Tod und Sterben sind ein wirkliches Problem, nicht nur weil Lebenszeit zu Ende gegangen ist. Man fragt sich vor allem, ob dieses Leben in irgendeiner Weise bedeutsam war – nicht zu verwechseln mit „effektiv“. Unser aller Problem ist nicht, Eventmanagement zu betreiben, sondern Lebenszeit zu gestalten. Hier ein Beispiel von Jean Tinguely.
Ehrenkirchen. Tinguelys Totentanz hat mich sehr betroffen gemacht, weil ich mich medizingeschichtlich mit dem Totentanz beschäftigte. Sein Totentanz benützt aktuelle Gegenstände, alltägliches bekommt eine Tiefendimension, die bestürzt. Zwei Dinge habe ich gelernt: 1) Man kann Tod nur im Zusammenhang mit Leben verstehen. 2) Kunst ist ein Instrument der Bewältigung. Zwar nicht das einzige, doch ein unverzichtbares.
Mit dem Schwarzen Tod (Pestwelle von ca. 1347-53) fing alles an, sogar Tinguelys Totentanz aus den 1980er Jahren knüpft daran an. Sterben galt im frühen Mittelalter als Alltagsproblem, bis eine Katastrophe über die mittelalterliche Mentalität hereinbrach, die Pest. Die erste Welle tötete ca. 25 Millionen Menschen, also ein Drittel der Bevölkerung Europas. Weitere Wellen der Infektion überschwemmten einige Landstriche mehrmals im Jahrhundert. Es gab in Mittelalter und früher Neuzeit keine Erklärung, als Schutzmaßnahme (siehe Bild) wurde ein Essigschwamm zur Filterung der mit dem sogenannten Contagion (Ansteckungsstoff) kontaminierten Luft (auch „Miasma“ genannt) in die Nase gestopft. Hinzukam, dass viele Ärzte, Priester, Totengräber und andere mit viel Kontakt aus Angst, infiziert zu werden, flohen, und wer es sich leisten konnte, zog sich, wie in Boccaccios Decamerone dargestellt, in die Einsamkeit oder in kleinen Gruppen zurück. Aber die Angst blieb, Sterben wurde angstbesetzt. Eine Entsolidarisierung der Menschen begann.
Resultat: Es erschienen sogenannte Vado mori-Gedichte und die erste Ausgabe einer ars moriendi mit 14 Holzschnitten. Gemeinsamer Hintergrund dieser Sterbekultur war die Verarbeitung einer Endlichkeit, die seit dem Einbruch der Pest nicht mehr normaler Bestandteil des Lebens war. Sterben wurde zum unnatürlichen Drama. Während die ars moriendi-Tradition in der Reformation abbrach, hielt sich die Totentanzlinie bis ins 19. Jahrhundert, einzelne Themen fand man in der romantischen Malerei wieder. Aktuelle Kunstobjekte stammen von Georg Grosz, Emil Nolde, HAP Grieshaber, Felix Nussbaumer und anderen. Aber ist solche Kunst nicht zu elitär, um in unseren Alltag zu passen?
Gipfel dieser Entwicklung war der Totentanz. Seine Anfänge waren ziemlich kritisch. Eine kurze Charakterisierung: Der Totentanz (40 lebensgroße Steinplatten) trifft alle Vertreter der damaligen Gesellschaft, angefangen bei Papst und Kaiser bis hin zu Einsiedler und Bettelmann in hierarchischer Folge, sie alle stehen unter dem Gesetz des Todes. In jeder Szene wird ein Gerippe dargestellt, das die jeweilige Person zum finalen Tanz bittet. Nach dem Vorbild des ersten Totentanzes oder danse macabre, der 1424 in Paris auf die Friedhofsmauer von Aux St. Innocents gemalt wurde, entstand in Basel ein Totentanz, der sog. Predigertotentanz (der Orden der Dominikaner heißt ordo praedicatorum = Orden der Prediger), der in lebensgroßen Bildern auf die Mauer des Dominikanerklosters gemalt wurde (Abriß 1805, einige Platten im Mseum). Ob das aus Protest gegen das im Dominikanerkloster tagende Baseler Konzil, die bis dahin berühmteste Kirchenversammlung , geschah oder nicht, jedenfalls war eine starke Tendenz zur Gleichheit aller Menschen – vor dem Tod sind Kaiser wie Bettelmann, Papst wie Einsiedler gleich – zu bemerken. Darin liegt eine deutliche Kritik an Kirche und Gesellschaft, die beide ihre Relativität übersehen. Heute ist vieles anders. Tod und Sterben bringen die Kirchen gerne wieder in die Rolle des Eventmanagers. Ist das so richtig?
Immer wenn Tinguely das Haus verließ, passierte er die auch heute noch so genannte Dominikanergasse, den Ort des berühmten Baseler Totentanzes. Hier einige biografische Daten:
* Tinguely wurde 1925 in Friburg UE (Französische Schweiz) geboren
* Im Geburtsjahr Umzug der Familie nach Basel
* Messdiener an der Heiliggeistkirche in Basel und Pfadfinder bis zum Alter von 13 Jahren
* Ausbildung als Dekorateur
* Austritt aus der Kirche 1940
* Nach dem Tod seiner Mutter und eines befreundeten Rennfahrers (Formel 1), der bei einem Rennen ums Leben kam, entdeckte er die Anwesenheit des Todes im Leben. Schaffung einer Skulptur
* Rückkauf seines „Altars“ von La Roche in Basel
* Herzklappen-OP mit mehrtägigem Koma 1980
* 1971 Ehe mit der berühmten Künstlerin Niki de Saint Phalle
* 1986 Verwendung von landwirtschaftlichen Geräten in seinen Kunstinstallationen mit dem Namen „Mengele“, der Familie, aus der der KZ-Arzt Dr. Josef Mengele stammt. Die Installation bekam den Titel „Totentenz Mengele“
* Suche und Besprechung mit einem Architekten über die Statikprobleme einer Kapelle (obwohl Tinguely 1940 aus der Kirche ausgetreten war) für seine Totentanzobjekte
* Rückkauf und Rückgeschenke seiner Installationen
* 1991 Tod Tinguelys
Sein Werk aus den 80er Jahren mit diesen frühen Ereignissen prägte seine Art von Sterbekultur. Seine Kunst ‚muss‘ man nicht mögen, aber man kann an ihr nicht einfach vorbeigehen. Was er macht, gehört ins Leben. So ist z.B. sein Brunnen in Basel am Theaterplatz sehr berühmt.
Aus einem vom Blitz getroffenen und ausgebrannten Bauernhof „rettete“ Tinguely eine Erntemaschine, die er als Maismaschine bezeichnete, mit dem Firmenlogo „Mengele“- nomen est omen. Die Maismaschine selbst verwendetete er für einen Seitenaltar. Für seinen Hochaltar montierte er Platten der Erntemaschine als Ikonografie des Dämonischen, um nur die wichtigsten Details zu nennen. „Drei Prototypen dienstfertiger Zuarbeiter“ (Weyandt) des Nationalsozialismus, die Tinguely als Ministranten (schließlich war er selber einer) bezeichnet (unten rechts im Bild), stehen davor: die Schnapsflasche, Säge und Stab als Symbole der Gewalt und Aggressivität, unten der verkohlte Fernseher, Symbol des Nichtssagenden.
Das ist mehr als eine Kurzbiographie. Einige Momente ragen bei der Schaffung seines Totentanzes besonders hervor. Da ist der Tod seines Freundes, der beim Targa Florio, dem Autorennen in Sizilien, ums Leben kam und durch seinen Seitenaltar erinnert wurde. Die Aura des Todes wurde deutlich, als er im Koma lag. Der Brand eines Bauernhauses, das ‚vollgestopft‘ war mit Leben, diente zur Besorgung des künstlerischen Materials. Auch sein Austritt aus der Kirche spielte eine Rolle: Gerade Leben, das endlich ist, hinterlässt seine Spuren. Tinguely schwankt hin und her zwischen dem Alltäglichen und seiner sakralen Bedeutung. Irgendwie habe ich den – sicher laienhaften – Eindruck, dass die Dinge des Alltags sakrale Bedeutung haben, gewissermaßen als das Sakrament des Zigarrenstummels. Das unterscheidet uns von Tinguely am stärksten.
Zwei Jahre bevor Tinguely den Hochaltar schuf, bekam er eine Klappen-OP, er lobte die Ärzte, die ihn nach mehrtägigem Koma und seine Kreativität während der Rekonvaleszenz wieder auf die Beine brachten. Er zeigte mit seinem Hochaltar die verfremdeten Dinge des Alltags in ihrer Verwobenheit, die Verschränkung von Dämonischem und Sakralem, von Angst und Nutzen, Hilfsbedürftigkeit und Vermessenheit. Er warnte vor der Entartung von Humanität zu Inhumanität und der Hybris. Genau diese Charakteristika der Totalkontrolle des Todes wurden zum Zeitindex der Gegenwart. Mengeles Totentanz wird damit zum Symbol für die „Verwurzelung des Unfasslichen im Unspektakulären und Banalen“ (Weyandt 2001).
Gegen Dr. Mengele hat ihn so aufgebracht, dass er, der Todesengel von Auschwitz, den Tod als Mord und ins KZ abschob. Bei Mengele hat Tod nichts mehr mit dem Leben zu tun, nur mit dem Leben der Herrenrasse, er wird zu einer Funktion der Macht. Aber er ist keine Funktion, sondern er hat eine eigene Bedeutung. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht wieder den Tod zu einer Funktion der Macht und der z.B. medizinischen Kontrolle werden lassen. Dagegen hält Tinguely: „Meine Beziehung zum Tod ist die des Lebens“ (Jocks).
Mengele usurpierte den Tod durch seine brutale Macht, die Planungshoheit ausspielte („Das könnte den Mächtigen so passen, wenn nach dem Tod alles aus wäre …“ – Gedichtanfang von E. Fried). Von dem Fall Mengele abgesehen ist Technik zweifelsohne für den Künstler und auch für uns alle Teil des Lebens und Lebenselixier, sonst würden wir alle sie nicht vorbehaltlos benutzen. Nehmen wir nur als Beispiel der Technik handelsübliche Verkehrsmittel wie Flugzeug, Auto, Zug und Bus. Wir benutzen sie unbedenklich, und doch gibt es die Schattenseite hinter allem. Aber wie stellen wir sie da?
Tinguely stellt nicht den Tod personalisiert à la „Brandner Kaspar“ (Bayrisches Theaterstück) dar. Er zeigt seine Spuren im Leben, mehr nicht. Man braucht wie er die Verfremdung, die Brecht gemeint hat, nicht die pseudorealistischen Geschichten.
Jean Tinguely kreierte 14 Installationen unter dem Namen Mengele Totentanz, eine davon, quasi der Hochaltar der Moderne, war der 1987 geschaffene „Mengele Hochaltar“. Vor nahezu 50 Jahren trat Tinguely aus der Kirche aus und protestierte – ein Motiv des damaligen Totentanzes – damit gegen die „kleine Gewalt“ der katholischen Kirche und verband mit ihr die „große Gewalt“ der NS-Zeit, die den Tod nicht mehr Schicksal sein ließ, sondern verordnete. Auch hier ist ein Vergleich zur Gegenwart möglich. In dieser Konstellation plante Tinguely eine Kapelle mit 14 Altären für jede seiner Installationen inklusive Hauptaltar, das sind die Skulpturen: Spinne, Sonne, Aggression, Mondscheinsonate, Rammbock, Rammbocks Fee, Skarabäus, Bascule, Skorpion, Mutter, Krebs, Targa Florio (= Autorennen in Sizilien) und Transmission de la mort. Für die Einweihung hat Pierre
Boulez mit seiner sehr modernen 12-Ton-Musik eine Komposition zugesagt. Tinguelys Tod 1991 kam dessen Realisierung zuvor.
Zwar sind der Nationalsozialismus und die Moraldominanz der Kirchen vergangen, aber geblieben ist die Kontrolle über das Leben gegen den Tod. So wird etwa nach wie vor – auch im Bundestag – viel über den therapeutischen Einsatz von Embryonen, Palliativmedizin und Sterbehilfe debattiert. Diese Themen haben allesamt mit der Frage zu tun, ob wir Leben abbrechen dürfen. Die Debatte soll nicht wieder angeheizt werden. Aber ist die Diskussion nicht wieder einmal ohne diese Frage abgelaufen, die uns Tinguely gestellt hat: Welche Bedeutung geben wir dem Leben? Tod ist ein Bestandteil des Lebens, nicht nur sein tragisches Ende. Tinguely war hin und her geworfen zwischen Kapelle und Alltag. Wie es scheint, können wir alles, nur nicht mit Ambivalenz umgehen. Im Zweifelsfall wird uns der BGH uns schon juristisch hintertrieben mit Eindimensionalität beglücken.
Und die Moral von der Geschicht? Die Konsequenz ist nicht die triviale Weisheit des – von mir selbst erfundenen wahrscheinlich nicht erfolgreichen – Werbespruchs:
Praktisch denken / Särge schenken.
Die Konsequenz ist komplizierter: Leben bekommt mehr Bedeutung, wenn wir seine Endlichkeit realisieren. Eine einfache Erfahrung: Ein riesiger Wunsch des Kindes ist ein Eis. Wenn es aber bereits viermal (oder wie oft auch immer) ein Eis bekommen hat, ist der Wunsch nach einem weiteren Eis nicht mehr riesig. So ist das auch mit dem Leben. Wenn es unendlich wäre, hätte der einzelne Akt weniger Bedeutung. Wollen wir den Wert des Lebens steigern, müssen wir mit seinem Ende rechnen.
Tinguely sagte, dass er wegen des Lebens den Tod in seine Kunst hineingelassen hat. Platt gesagt: Es gibt auch ein Leben vor dem Tod. Und genau darauf kommt es an: Leben bedeutender zu machen bzw. werden zu lassen, niemanden an der Bedeutung des Lebens zu hindern, aber auch auf solche Perspektiven aufmerksam zu machen.
Übrigens, als ich im Baseler Museum so betroffen vor Tinguelys Totentanz stand, fiel mir wieder eine hintergründige Erkenntnis aus Sigmund Freuds Traumanalyse ein: Bilder helfen Macht über die Katastrophen des Alltags zu gewinnen.
Warum dieses Kulturthema? Das Thema Sterben und Tod hat zwar eine lange Tradition, aber Stichwörter wie Palliativmedizin, Sterbehilfe oder Hospizwesen machen Sterben und Tod gern zu einem Problem der anderen. Aber es ist unser Problem, und wir müssen es „lösen“. Das geht nur,
* wenn wir Sterben und Tod die ihnen eigene Dramatik lassen und
* nicht anderen deren Management, zumindest nicht das ideelle Management, übertragen und
* sie zu einer Phase des Lebens machen,
* vorher das Leben und seine Bedeutung intensivieren sowie
* Sterben und Tod mit Bildern aus dem Alltagsleben vorstellbar machen, ohne es zu identifizieren.