Julian Barnes‘ Roman handelt von der Weltgeschichte. Sie umfasst nicht viele Bände von A-Z Geschichte wird bestimmt von Geschichten. Und die sind 1) spannend und 2) manchmal zum Lachen, aber machen immer nachdenklich. Anmerkungen zu dem Buch „Weltgeschichte in 10½ Kapiteln“.
Im Laufe meiner Studien habe ich haufenweise Geschichte mit dem Warum einer Ereignisfolge lesen müssen, wie ein VW-Käfer: und las, und las, und las… Und jetzt Weltgeschichte in 10½ Kapiteln und 437 Seiten? Ein Witz, oder? Nein! Den Roman von Julian Barnes stelle ich dar, weil er mir so gefallen hat. Er ist ein wunderbares Buch, locker, frech und sarkastisch und noch nie habe ich Geschichte als so spannend erlebt. In den einzelnen Kapiteln werden nicht besonders wichtige Episoden der Geschichte dargestellt, sondern Episoden, die unsere Perspektive verändert haben. Am Anfang steht Urgeschichte, aber so komisch (warum nachher), dass man lacht. Und das bei Geschichte! Ein Kapitel besteht aus Liebesbriefen eines Schauspielers. Ein sehr ernster, aber faszinierender Hintergrund.
Das einzige, was mir fehlt, ist ein Kapitel über soziale Probleme, die unsere Geschichte wesentlich bestimmen. Aber Barnes spricht immer wieder davon. Ein fehlendes Kapitel wäre etwa die Ungerechtigkeitsgeschichte von Arm gegen Reich und ihrer verschiedenen Interessen. Der Anfang von Konflikten und Kriegen.
Und wieso Holzwurm? Weil Barnes Geschichte immer aus überraschenden Perspektiven erzählt, etwa im 1. Kapitel aus der Perspektive eines Holzwurms. Daher der Titel. In allen Kapiteln kommt irgendwo die Arche vor. Biblisch gesehen, ist das quasi der Neuanfang der Weltgeschichte. Auch dieser zweite Anfang ist problemgeladen.
Skizzieren wir also die 10½ Kapitel. Nach jeder Kurzbeschreibung kommt ein wörtlicher Abschnitt aus dem Roman, zur Kenntlichmachung eingerückt. Was das mit dem ½en Kapitel auf sich hat, steht in Kapitel 8.
Kapitel 1: Der blinde Passagier
Ein Holzwurm erzählt von der verhängnisvollen Aufteilung der Tiere in Rein und Unrein, die in die Arche getrieben werden, von Noah, dem dummen und brutalen Kapitän, seiner geilen Frau, seinen bekloppten Söhnen, ganz anders als in der Bibel.
Ihr meint vielleicht immer noch, dass Noah […] im Grunde so etwas wie ein früher Naturschützer war, dass er die Tiere eingesammelt hat, weil er sie nicht aussterben lassen wollte und […] nicht ertragen konnte, nie wieder eine Giraffe zu sehen, […] Er hat uns zusammengetrommelt, weil sein Rollenvorbild [Gott] ihm das aufgetragen hatte, aber auch aus Eigennutz […]. Er wollte etwas zu essen haben, wenn die Sintflut zurückgegangen war.
Kapitel 2: Die Besucher
Auf dem Kreuzfahrtschiff Santa Euphemia befindet sich der Ausflugsleiter und bekannte Fernsehhistoriker Franklin Hughes (F.H.) mit seiner Sekretärin. Er verbindet Amouren und Beruf. Das Schiff wird von arabischen Terroristen gekapert. Hughs soll den Geiseln den „historischen Aspekt der Sache“ vermitteln.
Es entspinnt sich eine Diskussion mit dem Anführer der arabischen Terroristen (A.T.):
(A.T.) „Sie. Wenn sich also nicht sehr bald etwas ändert, werden wir gezwungen sein, Druck auf sie auszuüben“
(F.H.) „Druck?“ Selbst Franklin, der ohne Euphemismen einzusetzen, beim ernsehen keine Karriere gemacht hätte, war außer sich. „Sie meinen Menschen umzubringen?“
(A.T.) „Das ist (…) der einzige Druck, den sie verstehen. Es geht auf der Welt nur vorwärts“
(F.H.) „… wenn man Menschen umbringt? Eine fröhliche Philosophie.“
(A.T.) „Die Welt ist kein fröhlicher Ort.“
Kapitel 3: Die Religionskriege
Barnes zitiert die Gerichtsakten eines seltsamen Vorgangs: Am 22. April 1520 wird einmal jährlich der Bischofsthron in der Kirche Saint Michel benutzt. Unter dem Gewicht des Bischofs zu Besançon bricht er zusammen, und der Bischof nimmt dabei schweren Schaden, und fiel „in die Finsternis der Blödigkeit“. Den Verursachern wird der Prozess gemacht: also den Holzwürmern. Ein Auszug aus dem Verfahren. (Der Verteidiger der Holzwürmer war der Rechtsgelehrte Bartholomé Chassenée.) Eine urkomische, aber tatsächliche Geschichte.
Beschluss des Richters, der die Kirche vertritt: Holzwürmer werden exkommuniziert. (Kein Zitat)
Kapitel 4: Die Überlebende
Im festen Glauben, der Atomkrieg sei ausgebrochen, verlässt die feinfühlige Kathleen Ferris ihren Mann Greg und fährt mit dessen Boot und zwei Katzen aufs Meer hinaus in die Freiheit/sgeschichte. Als sie fast tot auf dem Meer gefunden wird, kommt sie in die Psychiatrie. Ist sie verrückt oder hat sie eine verrückte Vorstellung von Freiheit? Was daran ist eigentlich Geschichte? Auf See unterwegs wie Columbus? Albträume?
Kathleens Schulreim: Eins- und vier und neun- und zwei (= 1492)
begann Columbus‘ Segelei.
Und was dann? Bei denen hört es sich immer so simpel an. Namen, Daten, Erfolge. Ich hasse Daten. Daten kommandieren einen herum. Daten wissen immer alles.
Kapitel 5: Schiffbruch
Geschichte 1 erzählt von der im Juli 1816 an der westafrikanischen Küste aufgelaufenen französischen Fregatte Medusa und ihrer Besatzung. Da die anderen Schiffe des Verbandes nicht alle Besatzungsmitglieder aufnehmen können, wird für 150 Mann ein Floß gebaut – und sie bleiben sich selbst überlassen. Nach vielen grauenvollen Tagen werden nur noch 4 Überlebende gerettet.
Und nun musste die entsetzlichste Entscheidung getroffen werden. Beim Durchzählen ergab sich, dass sie siebenundzwanzig waren. Fünfzehn davon würde wohl noch einige Tage leben; die übrigen, die schwere Verletzungen erlitten hatten und von denen viele delirierten, hatten äußerst geringe Überlebenschancen (…) Und so kamen, nach einer Debatte, die von furchtbarster Verzweiflung beherrscht war, die fünfzehn Gesund überein, ihre kranken Kameraden müssten zum gemeinen Wohle derer, die noch überleben könnten, in das Meer geworfen (…) Die Gesunden wurden von den Ungesunden geschieden wie die Reinen von den Unreinen.
Geschichte 2 stellt die Szene des Schiffsbruchs dar und vergleicht es mit dem 1819 fertiggestellten Bild von Jean Louis Théodore Géricault, das aber unter dem Namen „Das Floß der Medusa“ bekannt wurde. Grundfrage ist, ob man aus Katastrophen Kunst machen kann und ob das Geschichte ist.
Die abendländische Kunst ist nicht prüde, wenn es um ausgestochene Augen, abgeschlagene Köpfe in Säcken, zu Opferzwecken amputierte Brüste, Beschneidung und Kreuzigung geht […] Nehmen wir mal den Offiziersklassen-Noah, zum Beispiel. Es gibt allem Anschein nach erstaunlich wenige Bilder von seiner Arche. Ein paar ulkige amerikanische Naive […], aber sonst fällt einem nicht viel ein. Adam und Eva, die Vertreibung, die Verkündigung, das jüngste Gericht – das alles ist von bedeutenden Künstlern zu haben. Aber Noah und seine Arche? Ein bedeutender Moment in der Geschichte des Menschen.
Kapitel 6: Der Berg
1840 unternimmt Amanda Fergusson zusammen mit ihrer Gesellschafterin Miss Logan eine Expedition nach Ahira. Dort soll Noah nach der Sintflut gelebt haben und seine Arche gestrandet sein. Die Reise an die Hänge des Ararat soll eine Art Pilgerfahrt für die Seele ihres jüngst verstorbenen ungläubigen Vaters werden. Auf dem Abstieg kurz nach dem zweifelhaften Fund starb Miss Fergusson in einer Höhle.
Miss Fergusson hatte, als sie das erste Mal vor dem mit einem Heiligenschein umgebenen Berg stand, behauptet, dass es für alles zwei Erklärungen gebe, dass jede davon den Einsatz des Glaubens verlange und dass uns die Willensfreiheit gegeben sei, damit wir unter ihnen wählen können.
Kapitel 7: Drei einfache Geschichten
In Geschichte1 lernt ein junger Mann Lawrence Beesley kennen, der einst die »Titanic«-Katastrophe, so erzählte er allen, überlebt hatte. Aber auf der Liste der Geretteten fehlte er. Was ist wirklich passiert? Hat er betrogen, bis er in New York ankam und seine Existenz als Überlebender begann? Der junge Mann las im College einen Reim:
Das Leben sei Betrug, worauf ein jeglich Ding hindeute,
so glaubte einst auch ich – und weiß ich heute.
[…] Beesley war […] versessen darauf, in der Fiktion eine alternative Version von Geschichte zu erleben.
Geschichte 2 erzählt von der seltsamen Begebenheit des Jona im Bauch des Wales. Sie ist zoologisch falsch. Kein Mensch kann dort länger überleben. Ist diese Geschichte wie vieles in der Bibel ein Mythos? Nahezu identisch ist der Bericht eines Seemannes, der von einem Wal gefressen wurde und sich in dessen Magen aufhielt.
Im Grunde ist das, was uns bei der Geschichte von Jona mit dem Walfisch noch immer packt: (…) Angst vor dem Totsein. Wir reagieren genauso lebhaft wie jede andere todesbange Generation vor uns, seit irgendein sadistischer Seefahrer diese Legende erfunden hat im Bestreben, dem neuen Kabinenjungen einen Schreck einzujagen.
Geschichte 3 berichtet von der schrecklichen Irrfahrt der »St. Louis« im Sommer 1939, deren Passagiere – 937 jüdische Auswanderer aus Nazi-Deutschland – trotz gültiger Papiere, Tickets und Transitvisa erst von Kuba die Einreise verweigert wird, dann von allen amerikanischen Staaten. Ein Fantasiepreis von 50.000 $ wurde vereinbart. Nach 40 Tagen und über 10.000 Meilen Irrfahrt werden die Nirgendwo-Erwünschten verteilt über Belgien, Holland, Frankreich und Großbritannien aufgenommen.
Was kostet ein Flüchtling? Das kommt darauf an, wie verzweifelt er ist, wie reich sein Schutzherr, wie gierig sein Gastgeber. In einer Welt der Einreisegenehmigungen und Panik werden die Preise immer vom Anbieter bestimmt.
Kapitel 8: Stromaufwärts!
Briefe des Schauspielers Charlie aus dem südamerikanischen Dschungel an seine Freundin Pippa in London. Dort will eine Film-Crew das einstige Schicksal zweier Jesuiten verfilmen. Charlie versucht seine Beziehung zu retten, weil er seine Freundin angelogen hat. Seine Beziehung hat ein trauriges Ende. Charlie schreibt in einem Brief:
Ich glaube auch, das kommt von den Städten, dass die Leute einander anlügen. Hältst Du das auch für möglich? Diese Indianer lügen nie, genau wie sie nicht wissen, wie man schauspielert.
Kapitel „in Klammern“
Dieses Kapitel enthält viel Nachdenken, was über die Erzählung hinausgeht. Darum heißt es „In Klammern“ und ist – so folgere ich – Kapitel 8½. Es sinniert über die Liebe, erzählt nicht, ist zwar konkret, aber eine Art Nachdenken. „Im Bett liegen / Im Bett lügen“ – das passt nicht. Komisch, Geschichte ohne Liebe geht nicht. Warum nicht? Lies!
Wir verlieben uns natürlich nicht, um der Welt bei ihren Egoproblemen auf die Sprünge zu helfen (…) Liebe und Wahrheit, das ist die lebenswichtige Verbindung. Haben Sie je so viel Wahres gesagt, wie wenn Sie frisch verliebt waren? Haben Sie je die Welt so klar gesehen? Liebe lässt uns die Wahrheit erkennen, macht es uns zur Pflicht, die Wahrheit zu sagen.
Kapitel 9: Projekt Ararat
Nachdem der Astronaut Spike „Touchdown“ Tiggler auf dem Mond den längsten Pass in der Geschichte der National Football League geworfen hat, sagt ihm eine Stimme: Suche die Arche Noah! Eine Satire der Apollo-Mission (50 Jahre nach der gefeierten Mondlandung) und eine weitere Persiflage auf den christlichen Fundamentalismus. Spike Tiggler macht sich nach der Rückkehr auf, um die Reste der Arche Noah aufzuspüren. Am Ende dieser Tour findet er ein Skelett, das er für das von Noah hält. Ein Institut in Washington diagnostiziert es für ein weibliches Skelett, wohl das von Amanda Fergusson in Kapitel 6. Zwei Dinge sind in dieser Erzählung wichtig:
- a) Warum macht man Mondexpeditionen?
Man kehrt wieder dahin zurück, von wo man aufgebrochen ist. Ich habe 240.000 Meilen zurückgelegt, um den Mond zu sehen – und das wirklich Sehenswerte war die Erde.
- b) Tiggler bricht nach dem Apollo-Projekt zusammen mit einem Arzt und Geologen zu einem Projekt Ararat auf. Fazit:
Ich glaube, wir sollten unsere große Klappe halten, bis wir ein paar Labortests mit Noahs [angeblichen] Kleidern gemacht haben
Kapitel 10: Der Traum
Der Ich-Erzähler schildert seinen Traum von einem hedonistisch-materialistischen Himmel, der ihm lange Zeit alle Wünsche erfüllt, aber dann langweilig wird.
Ich konnte mich gewiss nicht darüber beklagen, wie man mich behandelt hatte. Alle waren von Anfang an fair zu mir gewesen. Ich holte tief Luft. »Ich habe den Eindruck«, fuhr ich fort, »der Himmel ist eine sehr gute Idee, eine perfekte Idee, könnte man sagen, aber nicht für uns. Nicht, wenn man so ist wie wir.« […] »Immer alles zu bekommen, was man will, ist nach einer gewissen Zeit fast so, wie nie etwas zu bekommen, was man will.«
[Was wollen die Leute im Himmel?] Sex, Golf, Einkaufen, Abendessen, Berühmtheiten kennenlernen und dass es einem nie schlecht geht […]
[Erster und letzter Satz des Kapitels:]. Ich habe geträumt, ich sei aufgewacht. Das ist der älteste aller Träume, und den habe ich gerade gehabt.
Meine Deutung
Gewöhnlich erzählt ein Roman vom Schicksal einen Einzelnen. Natürlich, Barnes erzählt, sein Sujet ist Geschichte. Was mich daran so fasziniert hat, ist Folgendes:
- Geschichte und Geschichten
Barnes sieht Geschichte nicht als Kreislauf oder Entwicklungsfortschritt, sondern als Erzählung. Bespiel: Ihn interessiert nicht Christof Columbus, der Amerika entdeckt hat, nicht wie lange er unterwegs war, nicht wo er das Geld für die Expedition herbekam (warum ein Italiener von Portugal finanziert wurde) usw. Ihn interessiert, so schrieb Barnes, was er zu erzählen hat, als er zurückkam. Und da ist nicht wichtig, was das Motiv seiner Expedition war, sondern das, was er noch nicht kannte und von dem er erst erzählen konnte, als er zurückkam.
Genau das lernen wir von Barnes: Geschichte lebt von Geschichten, und Geschichten sind erst interessant, wenn sie von dem erzählen, was man erlebt.
- Geschichte und die neue Perspektive
Da können wir gleich anschließen: Was haben die Biedermänner aus dem Untergang der Titanic gemacht? Den berühmten Song der beiden Verliebten auf dem untergehenden Schiff „My Heart Will Go On“. Man feiert den Untergang. Wo bleiben Geschichte und Geschichten? Oder ist der Untergang ein Symbol für Geschichte?
Julian Barnes packt das anders an. Er erzählt die Geschichte aus der Sicht dessen, der vorgibt, die Katastrophe der Titanic überlebt zu haben, also ein Lügner ist. Alle Kapitel sehen Geschichte aus einer neuen Sicht aus der Sicht des Holzwurms, von Spike Tiggle, oder … oder. Neu – deshalb das Verbot absoluter Meinungen.
- Geschichte als das, was in uns passiert
Geschichte ist nicht die möglichst komplette Sammlung von Fakten. Sie ist das, was die Fakten mit uns machen, sie ist die Hoffnung, unseren Weg nach vorn zu finden, wenn wir unter dem leiden, was uns passiert, und nicht wissen, wo der Ausweg ist. Geschichte ist kein Trost. Wenn Liebe – ob glücklich oder nicht – in uns „passiert“ (sie ist nicht „machbar“), macht das Geschichte sinnvoll.