbstverständnis und damit zu einer Normalität zu werden. Selbst dann, wenn es sich um zwielichtige oder gar menschenverachtende Prozesse handelt. Ein Streiflicht.

Unser Leben ist ein komplexes Unterfangen……

… und mit dem Fortschreiten der Moderne mit ihrer medialen Überflutung und einem verwirrenden Informationsoverkill trotz technischer Hilfen nicht weniger kompliziert und vielschichtig. Das Problem: Unsere Wahrnehmung ist ständig überfordert und sucht sich Mittel und Wege, Komplexität zu vermindern und die Wahrnehmung nebst ihrer Verarbeitung auf ein erträgliches Maß zu verringern. Wenn wir schon fünf Stunden Fernsehen gucken, um uns von den Strapazen unserer harten und unterbezahlten Arbeit zu erholen, dann – bitteschön – nicht nur was den Bildschirm anbetrifft – im Flachformat. Eine ganze Bewusstseins- und Ablenkungsindustrie hat das für UNS erkannt und bedient unser Bedürfnis nach gedanklichem Runterschalten und Wahrnehmungsverwässerung. Wir hinterfragen es nicht mehr. Genau das lässt sich gewinnbringend nutzen!

Ein Resultat unserer durch uns selbst oder von außen gesteuerten Gedanken- und Wahrnehmungsprozesse ist u.a. das Erreichen eines Selbstverständnisses. Darin enthalten sind die beiden Begriffe

  • „selbst“ = dieses Resultat gilt zunächst einmal für das entsprechende Phänomen und
  •  „Verständnis“ = die Menge an (Hintergrund-) Wissen, um eben jenes Phänomen zu verstehen.
Politisches Selbstverständnis (Foto Arnold Illhardt)
Politisches Selbstverständnis (Foto Arnold Illhardt)

Selbstverständnis könnte aber auch bedeutet, dass besagtes Verstehen sich nur auf meine ganz eigenen Überlegungen bezieht. Dass ein Rasen außer in Zeiten von Sommerdürre grün ist, stellt ein absolutes Selbstverständnis dar, da vermutlich bis auf extrem farbenblinde Personen alle Menschen der gleichen Meinung sind. Allerdings bedeutet ein gewisses Selbstverständnis nicht automatisch, dass es damit auch richtig ist. Dass es ein weiteres Selbstverständnis ist, das die Schnittlänge eines Rasens immer 3,85 cm betragen muss, halte zumindest ich für ausgemachten Blödsinn. Man sieht also: Bei einem Selbstverständnis kann es sich auch um Geschmackssache, Einstellung, Gewohnheit, aber auch um eine gesellschaftliche Übereinkunft handeln. Nichtsdestotrotz wird ein Kurzrasenfan seine Vorliebe für Bonsaischnitte für ein Selbstverständnis halten und dies vermutlich vehement in Gärtnerforen oder beim Stammtisch „Grüner Daumen“ vertreten. Deshalb gibt es auch so wenig wilde Wiesen.

Selbstverständnis als Ziel

Vielleicht ist das Kurzrasenbeispiel kein besonders gutes, weil es ja – mal abgesehen von ökologischen Gesichtspunkten – piepegal ist, wie man seinen Rasen schneidet und ob man ihn überhaupt guillotiniert. Doch das Beispiel wird dann interessant, wenn man es weiterdenkt bzw. auf andere Bereiche überträgt. Man kann sich vorstellen, dass es bestimmte Instanzen gibt, die großes Interesse daran haben, dass eine Sache zum Selbstverständnis für uns Menschen wird. Und Selbstverständnis bedeutet immer auch, dass etwas nicht weiter hinterfragt wird. Wie kann das am besten beeinflusst werden? Indem es so geschickt und verdeckt vonstattengeht, dass der ganze Prozess nicht wahrgenommen wird. Irgendwann gelingt es, Dinge, die gar nicht im Fokus des Interesses stehen, zu einem Selbstverständnis bei Konsumenten werden zu lassen. So ist die Werbeindustrie unentwegt damit beschäftigt, über intransparente Wege die Einstellung und damit das Kaufverhalten der Menschen zu beeinflussen. Natürlich möchte NIKE, dass alle mit dem Logo auf dem T-Shirt rumlaufen, da auf diese Weise das Selbstverständnis entsteht, dass nur der oder die cool ist, der oder die „NIKE“isiert ist. Wie gut die Entstehung eines Selbstverständnisses gelingt, zeigt sich an dem Boom an E-Bikes. Obschon eigentlich bekannt ist, dass die dort verwendeten Akkus ökologisch unausgereift sind, ein Umweltvorteil nur dann zu verzeichnen ist, wenn die Räder über sehr große Strecken und einen langen Zeitraum im Einsatz sind, und der Vorgang des Radelns kaum mehr etwas mit Sport zu tun hat (die Internisten warnen schon vor den Folgen der Schummelmotoren), gehen sie weg wie warme Semmeln. Es ist zu einem Selbstverständnis geworden, elektronisch bewegt zu werden, anstatt mit 100%iger Eigenenergie zu radeln. Eine Kritik an dieser vorgetäuschten ökonomischen Mobilität führt regelmäßig zu bösen Diskussionen; natürlich beruft man sich dabei auf die Argumentation der E-Bike-Industrie. Das Prinzip des Selbstverständnisses hat hier 100%ig gepackt, da sich die E-Biker in vollem Umfang als Retter der Umwelt sehen und Nachteile nicht mehr infrage stellen.

Politisches Selbstverständnis

Warum sollte das Prinzip eines von außen gelenkten Selbstverständnisses nicht auch politisch funktionieren? Die Frage ist suggestiv gestellt, denn den meisten Menschen ist hinlänglich bekannt, dass eine politische Beeinflussung der Bürger durch Medien, Propaganda und bestimmte Narrative stattfindet und längst als ein zwar lästiger, aber normaler Prozess wahrgenommen wird. Und hier begegnet man das erste Mal einem politischen Selbstverständnis. Es ist doch interessant: Obschon wir einen politischen Vorgang für nicht richtig halten, nehmen wir ihn als gegeben hin. Wenn über einen Politiker bekannt wird, dass er oder sie entgegen demokratische Grundsätze gehandelt oder seine Handlungsrichtung ausschließlich an die Vorgaben der Industrie angepasst hat, so wird dies zwar in den Medien kritisch diskutiert, führt aber nicht zu Veränderungen. Die Halbwertszeit bei facebook beträgt keine zwei Tage, das lässt sich politisch gut nutzen, weil dann die Information von der Bildfläche verschwunden ist. Auch eine Zeitung berichtet darüber nur einmal. Da ein demokratisch fragwürdiges Vorgehen bei fast allen Politikern auftaucht, gilt das oben beschriebene Verhalten als ein Prozess, der immer wieder vorkommt und damit einen normalen Teil des demokratischen Alltags ausmacht. Er wird somit ebenfalls zu einem Selbstverständnis versanden: Politiker sind nun mal so. Es gilt schließlich als Selbstverständnis, dass Fehltritte bis auf wenige Ausnahmen keine Folgen haben, da sie sich in einem akzeptierten Spielraum befinden. Das Selbstverständnis heißt dann eines Tages: Da kann man sowieso nix machen!

Bereits an dieser Stelle ließe sich festhalten, dass der kritische Journalismus prozessorientiert berichten muss. Ein politischer Vorgang, der aufgrund seiner Beanstandung aufgefallen ist, sollte nicht nur in einem Artikel an einem Tag auftauchen, sondern in seiner Prozesshaftigkeit verfolgt werden: Was ist nach einer Woche, nach einem Monat daraus geworden? Es gibt zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die genau das machen: Sie sammeln Unkorrektheiten, listen sie über einen längeren Zeitraum auf, veröffentlichen sie und prangern dies öffentlichkeitswirksam an. Aufmerksamen Zeitgenossen dürfte aufgefallen sein, dass in den letzten Jahren alles Mögliche aufgefahren wurde, um den NRO´s die Arbeit zu erschwerden: bösartige und vor allem falsche Unterstellungen, Entzug der Gemeinnützigkeit etc. Warum geschieht das? Weil solche parteilosen Vereinigungen ihre Finger in politische Wunden legen und damit Selbstverständnisse aufzulösen drohen.

Wenn demokratisches Fehlverhalten zur Normalität wird

Politisches Selbstverständnis 2 (Foto Arnold Illhardt)
Politisches Selbstverständnis 2 (Foto Arnold Illhardt)

Aktuell liest man in vielen Medien, außer vielleicht den CDU-gesteuerten, dass der momentane Gesundheitsminister Jens Spahn trotz anderslautenden Versprechungen seinerseits „…sensible Gesundheitsdaten von 73 Millionen gesetzlich versicherter Bürger … mittelbar dem Zugriff der gewinnorientierten Gesundheitswirtschaft ausgesetzt…“ hat. (https://www.heise.de/tp/features/Spahn-oeffnet-Industrie-Hintertuer-zu-Versichertendaten-4868197.html) Dieser Vorgang, natürlich von Spahn selbst abgestritten, bedeutet eine enorme „Bedrohung für alle persönlichen und personenbezogenen Gesundheitsdaten“ (ebenfalls heise.de). Der Gebrauch des Adjektivs „enorm“ besagt, dass es sich hier nicht um das übliche Gemauschel im Kleinen handelt, sondern um einen Vorgang im großen Rahmen. Aber es scheint niemanden so richtig zu stören und ist momentan in seiner Bedeutung abgeebbt, da man sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen muss. Es ist ein Beispiel von vielen, wie mehr als bedenkliche Prozesse zu einem Selbstverständnis werden – können. Vermutlich müssen nur genügend politische Desaster in möglichst kurzen Abständen auftreten, um den Wähler, aber auch Anderswähler an die Umstände zu gewöhnen. Es ist somit zu einem Selbstverständnis geworden, dass sich Abläufe anfangs desaströs anhören, später aber als akzeptiertes Ergebnis zur Normalität werden.

Selbst dann, wenn ein Staat wie z.B. die Türkei oder Arabien, mit menschenverachtenden, ja gar menschenvernichtenden Mitteln arbeitet, stehen wirtschaftliche Bedingungen im Vordergrund und es ist Teil eines Selbstverständnisses, den politischen Kontakt zu solchen Regimen aufrechtzuerhalten (Übrigens stört es auch potentielle Urlauber nicht, in solchen Folter- und Hinrichtungsstaaten Urlaub zu machen!.) Auch die AfD bedient sich ständig des Prinzips, politisches Selbstverständnis aufzubauen; da ist wirklich jedes Mittel recht. Unter Zuhilfenahme eines Rotationsmechanismus, was den jeweiligen Politiker anbetrifft, wird ein demokratie- und menschenfeindliches Verhalten nach dem anderen praktiziert, um sich so langsam dem „Endziel“ einer autoritären, national-völkisch geprägten Regierungsform anzunähern. Der Gewöhnungsprozess ist enorm und das politische Selbstverständnis gewaltig. Das Selbstverständnis der überwiegenden AfD-Wähler ist: Die Partei tut was gegen Flüchtlinge. Alle anderen politischen Bestrebungen, die eine Gleichschaltung auf allen Gebieten und eine Ausschaltung der Demokratie beabsichtigen, werden ausgeblendet oder – wie ich in Gesprächen oft festgestellt habe – gar nicht gewusst.

Anderes Beispiel:  Bei einem arbeitsbedingten Besuch im Bundestag vor wenigen Jahren, eingeladen von einem CDU-Abgeordneten aus der Region, fragten wir den Politiker, was er denn zu den damals am Vortag stattfindenden Anti-TTIP-Demonstrationen in der Hauptstadt sage. Seine Antwort (sinngemäß): Man kann sich nicht um alles kümmern, was der Mob da draußen schreit. Mich erinnerte dieser Satz an ein Zitat von Dieter Hildebrand:

„Es ist beruhigend festzustellen, dass die, die uns regieren, eigentlich gar kein Volk brauchen.“

Eigentlich hätte man diesen Analogdemokrat direktemang vom Dienst suspendieren müssen, aber haben wir uns nicht auch daran bereits gewöhnt, als Bürger nur noch über Wahlen im aktiven Part der Parteipolitik zu stehen? Dass es ein Selbstverständnis geworden ist, liegt daran, dass wir nicht suspendieren können. Niemand kontrolliert die Politiker, außer sie sich selbst. Wohlwollend, versteht sich.

Übrigens sind solche Vorgänge nicht CDU-affin; sie sind Usus in fast jeder Partei. In einem Interview der Hannoverschen Zeitung mit der GRÜNEN-Politikerin Franziska Brantner (Juli 2019) über einen möglichen Militäreinsatz mit deutscher Beteiligung in der Straße von Hormus innerhalb des Konflikts mit dem Iran kann sich die Vertreterin einer friedensbewegten Partei dies unter dem Dach der europäischen Union vorstellen. Auch dass Jürgen Trittin, damals Umweltminister, 2001 vor Demonstration bezüglich der Atommülltransporte nach Gorleben warnte und diese auf süffisante Weise kommentierte, widerspricht eigentlich der Vorstellung, die man von den GRÜNEN als Anti-Atomkraftpartei hat(te).

Alle Beispiele belegen, dass politische Entscheidungen oder Aktivitäten, die falsch, umweltgefährdend, antidemokratisch oder menschenfeindlich sind, dennoch irgendwann zu einem Selbstverständnis werden, das selbst von vermeintlich kritischen Personen verteidigt wird.

Veränderungsansatz: Mehr Transparenz

Noch neulich führte ich eine Diskussion, die sich auf das Demokratieverständnis oder – besser gesagt – Demokratie“selbstverständnis“ bezog. In diesem Zusammenhang hatte ich mich für mehr Basisdemokratie stark gemacht. Demokratie, so zur Nachhilfe, bedeutet, dass die Macht vom Volke ausgeht, aber – damit wären wir wieder bei der eingangs formulierten Komplexität – von einer repräsentativen, gewählten Regierung ausgeübt wird bzw. angeblich ausgeübt werden muss. Wenn ich meinem Nachbarn für eine Weile meinen fiktiven Wellensittich zwecks urlaubsbedingten Versorgung überlasse, möchte ich ihn irgendwann zum einen gerne wiederhaben, zum anderen aber auch wissen, wie es zwischenzeitig ging, ob er genug gefressen hat und hin und wieder etwas Gelegenheit zum Freiflug hatte. Sollte er bei Urlaubsende verstorben oder weggeflogen sein, erwarte ich schon eine genaue Begründung, warum und wie es passiert ist. Bei einem Gespräch mit einem eigentlich netten GRÜNEN-Poltiker über Transparenz in der Politik, wollte er mir allen Ernstes verständlich machen, dass es nicht gut sei, den Bürger zu sehr zu involvieren, da die Prozesse zu kompliziert seien. Wo ist die Logik? Je mehr ich eine Person in einen Vorgang nicht einbeziehe, desto weniger wird er den Vorgang beherrschen bzw. durchschauen. Ein Mitarbeiter einer Firma, der die Abläufe des Betriebs kennt, wird sicherlich motivierter sein, seine Arbeit zu leisten, als ein nicht-informierter. Die täglich ans Tageslicht kommenden Verstrickungen von Politikern in einem überbordenden Lobbyismus funktionieren natürlich umso besser, je weniger transparent Politik ist. Aber was machen Politiker mit der Macht? An welcher Stelle vertreten sie meine Bedürfnisse und wo setzen sie sich über ihre Wahlversprechungen hinweg? Wo genau findet gelebte Demokratie noch statt? Und so heißt am Ende des Tages das politische Selbstverständnis: Es passieren dort Dinge, die keiner versteht, aber auch nicht verstehen kann, weshalb sie eben passieren, ob man will oder nicht. Basta! Wer mit einem solchen Verständnis leben kann, ist ein guter Bürger, wer dagegen rebelliert, ist systeminkompatibel oder gar radikal!

Politisches Selbstverständnis 3 (Foto Arnold Illhardt)
Politisches Selbstverständnis 3 (Foto Arnold Illhardt)

An dieser Stelle kommt alsbald der Begriff des Populismus ins Spiel, der vor allem ein negatives Narrativ besitzt. Aber warum eigentlich? Populismus in der Politik bedeutet in seiner ureigenen Bedeutung, dass politische Aktivitäten so verlaufen, dass das Volk sie verstehen und auf sich beziehen kann. Sollten Volksnähe, Transparenz oder Verständlichkeit nicht Grundprinzipien der Demokratie sein? Heute ist der Begriff deswegen negativ behaftet, weil er zum Ausdruck bringt, dass ein Politiker oder eine Partei eine populistische So-Als-Ob-Haltung hat: Er oder sie gibt vor, auf der Seite des Volkes zu sein (so wie die AfD es heuchelt), dabei geht es nur um die Stimmen, um damit autoritäre, faschistische und/oder diktatorische Strukturen zu legen. Eine Politik sollte populär und nicht elitär sein, aber wir sollten alles daran legen, diesen Begriff zurückzugewinnen.

Veränderungsansatz: Kriterien für politisches Handeln

Mein politisches Selbstverständnis beinhaltet, zu jeder Zeit zu wissen, warum was wie passiert; ich möchte nicht, dass Hinterzimmerverhandlungen geführt werden, sondern dass höchstmögliche Transparenz besteht. Wir sollten uns endlich von rechts und links als politische Richtungen verabschieden. Wichtig ist doch, ob sich gesellschaftliches Denken an Kriterien wie Menschlichkeit, Vielfalt, Frieden und kreativen Lösungen (etc.) orientiert. Wenn nicht, ist es unbrauchbar. Sollte es nicht einen allgemein verbindlichen Katalog geben, der politisches Handeln reglementiert? Das Manifest des Konvivialismus, hervorgegangen aus einem internationalen wissenschaftlichen Kolloquium, erstellte einen solchen Katalog auf den vier Fragen der Moral, Politik, Ökologie und Ökonomie. Daraus ließe sich ein politisches Selbstverständnis entwickeln, dass sich an solchen im Vorfeld verfassten Kriterien orientiert. Parteipolitik müsste sich an der Umsetzung solcher Kriterien messen lassen. Es ist eine Vision – ich weiß – denn gäbe es einen solchen Katalog, müsste man die meisten Parteien aufgrund von Zuwiderhandeln auflösen. Und das entspräche nicht dem gängigen politischen und von elitärer Stelle vorgegebenen Selbstverständnis.