„Der Sonne und dem Tod kann man nicht fest in die Augen sehen“ (La Rochefoucould). Deswegen verdrängt man ihn gerne. Darüber hinaus führt Nachdenken über den Tod leicht zum Nachplappern. Letzteres hilft niemandem. Eine Putzfrau sagte zur alten Berliner Dame: „Keene Angst, ick jieß Ihnen.“ Kann Grab ein Zeichen von Leben sein?
Macht Tod Angst? Ja und nein. Natürlich ist die Gruppe derer am meisten betroffen, die vom Ende des Lebens besonders gebeutelt ist, die Gruppe 65plus. Aber so simpel ist das nicht. Wie ein Damoklesschwert hängt der Tod über uns. Also, was macht uns Angst. Ein paar Beobachtungen jenseits des Alters.
- In Deutschland sind 2018 wegen der Hitze über 1.200 Menschen gestorben, u.a. Babys, Kranke jeden Alters usw. Mal wieder Klimawandel?
- Besonders schlimme Infektionen werden mit Antibiotika bekämpft, zur Vorbeugung insbesondere bei Tieren. Über die Gülle, die ins Grundwasser sickert, erreichen die Antibiotika auch den Menschen. Konsequenz: Bestimmte Antibiotika helfen nicht mehr, sind also resistent bzw. panresistent, weil kein Antibiotikum mehr hilft.
- Da ist noch das Problem mit dem Tod durch Unfälle, Verbrechen, schwere Krankheiten, überbordende Konflikte, die tödlich enden.
Was bedeutet dann der Ausspruch der Berliner Putzfrau? Grabpflege ist kein wirklicher Trost. Ein Zeichen von Weiterleben, obwohl man nicht so recht dran glauben will? Entscheidend ist: In Erinnerung bleiben, ohne die ist Grabpflege unbedeutend.
Eine wahre Gespenstergeschichte:
Meine Mutter ging mit meinem Bruder Arnold (Redaktion Querzeit) schwanger und besuchte ihre Schwester, die Nonne geworden war. Als Kind (11 Jahre) verstand ich nicht wirklich, was da besprochen wurde. Aber Gespenstergeschichten – je abstruser desto spannender – fand ich toll. Es ging darum, dass mein Bruder wieder (wie bei der vorhergehenden Schwangerschaft) eine Totgeburt sein könnte. Vorgeburtliche Untersuchungen gab es damals noch nicht. Da Mutters Schwester eine fromme, medizinisch gebildete Nonne war, erzählte sie von den unerlösten Seelen. Ungetaufte, obwohl sie nichts Böses tun konnten, kommen – so umgangstheologisch von der frühen Neuzeit bis zu sehr Konservativen von heute – in den sog. Limbus, den Zwischenbereich von Himmel und Hölle. Irgendwie stellte ich mir das spannend vor, wenn Tote mit langen weißen Kutten umherirren und nicht wissen, wohin. Ich hielt meine Tante aber trotzdem für böse, weil meine Mutter vor Angst weinte. Und als tapferer Junge hielt ich nichts von Bangemachen. Ich konnte nichts tun, aber zweifeln.
Viele Menschen zweifeln an dem christlichen Verständnis des Todes. Zweifel reichen vom marxschen Opium bis Hirngespinst, sie kommen vor allem aus dem albernen Missverständnis der christlichen Tradition (wie bei meiner Tante). Ist das nicht wie das schwarze Loch in der Astronomie? Man weiß nichts und hat Angst vor dem Nichts. Der Psychologe E.D. Yalom, Begründer der Gruppentherapie, schrieb ein Buch darüber mit dem übersetzten Titel „In die Sonne schauen“ und rechnete mit dem christlichen Missverständnis ab. Wer sich Gedanken über den Tod macht und sich darauf einstellen will, ist wie geblendet, als würde er in die Sonne schauen. Und um sich trotzdem dem Ende zu stellen, braucht man Mut und Information.
Ausgangspunkt ist für die meisten von uns die christliche Idee vom Leben nach dem Tod. Sie hat leider viele Bruchlinien (konservativ gegen progressiv, z.Zt. Rom gegen Deutschland, evangelisch gegen katholisch usw.). Darum ist die folgende Darstellung nur meine eigene progressive Variante:
Neben das traditionelle christliche Miss-Verständnis stelle ich im Folgenden andere sehr ernst zu nehmende Gedanken zusammen. Solch eine Zusammenschau bringt Alternativen. Ohne Alternativen kann ich nicht entscheiden. Ich wähle nur einige Theorien, die
- neueren Datums (also keine antiken Theorien),
- für unseren Alltag bedeutsam,
- von Schriftstellern – nicht von Theoretikern – konzipiert sind und
- unser inneres Spektrum erweitern.
Dieser Überblick ist natürlich unvollständig, aber ein Anreiz, mehr über „unsere“ Todesvorstellungen nachzudenken. Ein Patchwork-Konzept ist vernünftig, wenn es der Lebenssituation entspricht und selbst von Überzeugung getragen ist
Meine Gedanken gehen von folgenden Konzepten aus:
Das sind Beschreibungen, die in unser Verständnis vom Tod gehören oder, wie Canetti es beschreibt, eine Art Anti-Theologie sind. Ohne Rolle rückwärts passen sie in meine progressive, theologisch geprägte Auferstehungsdeutung. Die folgenden Beschreibungen lassen sich leicht integrieren.
Mit Endlichkeit umgehen
Alle Theorien haben gute Seiten. Keine ist bloß schwach. Auch die christliche nicht. Ich erinnere mich an den Dichter E. Fried: „… Das könnte den Reichen so passen / wenn nach dem Tod alles aus wäre …“ Was kommt nach dem Tod und was macht er mit dem Alltag? Im 19ten Jahrhundert war der Scheintod (≈ tot im Sarg liegen und sich nicht bemerkbar machen können) ein Hauptproblem aller Sterbenden, heute ist es das Scheinleben. Decken wir deren wichtigen Seiten auf:
- Entscheidung und Wahl zulassen
Ich nehme nur Camus und Sartre, weil es ihnen großartig gelungen ist, Philosophie auf die Bühne zu bringen. Von Sartre stammt das wunderschöne Theaterstück „Das Spiel ist aus“. Inhalt: Der Arbeiterführer Pierre verliebt sich in die verheiratete reiche Frau Ève. Beide sterben bei einem Unfall. Sie erhalten nach dem Tod die Chance, wenn sie Liebe als oberste Priorität bewahren, ihre unerfüllte Liebe auszuleben. Pierre opfert die Liebe, weil er seine Arbeitskollegen bei einem Streik nicht im Stich lassen will. Er wird zum zweiten Mal getötet. Auf die Liebe und die bewusste Entscheidung kommt es an. Das zweite Leben, auch wenn es nach ihrem Tod stattfindet, ist das eigentliche Leben der Liebe und Entscheidung. Sie haben es vermasselt.
Auch von Camus stammt ein ähnlich interessantes Theaterstück, mit dem er seine Philosophie des Endes übersetzt: „Die Pest“. Ein Kind liegt im Sterben, das von der Pest infiziert ist. Hilft Gott oder die Medizin? Zwischen dem Pater Paneloux und dem Arzt Dr. Rieux, der nicht an Gott und seine Hilfe glaubt, gibt es tolle Kontroversen. Das Kind stirbt, Dr. Rieux ist wütend, der Pater kleinlaut.
Was sagen Camus und Sartre zu unserem Problem? Ein zweites Leben wie bei Sartre gibt es doch wohl nicht. Und die Pest bei Camus gilt als ausgerottet. Sie sagen: Man muss wählen, sich entscheiden, für die Existenz einstehen, auch trotz der Absurditäten des Lebens leben. Man muss sich engagieren, auch wenn es sich nicht auszahlt. Man darf sich nichts vormachen lassen. Ein Leben nach dem Tod gibt es nur als Spiegel. Hoffnung, Wahl, Engagement und Liebe machen das Leben bedeutungsvoll.
Offenlassen, was danach kommt
Kann man und soll man überhaupt wissen, was danach kommt? Nein. Meine Frau und ich haben im sog. Friedwald einen Platz unter einem Baum reserviert und meinen, dass kein Pfarrer dabei sein soll. Der weiß, was danach kommt, wir wissen es nicht. Wenn es einen Gott gibt, wird er uns nicht Angst einjagen.
Offenlassen heißt: Nicht wissen, ob ein Nein oder ein Ja richtig ist. Wir haben viele Gründe, sogar christliche, Lebensgestaltung sehr ernst zu nehmen. Und auch den ernst zu nehmen, der sich anders entschieden hat als ich. Fragen und Fragen Aushalten ist wichtiger als Sich-sicher-sein, was die richtige Antwort ist.
Seltsam ist, dass nicht nur der Tod und was danach kommt wichtig ist, sondern gerade auch der letzte Moment des Lebens: das Sterben. So bei meiner Mutter, als sie ans Sterben kam. Von ihrem Sohn, dem entgleisten Theologen, wollte sie wissen, was sie in Kürze erwartet. Zuerst wollte ich der sehr frommen Frau das übliche christliche Missverständnis vermitteln. Aber das kam mir zu verlogen vor. Ich sprach mit ihr über ihre Frage. Dahinter stand seltsamerweise ihre Unsicherheit, aber sie suchte nach Sicherheit. Ich konnte ihr nur sagen, dass Unsicherheit besser ist als vorgegaukelte Sicherheit. Ob das geholfen hat?
- Autonomie nicht behindern
In den 90er Jahren nahm ich teil an einer Diskussionsgruppe über das Problem der Autonomie in der Medizin. In der amerikanischen Medizinethik galt die Autonomie des Patienten als das wichtigste Prinzip. In Deutschland wurde das eher sehr skeptisch gesehen. Warum, fragte einer. Antwort: weil wir hier immer schon eine eher paternalistische Tradition hatten mit Königen, Fürsten und damals wie heute noch: Landes-Vätern. Diese Tradition machte die Autonomie verdächtig
Die Geschichte der Autonomie begann im antiken Griechenland. Es gab Stadtstaaten wie Athen, die sich ihr eigenes Gesetz (autòs nómos) gaben. Wieder erweckt wurde das in der europäischen Aufklärung (Kant usw.). Heute ist Autonomie „in“. Wirklich?
Autonomie ist bei uns leider nur eingeschränkt. Hier einige medizinisch Andeutungen:
- Etwa Beihilfe zum Suizid
- Behandlungsabbruch, wenn keine schriftliche Verfügung vorliegt
- Ablehnung der OP eines Kindes durch die Eltern kann zur Entmündigung führen.
Autonomie ist nicht unser Alltag. Überall stoßen wir an Grenzen, etwa in unseren Arbeitsplätzen, in Behörden, politischen und juristischen Regelungen usw. Umso wichtiger ist es, Autonomie im Leben zuzulassen. Wer am Ende seines Lebens steht, hat Probleme, wenn er das Leben nicht als „sein“ Leben betrachten kann.
- Tödliche Macht
Ein linkes Thema? Nein. Gemeint ist: Macht führt peu à peu zum Tod. Wer Canetti gelesen hat, versteht den Zusammenhang. Macht wird da am stärksten, wo sie Menschen ins Abseits stellt, ihnen ein Ende bereitet, über Leichen geht, sogar den Tod in Kauf nimmt, zulässt, dass Menschen die Macht über sich selbst verlieren usw. Denken wir an Canettis Despoten (Trump, Putin, Erdogan usw. kannte er noch nicht). Ihnen geht es um die eigene Macht, und dafür gehen sie über Leichen. Denken wir aber auch an Alltagsprobleme, die uns näher liegen, z.B. an
- die Zwei-Klassen-Medizin. Wer reich ist, lebt oft länger.
- Schule, Bildungssysteme, Hobbies usw. Sie vergrößern Möglichkeiten der Lebensqualität und Selbstverwirklichung
- Förderung der Autoindustrie z.B., ohne an die Risiken für das Klima oder an Verkehrsteilnehmer zu denken, die mit E-Mobilität nicht rechnen
- Finanzierung von Kunst und Medien, Leichte Unterhaltung reizt selten zum Nachdenken
Die Liste kann beliebig fortgesetzt werden. Nur in extremen Fällen hat das mit Tod zu tun, aber wir unterschätzen Macht. Mächtige taktieren manchmal mit dem biologischen, mehr aber mit dem sozialen Tod. Sie zwingen uns, mit immer begrenzterem Leben umzugehen. Der Betroffene lebte nicht, er wurde gelebt.
- Ich bin Sympathisant von Canetti
Es gibt einiges, was mir bei Canetti nicht einleuchtet. Er spricht nicht über (ärztlich unterstützten) Suizid, Euthanasie oder jede Art von Sterbebegleitung. Deren Grundsatz ist: Tod ist Teil des Lebens. Aber …
- Canetti suchte einen Verteidiger des Todes, der genauso gut argumentiert und scharf beobachtet wie er. D.h. er sucht jemand, der mit ihm debattieren kann, er sucht die Kontroverse, kein Blabla im dunklen hinteren Teil der Kirchen.
- Camus hatte viel mit Canetti zu tun. Camus schrieb, dass der Selbstmord die einzige ernstzunehmende Frage ist. Hat er mit Canetti darüber diskutiert?
- Sein „Buch gegen den Tod“ besteht aus meist kurzen Sätzen. Das ist keine Materialsammlung von Aperçus, sondern eine Beobachtung, die auszufeilen ist.
Sagen wir so: Tod ist ein wichtiges, leider offengebliebenes Problem. „Offengeblieben“ bedeutet auch: Wir sollten darüber nachdenken, aber in Freiheit. Doch nicht nur denken, auch etwas tun etwa für das sog. und meist falsch gedachte Weiterleben nach dem Tod und nicht alles dem Jenseits oder dem lieben Gott überlassen, jenem Bodensatz des missverstandenen Christentums. Laut Nietzsche wurde Gott von uns getötet. Der Haken ist: Einem toten Gott können wir nichts mehr zuschieben. Bleiben wir bei diesem Bild, dann sind wir diejenigen, die für das verantwortlich sind, was Leben bedeutend und nicht zu einer Art Wundertüte macht.