Die Psychologie des Unterwegsseins verlässt den üblichen Rahmen, in dem der Mensch zumeist in einem statischen Kontext und einer Unbewegtheit beschrieben wird. Was geschieht in und mit uns, wenn wir unser gewohntes Lebensumfeld verlassen und reisen bzw. unterwegs sind?
In dem sehr lesenswerten Buch der polnischen Literaturpreisträgerin und Psychologin Olga Tokarczuk „Unrast“ stieß ich auf einige Passagen, die mich zu diesen Überlegungen inspiriert haben.
„Wenn wir den Menschen überzeugend beschreiben wollen, können wir das nur tun, indem wir ihn in den Kontext einer Bewegung setzen.“ (OT)
Selbst Psychologe dachte ich über diesen Satz lange nach und musste der Autorin beipflichten: Tatsächlich existiert vor allem eine herkömmliche „…Psychologie, die das Wesen des Menschen immer im statischen Kontext, in stabiler Lage und Unbewegtheit untersucht hat.“ (OT)
Es gibt zwar eine Entwicklungspsychologie, die immerhin den dynamischen Lebensweg vom Kind bis hin zum Erwachsenen aufzeigt, aber die meisten Bereiche unserer Psycho“dynamik“ beschreiben den Menschen in einem statischen Umfeld der Schule, der Familie, des Berufs oder des Ortes, an dem er lebt.
„Der Ort als räumlicher Aspekt ist eine Pause in der Zeit, das vorübergehende Verharren unserer Wahrnehmung bei den Konfigurationen von Gegenständen. Der Ort ist im Unterschied zur Zeit ein statischer Begriff.“ (OT)
Ende der 70er Jahre brach ich zusammen mit meiner damaligen Freundin zum ersten Mal in Eigenregie, eigenem alten VW-Bus und eigener Reiseroute, die allerdings eher einer wilden Spontanität folgte, auf, um Frankreich zu bereisen. Ich hatte viel von dem Land gehört und gelesen. Aber – und hier beginnt meine eigene Psychologie des Unterwegsseins – es sollte zu einer meiner Lebensmaxime werden, mein Fernweh und meinen Drang, unterwegs zu sein, über Medien allenfalls inspirieren zu lassen, mich aber darüber hinaus stets selbst auf den Weg zu machen und dabei die üblichen Reisewege zu verlassen. Zu einem gelebten Leben gehört, wie ich meine, auch ein Leben des Ausprobierens und Experimentierens. Ein einziges Mal in meinen über 60 Jahren buchte ich eine Fernreise nach Ägypten in einem All-Inclusive- Hotel, danach war ich geheilt; was ich fand, war die entsetzliche Ödnis eines Fabriktourismus, der keinerlei Eigeninitiative mehr forderte. Es kam mir vor, als verlagerte man hier seine Einfallslosigkeit nur an einen anderen Ort. Natürlich lässt sich über solche Statements trefflich streiten.
Eine Jugendliche fragte mich einmal, was für mich das Wichtigste in meinem Leben gewesen sei und ich antwortete ihr: Das Reisen und Unterwegssein. Weil es mich gebildet, geformt und geläutert hat. Weil das Verlassen des gewohnten Zuhauses mich in vielerlei Hinsicht neu forderte, meine Perspektive veränderte und vor allem eine Art Meta-Ebene der Selbstreflexion erlaubte. Und immer noch erlaubt.
Wenn so etwas wie eine Psychologie des Unterwegsseins existieren sollte – bis dato war sie mir nicht bekannt – so impliziert dies zunächst einmal die Annahme, dass beim Reisen oder Herumkommen etwas geschieht, was unsere Psyche beeinflusst oder verändert. Oder anders ausgedrückt: Das etwas anders ist bzw. wird, als wenn wir nicht reisen oder unterwegs sind. Geklärt ist zudem nicht, ob es sich dabei um eine zwingend positive Entwicklung handeln muss oder ob die Veränderung des räumlichen Standpunkts nicht vielmehr auch negative Auswirkungen haben kann. Dazu fällt mir die oftmals abwertende Kritik an Menschen ein, die ständig unterwegs sind und denen man ein unstetes Gemüt nachsagt: Unstete Menschen kommen zu nichts. Mag sein, aber natürlich ließe sich erwidern, zu was sie kommen sollten? Etwa den gesellschaftlich erdachten Plan eines stetigen Funktionierens einzuhalten? Machen wir uns also auf den Weg, das Unterwegssein und seine Auswirkungen auf unser Innenleben zu erforschen.
Zitate
Bis zum Anfang des vorherigen Jahrhunderts war das Unterwegssein im Sinne von Reisen leider nur solchen Menschen vorbehalten, die entweder über die monetären Grundlagen oder aber genügend Bildung verfügten, was nicht zwingend in Kombination zusehen ist. Während aber die einen (was sich bis heute kaum verändert hat) ausschließlich reisen, um ihre Profilneurose zu füttern, drängte es so manchen Denker, Dichter oder Künstler hinaus in die Welt, nicht nur um Neues zu erfahren, sondern auch um die Beengtheit des Bürgertums hinter sich zu lassen und sich jenseits der bisher gesteckten Grenzen wahrzunehmen. Befasst man sich mit psychischen Auswirkungen durch das Reisen, so stößt man bei der Recherche zumeist auf Reiseblogs und in diesem Zusammenhang auf Zitate bekannter Persönlichkeiten, die mir als eine gute Grundlage für Gedanken über eine Psychologie des Unterwegsseins erscheinen. Eine kleine Auswahl:
- Was ist Reisen? Ein Ortswechsel? Keineswegs! Beim Reisen wechselt man seine Meinungen und Vorurteile. Anatole France
- Desto weiter ich reise, desto näher komme ich an mich heran. Andrew McCarthy
- Eine Reise ist ein Trunk aus der Quelle des Lebens. Christian Friedrich Hebbel
- Nichts entwickelt die Intelligenz wie das Reisen. Emile Zola
- Die tägliche Erfahrung lehrt, dass diejenigen, welche viel reisen, an Urteilskraft gewinnen; dass die Gewohnheit – fremde Völker, Sitten und Gebräuche zu beobachten, den Kreis ihrer Ideen erweitert und sie von manchen Vorurteilen befreit. François Pierre Guillaume Guizot
- Wer Kenntnisse von seinen Reisen nach Hause bringen will, muss schon Kenntnisse mit sich führen, wenn er abreist. James Boswell
- Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen. Johann Wolfgang von Goethe
- Reisen sind das beste Mittel zur Selbstbildung. Karl Julius Weber
- Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt. Martin Buber
- Der Sinn des Reisens besteht darin, die Vorstellungen mit der Wirklichkeit auszugleichen, und anstatt zu denken, wie die Dinge sein könnten, sie so zu sehen, wie sie sind. Samuel Johnson
- Reisen bedeutet Grenzen zu überschreiten, auch die eigenen. Wanda Rezat
Aus: Die 100 besten Reisezitate: von Goethe bis Laotse | ReiseSpatz
Auch wenn das Reisen stets als belebender und bereichernder Prozess beschrieben wird, so müssen dennoch zunächst gewisse Bedingungen erfüllt sein, um diese Form des Unterwegsseins als gewinnbringend erfahren zu können. Dazu rechne ich zum einen Bewusstsein, aber auch Sensibilität.
Bewusstsein
Ein Ziel der Psychotherapie, wie ich sie verstehe und auch seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziere, ist es, den Menschen zur Selbstreflexion zu befähigen. Das heißt, es ist wichtig, ein eigenes und waches Bewusstsein für die inner- und außerpsychischen Prozesse zu entwickeln. Es ist schön, wenn der Therapeut oder die Therapeutin versteht, was in mir geschieht, aber es ist sinnentleert, wenn es mir nicht auch selbst bewusst wird. In diesem Zusammenhang spricht man auch von einer Metaebene, was bedeutet, sich bestimmte Prozesse, Handlungen, Verhaltensweisen oder Situationen aus einer Vogelperspektive anzuschauen. Für meine jungen, zumeist weiblichen Patienten wähle ich dafür gerne das Beispiel eines Kleiderschranks: Je unaufgeräumter er ist, desto weniger wissen wir, was sich darin befindet. Möglicherweise liegen dort Anziehsachen, die längst in die Altkleidersammlung gehören oder aber in der hintersten Ecke ungetragen lagern. Also muss ich mich mit den Inhalten befassen, hin und wieder aufräumen, aussondern oder auch erneuern. Ähnlich ist es mit dem was in unserem Inneren vor sich geht: Auch dort schlummern ungeahnte Talente, während längst überflüssige Konstrukte uns das Leben schwer machen.
Wenn ich von einer Psychologie des Unterwegsseins spreche, sind natürlich Aspekte wie Bewusstsein oder Bewusstwerden unbedingte Voraussetzung. Viele Menschen haben diese wichtige psychologische Möglichkeit des Hinterfragens oder Selbstbewertens nicht gelernt. Sie befinden sich auch psychisch in einer Unbeweglichkeit und Starre: Alles ist so, wie es ist und damit unveränderbar. Daher bedarf es eines wichtigen Fundaments, auch psychisch beweglich und damit unterwegs zu sein; unterwegs zu sich und seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Es ist traurig, wie viele Menschen sich ein Leben lang ausschließlich an der Peripherie ihres Ichs befinden, da man sie lehrte, es sei ausreichend, nur zu funktionieren. Um also beim Unterwegssein, beim Reisen, Veränderungen des Ichs wahrzunehmen, alte Denkmuster zu hinterfragen oder sich als anderer Mensch zu erfahren, muss man ein waches Bewusstsein und innere Achtsamkeit besitzen. Es gibt nicht DAS Bewusstsein, was allen Menschen gemein ist, sondern jede Person nimmt anders wahr, reagiert anders auf neue Reize und verfügt über verschiedene Bewusstseinsebenen.
Sensibilität
Ein neuer Prozess setzt nicht automatisch ein, wenn man eine Person von A nach B verpflanzt; dafür ist ein psychisches Feingefühl notwendig, das grundsätzlich jedem Menschen zur Verfügung stehen könnte. Neben dem Bewusstsein, vielleicht aber auch parallel dazu, gehört eine gewisse Sensibilität dazu, um Veränderungen überhaupt wahrnehmen zu können. Sensibilität bedeutet empfänglich sein für Eindrücke, für Reize, für Details und für sich selbst. Gerne werden sensible Menschen als naiv oder unwissend bezeichnet, doch das Gegenteil ist der Fall. Sensibilität oder gar Hochsensibilität sind Eigenschaften, die zwar einerseits ein unkompliziertes und argloses Leben erschweren können, andererseits einen großen Schatz darstellen. Nichts ist frustrierender als mit einem oberflächlichen, desinteressierten und unsensiblen Menschen durch eine Stadt zu gehen oder eine Landschaft zu fahren. Sie können oft das eigene Staunen, Bewundern oder Entdecken der Sensiblen nicht nachvollziehen.
Sensiblen Menschen steht nicht nur ein breiteres Repertoire der Wahrnehmung zur Verfügung, sondern sie verfügen auch über mehr bzw. andere Möglichkeiten, diese zu verarbeiten. Sie sind oftmals in der Lage, sich intensiver auf eine Sache einzulassen und somit auch innere Prozesse ausgeprägter zu spüren. So fallen auch Reiseberichte sensibler Personen zumeist intensiver und aufs Detail ausgerichtet aus. Offensichtlich besitzen sensible Personen ein größeres „Talent zum Reisen“, wie es Hermann Hesse einmal bezeichnete. Und dieses Talent liegt im
„…Erleben, das heißt im Reicherwerden, im organischen Angliedern von Neuerworbenem, im Zunehmen unseres Verständnisses für die Einheit im Vielfältigen, für das große Gewebe der Erde und Menschheit, im Wiederfinden von alten Wahrheiten und Gesetzen unter ganz neuen Verhältnissen.“ (HH)
Die Zeit
Am Ende eines Tages muss ich oftmals resümieren, dass meine Arbeit und all der Stress mein Inneres gefressen haben oder – wie es mal eine jugendliche Patientin sehr treffend ausdrückte: „Ich habe mich in mir selbst verloren.“ Gedanken fallen schwer, Gefühle verkümmern hinter einem Wust von Lustlosigkeit und Müdigkeit und die Wahrnehmung ruft nach innerem Frieden (den man beim abendlichen Fernsehgucken sicherlich nicht findet!). Die alltägliche Tagesstruktur besteht zumeist aus regelmäßig ablaufenden Vorgängen, Abläufen und Verrichtungen, so dass z.B. ein neues oder komplexeres Denken nicht stattfinden kann. Die geistige Umnachtung ist nur noch zu kognitiven Minimalleistungen fähig. Das Wochenende, die Feiertage oder gar der Urlaub bieten möglicherweise jede Menge Zeit, um Schalter umzustellen und sich auf sich selbst einzulassen. Ich kenne zahlreiche Menschen, die mit dieser Zeit restlos überfordert sind und sogar auf Urlaube oder sonstige Auszeiten verzichten wollen.
Zeit ist somit sicherlich neben Bewusstsein und Sensibilität ein weiterer wichtiger Faktor, der einer Psychologie des Unterwegsseins zugerechnet werden muss. Im Umkehrschluss lässt sich hier allerdings auch feststellen, wie traurig es ist, dass mangelnde Zeit, sowie das Ermattetsein durch die Anforderungen des Tages, wichtige Prozesse in uns negativ beeinflussen oder gar zunichtemachen. All das hindert uns, tiefere Einsichten über uns zu erlangen und damit möglicherweise zu wachsen. In einem Interview in der TAZ sprach der Historiker Valentin Groebner von Reisen als imaginäre Selbstvervollständigung auf Zeit (VG), was im Gegenzug bedeutet: Im normalen Leben führt all der Stress und all die Alltagsanforderungen dazu, dass wir uns nicht mehr als vollständig erleben. Ist also Reisen oder Unterwegssein nichts anderes als ein Vordringen zu unserem wahren inneren Kern? Kein Wunder, dass vielen Menschen Reisen Angst macht! Dazu die Psychologin Sonia Jaeger:
„Im Grunde ist das Reisen eine ständige Konfrontationsübung mit den eigenen Unzulänglichkeiten, dem eigenen Unwissen und den mangelnden Fähigkeiten.“ (SJ)
Die Art des Unterwegsseins
Macht es einen Unterschied, ob man sich mit dem Flugzeug von dem gewohnten Ort wegbewegt oder zu Fuß? Unterwegssein wird gerne mit Reisen gleichgesetzt. Wir kennen Urlaubsreisen, Entdeckungsreisen oder Bildungsreisen – allein, oder in Gruppen, aber selten ist von dem ziellosen Reisen die Rede, womit gemeint ist: Sich auf den Weg machen und schauen, was passiert. Sicherlich: Bewusstsein und/oder Sensibilität vorausgesetzt! Und da kann Unterwegssein auch bedeuten, die Haustür hinter sich zu schließen und loszulaufen. Ein Bekannter hat diesen Versuch mal unternommen und empfand diesen Prozess als überaus bewusstseinserweiternd, wenn nach und nach Bekanntes verschwindet und nur wenige Kilometer weiter in Neues übergeht. Und damit ist die Entgegnung, Reisen und die damit möglichen Erfahrungen sei nur den Menschen vorbehalten, die sich das finanziell leisten können, widerlegt. Unterwegssein kann auch vor der Haustür geschehen, bei einer Radtour, einer Wanderung oder einem ausgedehnten Spaziergang.
Obschon ich selbst zumindest das häufige Fliegen ablehne, ist mir die breite Klaviatur des Unterwegsseins gut bekannt: Wandern, radeln, mit dem Auto bzw. Wohnmobil fahren, trampen, Zug- oder Schiffsreisen, mit dem Roller/Moped über Land knattern und eben fliegen. Vergleiche ich diese unterschiedlichen Fortbewegungsmöglichkeiten, so komme ich doch zu dem Ergebnis, dass vor allem die Bewegung, die nah an der Natur und damit in weitmöglicher Stille stattfindet, mir die intensivsten Momente bescherten. Von Pilgern, die z.B. den Jakobsweg über Hunderte von Kilometern gelaufen sind, hörte ich beispielsweise von sehr ausgeprägten Selbsterfahrungen, die durch die langsame Fortbewegung entstanden sind.
Was beim Unterwegssein geschieht – oder geschehen kann
„Mit jedem Ort, an den ich reise, nimmt mein Denken einen neuen Kurs. Es kommt aber oft vor, dass irgendwo der neue auf einen bereits gedachten stößt. Ein freudiges Wiedersehn.“ (AI)
Diesen Satz formulierte ich einmal nach einer Reise auf die Insel Elba, die für mich in besonderer Weise mit eigenen psychologischen Prozessen verbunden ist.
Ich habe mich viel mit Menschen unterhalten, die unterwegs waren – sowohl in der Ferne, als auch „um die Ecke“. Manchen war oft nicht bewusst, dass dies innerpsychische Prozesse hervorgerufen habe, konnten dies aber im Nachhinein bestätigen. Andere wiederum waren voll mit Eindrücken, die unabhängig von dem außerhalb Erlebten von Auswirkungen auf das Denken, innere Konstrukte oder gar die Persönlichkeit hatten. Aber was passiert genau oder besser: Was kann genau mit uns beim Unterwegssein passieren? Die Psychologie des Reisens befasst sich oftmals eher mit oberflächlichen Aspekten wie Tapetenwechsel, Horizonterweiterung oder Erholung. Selten wird aber beschrieben, was tatsächlich in uns geschieht. Eine Möglichkeit, dies etwas einzukreisen, ist die Zuordnung des inneren Geschehens auf die verschiedenen Zeitformen.
Vergangenheit
In unserem Kopf existiert eine Art Filter, der Wichtiges von Unwichtigem zu trennen vermag: Was kann weg, was muss bleiben? Vor allem aber bei den sensiblen oder hochsensiblen Menschen, von denen ich bereits sprach, kann das vollkommen anders aussehen: Sie sind Weltmeister im Erinnern. Doch natürlich sind es nicht immer positive Erinnerungen, die mit Blick auf die Vergangenheit uns wieder bewusst werden. Vieles haben wir verdrängt oder tatsächlich vergessen. Als ich im letzten Jahr am Mittelmeer einen Teil meines Urlaubs verbrachte, musste ich an einen alten Film denken, der mich als junger Mann sehr beeinflusst und meine politische Einstellung mitgeprägt hat. Ich hatte all die Jahre nicht mehr daran gedacht, doch dieser Ort beeinflusste meine Erinnerungen. Als ich mir den Film 40 Jahre später noch einmal anschaute, war es, als betrachtete ich ein als verschollen geglaubtes Fotoalbum. Die Einsicht und damit möglicherweise die Erklärung, warum ich bin, wie ich heute bin, kann durchaus erhellend sein. Wir Menschen suchen häufig nach solchen Erklärungen. Und werden wir bei unserer Suche fündig, kann dies natürlich auch ernüchternde Auswirkungen haben. Plötzlich muss die bisherige Sichtweise durch Erkenntnisse wieder gradegerückt werden. Warum war ich damals so? Warum habe ich das mit mir geschehen lassen? Warum habe ich damals diesen Weg eingeschlagen? Dies können z.B. Fragen sein, auf die ich beim Unterwegssein Antworten bekommen kann, weil sich neue Eindrücke mit vergrabenen Erinnerungen in Verbindung setzen und sie wieder zugänglich machen.
Als wir mit meiner Schwiegermutter eine Zeit am Schliersee verbrachten, eine Reise, die wir ihr zum 80. Geburtstag geschenkt haben, wirkte sie häufig sehr nachdenklich und auch traurig. Sie war damals mit ihrem verstorbenen Mann an diesem Ort und es fielen ihr Begebenheiten ein, die sie längst vergessen hatte. Sie konnte aber auch mit bestimmten Dingen, Frieden schließen, da es ihr hier möglich war, sie aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Unterwegssein kann also bedeuten: Sich erinnern, Vergleiche zwischen dem Früher und Heute anstellen, Relativieren, Narrative des eigenen Lebens verändern oder einfach Einsichten tätigen. Natürlich kann es auch bedeuten: Der Trauer einen Ort geben, mit Verstorbenen in Kontakt treten, an zurückliegende Probleme zu denken oder das Gefühl, jemanden zu vermissen, neu zu beflügeln. Eine Psychologie des Unterwegsseins ist nicht selbstredend ein positiver Vorgang, wie eine Psychologie des Reisens oft implizieren vermag. Doch in den Berichten über Reiseerfahrungen überwiegen – wie mir scheint – zumeist die positiven Aspekte.
Gegenwart
Im Moment des Unterwegsseins befinden wir uns natürlich in der Gegenwart oder wie es z.B. in der Psychologie der Achtsamkeit heißt: Im Hier und Jetzt. Dieser Zustand bezieht sich nicht nur auf das Körperliche, sondern auch das Mentale. „…Das ist für die meisten Menschen kein Normalzustand … Viele hängen mit ihren Gedanken entweder in der Vergangenheit fest, beschäftigen sich mit Sorgen oder denken über die Zukunft nach. Dieses Denken ist meist von der Hoffnung begleitet, dass sich irgendwann ein zufriedener Zustand einstellen wird … Ein achtsamer Mensch hingegen achtet auf den Moment, ohne ihn jedoch zu bewerten. Das ist der zweite entscheidende Aspekt der Achtsamkeit (MK).“ In dieser Zeitform ist es demnach uns Menschen am besten möglich, uns selbst wahrzunehmen. Dumm nur, dass wir das in der Regel nicht gelernt haben und die bereits oben beschriebene Reizüberflutung des Alltags eine solche Achtsamkeit oftmals unmöglich macht.
In der Psychotherapie arbeite ich gerne mit dem Bild des inneren Teams, in dem es Schwarzseher, Realisten, Archivare, Träumer oder auch den/die Mr./ Mrs. Eigentlich gibt. Letzterer Personenanteil erinnert in etwa an einen Song von Udo Lindenberg:
„Eigentlich bin ich ganz anders
Ich komm’ nur viel zu selten dazu
Du machst hier grad’ mit einem Bekanntschaft
Den ich genauso wenig kenne wie du
Das Loslösen vom Gewohnten und Geläufigen kann auch die Bekanntschaft mit dem Alter Ego, das bisher im Uneigentlichen schlummerte, wachrufen. Floskeln wie „Hätte ich doch“, „ich würde ja gerne“ oder „normalerweise wäre ich…“ erfahren so eine neue Deutung und möglicherweise auch Umwandlung. Und mitten in der Nemitzer Heide im Wendland hört ich dann in mir plötzlich eine Art inneren Weckruf: „Dann mache es doch endlich auch, verdammt noch mal!“
An so manchem Ort, und das übrigens unabhängig von der Entfernung zum gewohnten Lebenszentrum, habe ich ein wahres Flow-Erlebnis erfahren; eine Vertiefung oder auch Kontemplation (unabhängig von einem religiösen Kontext). Plötzlich strömten Gedanken oder Gefühle in mich hinein, es tauchten Ideen oder auch Einsichten auf und mir kam es vor, als würde ich mich selbst aus der Perspektive einer Drohne betrachten. Reisen oder Unterwegssein bedeutet: „Etwas ausprobieren, was man vorher so noch nie gemacht hat. Und ich glaube, gutes Reisen hat etwas mit Verstehen zu tun, mit dem Klick im Kopf (VG).“ Womit wir wieder bei der Metaebene wären.
Zukunft
Das Erfahren von Momenten des Unterwegsseins ist die eine Sache, diesen Moment aber aufzugreifen und mit ins alte Leben zurückzunehmen und damit auch für die Zukunft nutzbar zu machen, eine andere. Ähnlich wie der mitgebrachte Rotwein aus der Toskana: Im dortigen Landgasthaus schmeckte er köstlich, zuhause entpuppt er sich nach dem Rumgeschüttel im Kofferraum als geschmacklose Plörre. Und so können auch Gedanken oder Gefühle mit dem Eindruck des Ortes verbunden sein, aber zuhause ihre Gültigkeit verlieren. Hier setzt die Kunst ein, den Rücktransport so zu gestalten, dass sie sich in den Alltag hinüberretten lassen. Dabei können zum Beispiel Tagebuchaufzeichnungen helfen, um das Erfahrene zu konservieren.
Unterwegssein ist oftmals mit Einsichten und Erkenntnissen verbunden, die zwar in der Gegenwart auftauchen, ihre Bedeutung bzw. Umsetzung aber in der Zukunft zu sehen ist. Vor allem der Zeitfaktor spielt hier eine große Rolle: Warum nehme ich mir nicht auch im normalen Leben mehr Zeit für mich, wo ich doch merke, dass sie mir gutgetan hat. Unterwegssein führt nicht selten dazu, mich anders oder gar neu zu sehen und bietet damit Möglichkeiten für Kurskorrekturen. Wenn es tatsächlich dazu führt, mich unterwegs vollständig wahrzunehmen, so gilt es nun, eine Motivation zur Vervollständigung im Alltag aufzubauen. Man nennt es auch Selbstverwirklichung.
Unterwegssein und Philosophieren
Vor ein paar Jahren verbrachte ich mit meiner Frau eine Zeit in Cadaques, einem Ort in Spanien, den man vor allem mit Salvador Dali in Verbindung bringt. Und so saßen wir eines Abends bis tief in die Nacht bei Rotwein auf einem Steg unterhalb des Wohnhauses von Dali. Angeregt durch die Auseinandersetzung mit dem Leben und Schaffen des Künstlers philosophierten wir über Surrealismus. Doch uns ging es dabei nicht um surrealistische Stilmittel in der Kunst, sondern um einen surrealistischen Alltag. Wie könnte es gelingen, unsere Träume, unser Unbewusstes, unsere absurden Gedanken und Phantasien für unsere Leben und somit auch für unser Liebesleben nutzbar zu machen? Wir sprachen über die Möglichkeiten eines Everything-Goes und ein Zusammengehen von Unvereinbarkeiten; ein Loslösen von Blind-Übernommenem und Gewohntem. Ein philosophisches Gespräch dieser Art – übrigens mit nachhaltiger Wirkung – wäre vermutlich ohne die Ortsveränderung nicht zustande gekommen. Von vielen Philosophen weiß man, dass ihnen die besten Ideen beim Gehen oder Unterwegssein gekommen sind. Ein schöner Ausdruck in diesem Zusammenhang ist das “Geh-spräch”, bei dem das Gehen als Medium zum nachdenklichen Gespräch genutzt wird. Der Weitblick von einem Berg, die Mühsal seiner Besteigung, die scheinbare Unendlichkeit des Meeres, die Enge einer alten Gasse, das Ursprüngliche eines Waldwegs oder die Stille eines Dorfes können allesamt Paten für einen philosophischen Lichtblick und damit eine psychologische Veränderung sein.
Zufall oder Absicht?
Beim Lesen dieser Ausführungen über eine mögliche Psychologie des Unterwegsseins mag der Eindruck entstehen, dass es sich um zufällige Prozesse handelt, die beim Reisen unsere seelische Substanz durcheinanderrütteln und bestenfalls wieder ins Gleichgewicht bringen. Tatsächlich geschehen viele den aufgeführten Prozessen eher beiläufig und leider sind es manchmal auch nur kurze Blitze, die uns innerlich erhellen. Doch weiß man um mögliche Auswirkungen und Effekte des Unterwegsseins auf unsere Psyche oder macht man sich diese bewusst, dann kann das Zufällige zur beabsichtigten Selbsttherapie werden. Sowohl bei der einsamen Wanderung, als auch bei der gemeinsamen Reise kann man sich zu Beginn spezielle Fragen stellen und ihre allmähliche Beantwortung dem Unterwegssein überlassen. Viele Menschen, die sich auf lange Wanderungen oder Pilgerreisen begeben, berichten über solche inneren Aufgaben, mit denen sie ihren Weg starteten. Vielleicht ging es ihnen darum, eine bestimmte Entscheidung zu treffen oder einen inneren Schmerz zu verarbeiten. Tauscht man den anfangs erwähnten Kleiderschrank gegen einen Rucksack aus, so können sich Fragen an sich selbst beispielsweise auf den unnötigen Ballast beziehen, den wir mit uns herumschleppen!
„Eine lange Reise hört nicht am Ziel auf. Ein Stück von uns wird im Geiste immer weiterreisen.“ Andreas Bechstein
Quellenangaben
AI: Arnold Illhardt in: Satzzeichen. https://www.farasan-telgte.de/satzzeichen/
HH: Hermann Hesse: Die Kunst des Müßiggangs. Suhrkamp
OT: Olga Tokarczuk: Unrast. Büchergilde
MK: Melanie Kuss: Achtsamkeit auf https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/achtsamkeit/index.html
SJ: https://psylife.de/magazin/reisen/was-mich-das-reisen-als-psychologin-lehrt
VG: TAZ 17.6.20 „Früher Müllhalde, heute Fantasieort.“ Interview mit dem Historiker Valentin Groebner
Anmerkung: Die Fotos stammen allesamt von Reisen oder Ausflügen zusammen mit meiner Frau.