Die Vereinten Nationen warnen, dass Wassermangel, Dürre und Klimawandel in den nächsten Jahren zu neuen Flüchtlingsbewegungen führen werden. Die Politik Deutschlands und der EU packen die Probleme nicht an, verschärfen sie sogar. Worüber wir in Deutschland uns klar werden müssen und was zu tun ist.
Zunächst vorweg zwei Selbstverständlichkeiten, die dennoch wiederholt werden müssen:
Erstens flieht niemand freiwillig und gern aus seiner gewohnten Umgebung, egal ob vor politischer Verfolgung oder Krieg oder Not und Elend. Würde jemand von uns freiwillig nach Pakistan, Irak oder Afghanistan ziehen, selbst wenn es dort friedlich und einigermaßen gerecht zuginge? Das gemeine Wort von Markus Söder vom „Asyltourismus“ war eine Lüge, mit kaltem Kalkül gesprochen um seine eigene Suppe zu kochen auf einem Feuer, dem er Nahrung zu geben hoffte.
Zweitens flieht nur ein kleiner Prozentsatz der weltweiten Flüchtlinge nach Europa, bzw. Deutschland. Die große Mehrheit bleibt in der Nähe ihrer Herkunftsgebiete in der Hoffnung, baldmöglichst zurückkehren zu können.
Seit Jahren wird in Deutschland, vornehmlich in linken Kreisen, oft mit verbal harten Bandagen um das Für und Wider offener Grenzen gestritten. Die eine Seite ist überzeugt, Grenzen müssten aus prinzipiellen humanitären und politischen Gründen grundsätzlich für Alle offen sein und rückt die Vertreter der anderen Position auch schon mal in die Nähe rechter Ausländerfeinde. Diese wiederum halten die Option für naiv, viele Zuzügler in kurzer Zeit aufnehmen zu können, da die Konkurrenz um bezahlbare Wohnungen und Arbeitsplätze nur zwischen Armen und noch Ärmeren ausgetragen würde, mit der Folge sinkender Löhne, überforderter Sozialsysteme und ernster Konflikte zwischen Schwachen und Schwächsten. Deshalb sei die einzige Lösung, auch im Interesse potenzieller Flüchtlinge selbst, endlich ernsthaft Fluchtursachen zu beseitigen.
Die reale Lage auf der Welt hat diesen Streit längst überflüssig gemacht. Er entzweit Kräfte, die dringend gebraucht werden für eine Auseinandersetzung, die uns noch bevorsteht.
Der Streit um das Für und Wider offener Grenzen ist deutschen und europäischen Politikern – oh Wunder – völlig wurscht. Sie haben längst entschieden und begonnen, Europa zur Festung gegen ungewollte Migration auszubauen. Logisch, wenn man trotz aller Sonntagsreden gar nicht die Absicht hat, Fluchtursachen wirklich zu bekämpfen, da dies an die Grundfesten von Profit- und Machtinteressen rühren würde.
Am Waffenhandel, der viele Kriege in Europas Nachbarschaft und darüber hinaus erst ermöglicht, hat sich nichts geändert. Ungerechte Weltwirtschaftsbeziehungen treiben nach wie vor Menschen in die Armut und viele suchen eine Zukunft in der Fremde. Ausländische Unternehmen profitieren von der Ausbeutung von Rohstoffen und dem Einsatz von hierzulande verbotenen Chemikalien, Pestiziden, Herbiziden in Landwirtschaft und Produktion armer Länder. Flüsse, Boden und Luft werden vergiftet und ganze Landstriche unbewohnbar gemacht. All diese Fluchtursachen sind hundertfach belegt und immer wieder öffentlich gemacht. Da die Industrieländer, unter ihnen Deutschland, einen überwältigen Anteil der Verantwortung tragen für die weltweiten Fluchtursachen, wären sie moralisch vorrangig verpflichtet, Opfer ihrer eigenen Politik aufzunehmen, egal aus welchen Gründen sie geflohen sind.
Und? Unternehmen die Entscheidungsträger in Regierung, Parlament und Wirtschaft etwas, um diese Fluchtursachen ernsthaft zu bekämpfen? Seit 2014 wird im Rahmen der Vereinten Nationen über einen verbindlichen Vertrag gesprochen, der Unternehmen verpflichten soll, bei ihrer Wirtschaftstätigkeit Menschenrechte und Umweltstandards einzuhalten, was wiederum durch staatliche Gesetze durchzusetzen wäre. Anglo-amerikanische Länder boykottieren diese Gespräche völlig, Deutschland bleibt passiv und entsendet auch schon mal eine Praktikantin als Beobachterin, die deutschen Arbeitgeberverbände finden es absurd, dass Unternehmen Verantwortung für ihre Lieferketten übernehmen sollen und die EU distanziert sich in der letzten Verhandlungsrunde von allen bisherigen Verhandlungsergebnissen.
Unerwähnt blieb bisher ein entscheidendes Thema, dass die Fluchtbewegungen auf dem Globus zu einer Größe anschwellen lassen wird, die wir bisher noch nicht kannten: Der Klimawandel und damit einhergehende Umweltkatastrophen. Seit fast 50 Jahren, seit der Club of Rome seine berühmte Studie „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht hat, wissen Politiker und Wirtschaftsbosse der Industrieländer, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher, dass unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten nicht möglich ist, dass rücksichtsloses Profitstreben und der Konsum sinnloser Wegwerfartikel in eine Sackgasse führt. Verbessert hat sich die Lage in diesen 50 Jahren nicht, im Gegenteil, sie hat sich dramatisch zugespitzt. Wälder brennen und werden abgeholzt, von Rumänien und Russland bis Brasilien mit der Folge abnehmender Niederschläge, der CO2-Ausstoß hat zugenommen, die Erderwärmung schreitet voran, ganze Regenwälder sind verschwunden und in den Meeren schwimmt unser Plastik. Wirtschaftsinteressen hatten und haben Vorrang, und selbst das jüngst beschlossene „Klimapaket“ der Bundesregierung, zu dem sie sich nur auf massiven Druck der Öffentlichkeit und hunderttausender streikender Jugendlicher hingequält hat, ist nach dem Urteil tausender Klimaexperten ein weiterer trauriger Beschluss, der versprochene Ziele nicht einhalten wird.
Von den Folgen des Klimawandels sind erneut die armen Länder am stärksten betroffen, Länder, die nicht die Ressourcen haben, um die Folgen für ihre Bevölkerung auch nur annähernd aufzufangen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass bis 2030, also in den nächsten 10 Jahren, 700 Millionen Menschen wegen Wasserknappheit und Dürren zur Flucht gezwungen sein könnten. Die Grundwasserpegel an vielen Orten fallen dramatisch. Bereits heute nutzen 22 Länder auf der Erde, darunter die bevölkerungsreichen Ägypten und Pakistan, über 70 % ihrer erneuerbaren Wasserressourcen (die Europäische Kommission und das Umweltbundesamt halten die Nutzung von 20% für die kritische Grenze, die nicht überschritten werden sollte). Viele Länder des globalen Südens verbrauchen ihr wertvolles Trinkwasser für die Bewässerung der Baumwolle für den Weltmarkt, für die Produktion unserer Jeans und T-Shirts oder für den Export von Bio-Kartoffeln, die in der Wüste mit Wasser aus Tiefbohrungen versorgt werden. Mit anderen Worten, sie verbrauchen ihre Wasserressourcen und verseuchen ihre Flüsse, um an notwendige Devisen zu kommen und Waffen, Düngemittel, Pestizide oder sonstige Industriegüter kaufen zu können.
Soweit zur Beschreibung der Lage. An dieser Stelle drängen sich zwei Fragen auf. Erstens, werden sich Menschen, die keine Nahrungsgrundlage mehr haben, deren Wasservorräte zur Neige gehen, von Einreisevorschriften, Mauern, lebensgefährlichen Fluchtbedingungen, am Ende sogar Minenfeldern oder Schießbefehlen an unseren Grenzen aufhalten lassen? Zweitens, wird es der EU auf Dauer gelingen, menschenfeindliche Regimes außerhalb der EU-Grenzen dafür zu bezahlen, dass sie uns das Problem leidender Menschen, notfalls mit Gewalt, vom Hals halten?
Die erste Frage lässt sich leicht beantworten. Wir sehen bereits heute, dass Menschen, die vor Armut, Krieg und Unterdrückung fliehen, an den Grenzen zu Ceuta und Melilla immer wieder über bewachte, sechs Meter hohe Strom- und Natodraht-Zäune klettern oder auf dem Weg zur südlichen Mittelmeerküste und über das Meer selbst ihr Leben riskieren. Wie also sollten Menschen, die außer dem Tod nichts zu erwarten haben, sich von Verboten, Schwierigkeiten, Risiken abschrecken lassen? Selbst dem Zyniker, der kürzlich meinte, die meisten dieser Menschen seien wohl zu arm und geschwächt, um noch weite Wege zurücklegen zu können, war seine Annahme nicht sicher genug, um sich beruhigt zurückzulehnen. Selbst ihm war nämlich aufgefallen, dass Menschen auf der Flucht andere wie eine Welle vor sich herschieben können.
Die zweite Frage ist weniger leicht zu beantworten. Die bisherige Strategie der EU scheint die Zahl der Flüchtlinge, die es bis nach Europa schaffen, zur Zeit zumindest zu verringern. Bewaffnete Staatsorgane, Milizen und kriminelle Banden an der Rändern der EU sorgen gegen Geld dafür, Flüchtlinge gar nicht erst bis ans Mittelmeer kommen zu lassen. Viele Berichte belegen, dass Flüchtlinge zu Zwangsarbeitern gemacht und in menschenunwürdigen Lagern gequält und vergewaltigt werden. Die sogenannte lybische „Küstenwache“ wurde dabei gefilmt, wie sie Flüchtlinge ins Wasser stieß und ertrinken ließ. Zugleich verdienen andere oder dieselben Banden nach wie vor daran, Flüchtlinge in Booten auf dem Meer aussetzen.
Die Balkanroute sollte durch bewachte Zäune am Rande des EU-Gebietes abgeriegelt werden. Vor allem aber dadurch, dass die türkische Regierung Menschen gegen Geld im Lande zurückhält. Die scheint jedoch nicht gewillt zu sein, die Probleme Anderer in ihrem Land „zu lösen“. Der Einsatz deutscher Waffen beim Einmarsch des Nato-Mitgliedes Türkei in ein Nachbarland, um die dort ansässige kurdische Bevölkerung zu vertreiben und in ihren Häusern und Dörfern arabische Flüchtlinge anzusiedeln, wird zu neuer Gewalt und Fluchtbewegungen führen.
Die Strategie der EU, mit den genannten Methoden Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, ist unmenschlich und zudem auf Dauer unwirksam. Es ist kaum vorstellbar, dass Regierungen, Milizen und kriminelle Banden in Zukunft große Zahlen verzweifelter Menschen in den Nachbarländern der EU zurückhalten können und wollen.
Natürlich könnten wir so weitermachen wie bisher und so tun, als ginge uns das alles nichts an – so wie wir hinter der billigen Salami auf unserem Teller nicht die Massentierhaltung erkennen und nicht das Abholzen von Regenwäldern für die Soja-Plantagen, die unsere billige Tiermast erst möglich machen. Die Augen schließen und wegducken macht uns nicht nur mitschuldig – es wird am Ende nicht einmal etwas nützen. Je länger wir warten, bevor wir die Probleme an der Wurzel packen, desto größer werden sie und desto höher der Preis, den wir zahlen müssen.
Man kann sich des bedrückenden Eindrucks nicht erwehren, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten weder willens noch fähig sind, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, um das Ruder herumzureißen angesichts von zunehmenden Handelskriegen, militärischen Konflikten und dem Klimawandel auf dem Globus. Sie scheinen nicht zu erkennen, dass die Politik, die auf Profitgier, sinnfreiem Konsum, Ungerechtigkeit und Gewalt aufbaut, in einer tiefen Krise steckt. Im strategischen Spiel der Großen werden die Karten neu gemischt und alle Seiten ziehen ein militärisches As aus dem Ärmel.
Da kommt es gerade recht, dass die CDU-Vorsitzende und Verteidigungsministerin all denen – bis in sozialdemokratische und grüne Kreise hinein – eine Stimme gibt, die meinen, auch Deutschland müsse endlich seine strategischen und wirtschaftlichen Interessen militärisch vertreten. Da ist die Rede davon, bei den Partnern nicht nur mitzumachen, sondern voranzugehen, z. B. Präsenz im Pazifik zu zeigen und „das Spektrum militärischer Mittel auszuschöpfen“. Sie nennt es „Verantwortung übernehmen“. Die Lösung der Probleme der Welt soll also darin liegen, dass noch ein weiteres Land sich daran beteiligt, mit militärischen Mitteln das Elend zu vergrößern? Oder soll deutsches Militär etwa Handelskonflikte lösen, das Abholzen des Regenwaldes in Brasilien und den Klimawandel stoppen und die Verseuchung der Meere durch Plastik? Natürlich wird ihr Plan, dass deutsches Militär „Verantwortung übernehmen“ müsse, Menschenleben kosten, und sie weiß es. Und wir wissen jetzt, wozu das Anheben der deutschen Militärausgaben auf 2% des Bruttoinlandsproduktes, d. h. auf über 80 Milliarden Euro (!), dienen soll. Natürlich weiß diese Art von Politikern auch, dass die Unsummen fürs Militär dort fehlen werden, wo sie gebraucht werden: Bei Investitionen gegen den Klimawandel, für die Bekämpfung der Fluchtursachen, für die Agrar- und Verkehrswende und für soziale Gerechtigkeit in Deutschland. Was für ein Irrweg! Das weitgehende Schweigen im politischen Berlin zum Plan der CDU-Vorsitzenden spricht Bände.
Dass die weltweite Politik des „Weiter so und mehr davon“ in der Krise steckt, zeigen die Protestwellen, die von Katalonien bis Haiti über den Globus ziehen, Unruhen, Massenproteste und Aufruhr in Ecuador, Bolivien, Chile, Argentinien, im Irak, Libanon, Algerien, Kaschmir und Hongkong. Mal geht es um Armut und soziale Gerechtigkeit, mal um politische Freiheiten. Wenn allerdings große Umweltkatastrophen die Krisen auf der Welt zuspitzen, hilft kein Protest mehr und vielen Menschen bleibt nichts als die Flucht – und das wird uns unweigerlich stärker und direkter betreffen als die Unruhen in fernen Ländern. Die Fakten sprechen dafür, dass die Flüchtlingsbewegungen nicht beendet sind, sondern sich in den nächsten Jahren noch verstärken werden.
Wir haben die Möglichkeit, in Deutschland einen Beitrag leisten zur Lösung von Problemen, vor denen wir uns nicht wegducken können, ob wir wollen oder nicht. Wenn noch etwas aufzuhalten ist, müssen sich nicht nur die Proteste von Fridays for Future vertiefen und ausweiten. Sie müssen sich auch verbinden mit den Aktionen anderer Gruppen der Zivilgesellschaft. Sie müssen die Zusammenhänge grundlegender Probleme in den Blick nehmen, die miteinander verbunden sind und sich gegenseitig verstärken.
Wir müssen unser Konsumverhalten umstellen. Wir müssen verhindern, dass unsere Militärausgaben auf 2% des Bruttoinlandsproduktes erhöht werden und deutsches Militär in fremden Ländern eingreift. Wir müssen unverzüglich beginnen, Fluchtursachen zu bekämpfen indem die internationalen Beziehungen politisch, wirtschaftlich und finanziell auf andere, auf faire Grundlagen gestellt werden. Wir müssen national und international alles tun, was uns möglich ist, den Klimawandel zu begrenzen. Und wir alle müssen uns heute die ehrliche Frage stellen, was wir morgen tun werden, wenn größere Zahlen von Menschen in Not nach Europa und Deutschland kommen. Werden wir bereit sein, zu teilen und die nötigen Anstrengungen zu unternehmen, um sie aufzunehmen? Oder werden wir der Hetze von rechten Rattenfängern und Volksverführern nachgeben und Gewalt gegen Menschen in Not anwenden? Wenn unser Land tatsächlich bereit sein sollte, Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, an den Grenzen notfalls zu töten, wird es danach ein anderes Land sein, werden wir andere Menschen sein. Alle Werte, auf denen unser Leben aufgebaut ist, werden dann nicht mehr existieren. Es ist notwendig, diese Fragen heute zu klären und nicht zu warten, bis der Fall eintritt. Konsequenterweise müssen wir die Finanzierung und Gestaltung der Sozialsysteme, des Steuersystems, des Arbeits- und Wohnungsmarktes in Deutschland so verändern, dass auch die Ärmeren bei uns ihren gerechten Anteil am Wohlstand erhalten und das Land vorbereitet ist auf die Aufnahme von Flüchtlingen, die unvermeidlich kommen werden.
Alle Erfahrung und die sichtbare politische Realität sprechen dafür, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht das Interesse, den Weitblick und den Mut haben, die notwendigen Schritte für eine friedliche Zukunft einzuleiten. Wenn überhaupt, wird sie nur eine breite, überparteiliche Bewegung von Bürger*innen dazu zwingen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.