Hölderlin lesen ist ein Abenteuer, keine Frage, mit seinem lyrisch-antikisierenden Schreibstil. Aber das war nur seine Vorderseite. Hinter ihm stand der ins Elend getriebene Mensch, der an seiner Verzweiflung, an dem Seuchentod seiner Geliebten und der zerstörten Natur litt. Verwundung macht sensibel.
Warum bewegt mich Hölderlin? Erstens weil er so verkannt ist. Man kennt ihn meistens nur als den Dichter mit der schwülstigen Sprache. Und was steckt dahinter? Meist wird zweitens übersehen, dass er ein verkappter Grüner ist. Zurzeit ist Naturschutz ein Wort mit politischem Hintergrund. Für Hölderlin ist er viel wichtiger. Er fühlt sich als ein Stück Natur. Natur schützt ihn vor seinem Elend. Und drittens hat bzw. erlitt er eine Geschichte, die für sein Leben Sinn anfragt. Vielleicht wären solche Erzählungen auch für uns sinnvolle Erzählungen.
Wer Hölderlin gelesen hat – vielleicht sogar lesen musste wie ich auf der Schule – hatte sicher Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Ich habe seinen Roman Hyperion oder der Eremit von Griechenland – sonst hat er außer einem anderen Dramenepos nur Gedichte geschrieben – zweimal gelesen. Es geht darin um den Befreiungskrieg zwischen Griechenland und der Türkei. Sein Griechenland war das der Antike mit dem damaligen Götterhimmel. Zunächst dachte ich: Nicht so spannend. Erst als ich den Roman von Peter Härtling über ihn las, habe ich so einiges sehr viel besser verstanden und ihn nochmal gelesen.
Zuerst war Hölderlin der Leseauftrag meines humanistisch (ver- bzw.) ge-bildeten Lehrers. Aber nach Härtlings Romanbiographie wurde das Elend eines verkannten Dichters deutlich. Von Amos Oz stammt der Satz, dass jemand nur Schriftseller sein kann, wenn er eine Verwundung hat. Ich bin sicher, dass Hölderlin eine/einige schwere Wunde/n hatte. Darüber möchte ich schreiben.
Phantastisch war das Buch von Thomas Knubben Hölderlin: Eine Winterreise. Der junge ProfessorDer junge Professor lief wie Hölderlin damals im Winter zu Fuß von Nürtingen (Hölderlins Wohnort) nach Bordeaux – das sind etwas über tausend Km –, um dort eine Hauslehrerstelle anzutreten. Kurze Zeit später ging er den gleichen Weg zurück. Knubben berichtet, wie er im Winter durchschnittlich ca. 50 km pro Tag (Chapeaux!) zurücklegte. Er tat das nicht, um Hölderlin in den belletristischen Himmel zu heben, was er gesehen hat, wie er gegangen ist usw. Er wollte nachempfinden, wie es dem Dichter erging, wie er gelitten hat, wie freundlich die Franzosen und die Dörfer armselig waren. Ein junger Mann auf den Spuren eines Dichters? Die Franzosen tranken mit ihm sogar Bier, um Sympathie zu zeigen usw. Und dass ein Deutscher Dichter in Frankreich arbeitete und ein Deutscher ihm hinterherwanderte … Noch ein Plus der Sympathie. Ich habe das Buch mit Begeisterung gelesen. Wollte Hölderlin überhaupt den Kontakt mit den Franzosen?
Falls jemand Interesse daran hat, hier die Angaben:
Thomas Knubben: Hölderlin: Eine Winterreise. Gebundene Ausgabe 2017. Verlag: Klöpfer (34 €) oder antiquarisch ab ca. 7€
Dass mein Deutschlehrer (religiöse Schule, Eigenheim usw.) uns das nicht vermittelte, verstehe ich – leider erst jetzt. Verrückt: Er gab sich als Agnostiker aus, also als jemand, der Religiöses nicht für klärbar und akzeptabel hält. Faszinierend für uns in den oberen Klassen. Wieso hat er dann nicht Hölderlin verstanden bzw. vermittelt?
Das muss ich unbedingt nachholen. Das bin ich Hölderlin schuldig und allen, die ihn nur ungefähr kennen.
- Der vergebliche Traum der Mutter vom evangelischen Pfarrhaushalt ihres Sohnes
Hölderlin besuchte die Universität Tübingen und wohnte im evangelischen Stift, gefördert von der dortigen Landeskirche für Pfarramtsanwärter. Berühmte Mitschüler waren die Philosophen Hegel und Schelling. Die drei waren das Trio der 3 Friedrichs, weil sie alle den Fritz im Vornamen hatten: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Hölderlin, gewissermaßen ein Dreigestirn, das sich die Studentenbude im Stift teilte. Schwerpunkte der Schule waren Philosophie und Theologie. Die drei schwärmten von der französischen Revolution. Hölderlins Mutter, aus begütertem Hause kommend – nach dem Tod des Vaters und ihres zweiten Ehemanns mit 31 Jahren alleinerziehend – von der Ausbildung ihres Sohnes wegen des Stipendiums überzeugt, m.E. nicht von seinem Lebens- und Gedankenweg.
Holder, wie seine Kameraden ihn nannten, wurde nicht Pfarrer, sondern Hauslehrer. Er wollte frei sein und irgendwann auch Dichter werden, auf keinen Fall Pfarrer. Warum hat die Mutter alles minutiös aufgelistet, was sie für ihren Sohn ausgegeben hat? Erpressung? Das ist nicht gesichert, aber ich spüre das.
Früher war es großartig für eine Mutter, ihren Sohn in mütterliche Hände zu geben, also aus Mutters Händen in die Hände von Mutter Kirche ob katholisch oder evangelisch. Die Frau eines Pfarrers war im evangelischen Pfarrhaushalt für Bibelunterricht usw. zuständig, quasi Gehilfin ihres Mannes für alles Nicht-Liturgische. War Hölderlins Verehrung für Mutter Erde Ersatz für seine Mutter?
Gehen wir ein paar Jahrhunderte weiter voran! In einem psychoanalytischen Referat lernte ich, dass im Vietnamkrieg die Mütter glücklich waren, wenn sie trotz aller Gefahren ihren Sohn in die mütterlichen Hände der Armee geben konnten, die ja für alles sorgte, sogar für die Stiefel. Besser in die Hände der Armee als in die Hände der Schwiegertochter, der großen Konkurrentin?
Kommen wir zurück zu Hölderlins Mutter. Hölderlins Mutter notierte die Ausgaben für die Reise: Anzahl der Hemden usw. Ihr zweifelsohne begabter Sohn war ihr entglitten. Ihre Ideen waren nicht seine.
- Seine Ablehnung von traditioneller Religiosität
Hölderlin wollte nicht Pfarrer werden. Lehrersein bedeutete ihm Freiheit. Seine Anstellung als Hauslehrer gab ihm neben der Freiheit finanzielle Sicherheit.
Seine Freunde, Hegel und Schelling, und er selber waren fasziniert von der französischen Revolution. Die drei Friedrichs haben sogar ein Schriftstück verfasst – Hölderlin war als Formulierungskünstler sehr engagiert -, was die Optionen der französischen Revolution auf die Pädagogik in der Tübinger Universität übertragen wollte.
Früh übt sich, was ein eigensinniger Kopf werden will. Später war er sehr enttäuscht von Napoleon, der die Gedanken der Revolution verraten hat. Mit Napoleon ging die Französische Revolution zuende. Viele hofften auf eine Zeit, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit siegen sollte. Hölderlin sah mehr und mehr, dass die revolutionären Werte verloren gingen.
Griechenlands Krieg, an dem Hyperion, die Hauptfigur seines Briefromans, sich beteiligt, ist ein Freiheitskrieg, kein Religionskrieg à la Götter der griechischen Antike gegen Allah und Islam. Auslöser waren vielmehr Erfahrungen des sog. Ersten Koalitionskrieges (1792-97), den die europäischen Monarchien gegen Frankreich und seine Revolution führten. Ende von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Hölderlin war entsetzt, er verlor Wesentliches, seine Ideen gerieten ins Abseits.
Und warum kam das Christentum weder im Hyperion noch im dramatischen Epos Empedokles vor? Seine Religion sind eher die Verzweiflung und die Wut über die kaputtgegangene Welt, die unsere Spiritualität zerstört hat. Im antiken Flair war sie noch in Ordnung.
Noch ein weiterer Aspekt ist Akzeptiert-sein, wie man ist und sich entwickelt. Bei Hölderlin ging das daneben. Man darf sein, wie man ist. Hölderlin schreibt:
Die Verbindung mit dem All ist sein einziger religiöser Trost, der ihm bleibt. Sonst gingen ja alle Verbindungen zu Bruch. Wichtig ist sein Bezug zur antiken Götterwelt. Nicht ein humanistischer Spleen, sondern alle Dinge in der Natur werden von Göttern repräsentiert. Natur ist göttlich aufgeladen.
- Seine Beziehung zu der verheirateten Suzette Gontard
Diese spannungsreiche Beziehung fiel in Hölderlins Engagement als Hauslehrer der Gontards in Frankfurt. Da Gontard als Bankkaufmann viel unterwegs war, ergaben sich in Erziehungs-, Bildungs- und Kulturfragen intensive Gespräche mit Suzette. Beide im Alter vor 30. Daraus wurde dann auch eine enge Beziehung zu der jungen Frau. Der erste Teil (1797) seines Hyperions wurde vom Verlag akzeptiert. Zwei Jahre später wurde der 2. Teil gedruckt.
Dass Suzette, in dem Roman Diotima genannt, sich dort wiederfindet, ehrt sie natürlich, spiegelt aber auch die Innigkeit der Beziehung wieder. Diotima bedeutet: die von Gott/Zeus geehrte. Aber eher wählte Hölderlin diesen Namen, weil im Symposion von Platon, den er schätzt, Sokrates Diotima als die Frau kannte, die ihm die erotische Liebe beigebracht hat.
Hyperion nimmt Abschied, um in den griechisch-türkischen Krieg zu ziehen. Im Hyperion notiert er den fingierten Brief an Suzette, alias Diotima:
Ob meine Frau diese Liebeserklärung damals angenommen hätte? Heiligsüßes Leben? Wahrscheinlich hätte sie heiligsüß geguckt. Dieser barocke Begriff ist eine für uns seltsame Verbindung von Geheimnisvoll und Sinnlichkeit. Würden wir heute sagen: In das Leben des anderen eintauchen? Nicht mehr nur Ich-sein? Glück liegt im Ich des anderen.
Bevor Hölderlin den 2. Teil des Hyperion 1799 drucken ließ, gab es 1798 einen Eklat zwischen Hölderlin und Herrn Gontard wegen der Beziehung zu Suzette. Hölderlin verließ wütend das Haus und seine Stellung als Hauslehrer. Aber die Beziehung zwischen Hölderlin und Suzette blieb bestehen und wurde m.E. noch stärker.
Das Ende der Beziehung war schlimm. Hölderlin trat eine Hauslehrerstelle in Bordeaux (französische Atlantikküste) an wie schon in der Einleitung erwähnt. Meyer hieß sein Chef, ein sehr reicher Kaufmann, der französische und deutsche Produkte über den Atlantik transportieren ließ. Der hatte Kontakte mit dem Bruder von Suzette, ebenfalls Kaufmann in Hamburg. Zwischen Hamburg und Bordeaux gab es einen regen Austausch. Suzettes Zustand (vermutlich Röteln und TBC [die damalige Pandemiewelle]) und Wochen später ihr sehr kritischer Zustand wurden auf diesem Wege weitergegeben. 1802 kündigte Hölderlin Knall auf Fall seine Stellung, und ging so schnell als möglich – natürlich zu Fuß (vielleicht einen Streckenabschnitt per Postkutsche, mehr konnte er sich nicht leisten) nach Frankfurt, um Suzette auf dem Sterbebett zu besuchen. Als er ankam, war Suzette mit ihren 33 Jahren tot. Hölderlin ging dann nach Nürtingen und kam dort physisch und psychisch total derangiert an.
- Als Hölderlin in Tübingens Narrenturm endete
Hölderlin wurde zunehmend kränker. Im Tübinger Klinikum erfolgte eine 231-tägige, für damalige Verhältnisse als fortschrittlich angesehene Behandlung, offenbar in Folge der Diagnose einer Manie als Folge der Krätze. Keine sozialen oder psychischen Faktoren? Er wurde als unheilbar zurückgeschickt. Ein Tischler sorgte für ihn und gab ihm Kost und Logie im sog. Tübinger Narrenturm.
Diese Unterbringung dauerte von 1807 bis 1843. Finanzielle Unterstützung gewährte die Mutter, nach ihrem Tod erhielt er ihre Erbschaft und einen Ehrensold vom Württembergischen Hof. Aber eine wirkliche Beziehung gab es nicht mehr, abgesehen von einigen gutgemeinten Ratschlägen, wieder Gedichte zu schreiben. Aber Depression und Einsamkeit siegten.
Dieser Fall ist ein Beleg dafür, dass die Behandlung Hölderlins total daneben ging. Aufarbeitung einer falsch gelaufenen Biographie oder wenigstens deren Erkenntnis fehlten. Psychiatrie in dieser Zeit zielte eher auf Wegsperren und Disziplinierung. Es bestätigt sich, dass die Vereinsamung dieses Menschen nur von der Empathie dieses Zimmermann-Ehepaars getragen wurde. Er hatte wohl die meisten Menschen, die er liebte, verloren.
- Hölderlins ökologischer Imperativ
Navid Kermani wurde 2020 der Hölderlinpreis verliehen. Von ihm habe ich großartige Zitate. Hölderlin litt an einer entfremdeten Welt – entfremdet von den Idealen der Antike, vor allem Platons. Sie führt zur Zerrissenheit der Lebensordnung und zur Zerstörung der pflanzlichen und tierischen Natur. Gerade letzteres begegnet ständig. Sein Prinzip:
Die Gegenwart degradiert die Natur, führt gewissermaßen zum Zusammenbruch des Fortschritts, schreibt er im Hyperion. Entzauberung der Welt nimmt überhand.
Hölderlin wird „ver-rückt“, weil die Welt entgleist und vom angeblichen Fortschritt diktiert wird. Dieser Fortschritt, schreibt er ebenfalls im Hyperion, wird von einer „Räuberbande“ bestimmt. Seine Sinnkrise wächst. Religiosität geht in die Brüche. Aber er hofft auf Rettung. Hölderlin wird wie seine kaputte Welt: psychisch kaputt. Das Rettende muss von uns kommen. In seinem Roman Hyperion spricht er mit der Natur:Im heutigen Berlin mit seinem Gerade von Natur liest man Hölderlin nicht.
Ein Wort zum Schluss:
Hyperion ist im Roman aus dem griechisch-türkischen Krieg nach Deutschland zurückgekehrt, flieht aber wieder aus Deutschland und kehrt nach Korinth zurück und schreibt (siehe Briefroman) in einem Brief:
Hölderlins Empfehlung, auch meine: Natur ehren sowie ein schönes Leben arrangieren und genießen.
Wir müssen einen klareren Gedanken fassen: Es geht um Co-Existenz von Mensch und Natur. Französische Klimaaktivisten prägten den Slogan:
Das klingt wie bei Hölderlin. Ich bin sicher, dass er – außer: fuck you, Hölderlin! Wenn es diese Mentalität gäbe – unter Natur mehr versteht als wir. Etwa der Fluss könnte bei ihm ein „Wesen“ sein, das nicht nur ein Ding ist. Vielleicht etwas, das man nicht mehr in Begriffe fassen könnte. Nicht nur zur Bewässerung dient. Zum Hinsehen und Landschaft genießen einlädt. Erinnerungen auslöst usw. Hinter Hölderlin und seiner schwierigen Sprache so viel zu entdecken, fördert Nachdenken und legt Sinn in ramponierten Biographien frei.