Wandern schafft Verbindungen zwischen Außen und Innen, Körper und Geist, Beobachtungen und Lehren daraus. Über eine Wanderung, die mir denken half über Philosophisches, Alltägliches, Schönes und Schmerzhaftes – über das Leben allgemein und mein eigenes.
Samstag
Breche morgens auf und suche auf der Karte einen Ort am Canal de Bourgogne und in der Nähe von Dijon, wo ich das Auto eine Woche stehen lassen kann. Sehe erst jetzt, dass der Canal bereits südöstlich von Dijon beginnt. Gut, macht nichts, ich werde sowieso kaum schaffen, den ganzen Canal entlang zu laufen.
Parke um 13.30 neben der Kirche in Velars s/Ouche ca 10 km westlich von Dijon. Ein asphaltierter Weg zieht sich am Canal entlang, der von zu vielen keuchenden Radrennfahrern mit verkniffenen Gesichtern bevölkert wird. Erst nach 7-8 km, in Pont de Pany, wird er zu einem schönen, befestigten, erdig-steinigen Weg. Hätte ich das gewusst, hätte ich die Wanderung hier begonnen.
Es ist 35°, und es gibt nirgends Schatten auf dem Weg. Habe meine Kondition überschätzt, bin in schlechter Verfassung, aus der Übung und nach wenigen Stunden schon ziemlich fertig. Der Rucksack wiegt, ohne Lebensmittel, 14 Kilo.
Nach einigen Stunden beginne ich mich nach einer Unterbringung für die Nacht umzuschauen. In den Dörfern gibt es anscheinend keine Fremdenzimmer, aber jemand meint, ich solle es an der Écluse du Banet, 2 km hinter Sainte Marie, versuchen. Dort treffe ich einen netten, fülligen Mann, der mir die Sprache anbietet, in der ich sprechen möchte. Ich wähle also deutsch, und es stellt sich heraus, dass er und seine magere Frau aus Basel stammen. Sie haben sich für ihre Rente diesen Platz zum Leben ausgesucht. Das kleine alte Schleusenhäuschen haben sie mit Geschmack renoviert, aus dem ehemaligen Stall ein schönes Mezzanine-Apartment für 2, maximal 4 Personen gemacht, unter den Bäumen Tische, Stühle, Bänke aufgestellt. Ein schöner Ort!
Ihre gîte (Herberge, Unterkunft) ist eigentlich nur für mindestens ein verlängertes Wochenende zu mieten, aber sie haben Mitleid (anscheinend sehe ich ziemlich kaputt aus) und geben es mir zum reduzierten Preis von 90 Euro für eine Nacht.
Es ist erst 17.30, habe unterwegs 2 Pausen gemacht, und bin froh, hier die erste Nacht zu verbringen. Habe mich die ganze letzte Woche mit Durchfall von Zwieback und Wasser ernährt und das steckt mir wohl noch in den Knochen.
Der Mann bringt mir einen halben Liter kaltes Bier, dass ich so schnell und mit Genuss trinke, dass ich gleich noch eins bestelle – was sich bald als zu viel herausstellt. Zu essen gibt es leider nur Tiefkühlkost mit Salat, aber das ist mir egal.
Trotz der (vermeintlich?) guten, ziemlich neuen Wanderschuhe habe ich zwei Blasen an den Füßen und mein Pflaster schon am ersten Tag verbraucht.
Sonntag
Habe schlecht geschlafen, stehe früh auf, genieße ein gutes Frühstück in der Morgensonne am Canal. Die Frau erzählt mir, dass ihre beiden Katzen, von denen eine sehr zutraulich ist, schon uralt sind. Der nette Mann bietet mir an zu bleiben und ihre Fahrräder für Ausflüge zu benutzen. Aber ich will ja wandern. Also geht es um 8.15 los.
Nach einer Stunde halte ich an und stelle fest, dass ich inzwischen 6 Blasen an den Füßen habe. Wie kann das sein? Es widerspricht meinen bisherigen Erfahrungen mit den alten Wanderschuhen. Falsche Socken? Gut, dass mir der Mann vor dem Abmarsch noch etwas Pflaster geschenkt hat! Dass es viel zu wenig ist, stellt sich bald heraus. Und das an einem Sonntag und dem darauf folgenden französischen Montag, wo es nirgends was zu kaufen gibt.
Ab jetzt tut jeder einzelne Schritt weh, mache lt. meinem neuen Schrittzähler am Gürtel 4 km pro Stunde. Merkwürdig, die Schmerzen sind ständig da, und dennoch ‚tut es gut‘, einfach weiter zu gehen. Es gibt ja kein zurück, und auch kein einfach sitzenbleiben. Denke über Notwendigkeit nach. Marx hatte Unrecht mit seinem „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“. Das Problem ist dieses „ist“. Wenn er gesagt hätte: „ beginnt mit …“, aber so … Zutreffender ist vielmehr: „Notwendigkeit sei nicht Schlusspunkt, sondern Ausgangspunkt unseres Wollens“. Da kommt zwar das Wort Freiheit nicht vor, aber diese Sichtweise öffnet die Tür zur Freiheit. Es kommt also darauf an, nicht mit Notwendigkeiten zu hadern, sondern sie anzunehmen als etwas, das sich Kategorien von Gut und Schlecht entzieht. Schmerzende Füße scheinen das Nachdenken anzuregen.
Die jetzt ca 15 Kilo auf meinen Schultern spüre ich überraschenderweise weder dort noch im Nacken. Damit hatte ich eher gerechnet als mit dem Problem der Füße.
Mache zu Mittag 45 Minuten Pause auf der Erde unter einem Baum. Habe vor einigen Minuten auf der anderen Seite des Canal eine gut besuchte Kiosk-artige Kneipe passiert. Sehe sie von weitem, sieht verlockend aus. Aber der Umweg über eine Brücke, und dann wieder zurück, ist meinen Füßen zu weit. Also reicht auch meine Wasserflasche, der Käse und der Zwieback, den ich eigentlich kaum mehr sehen mag. Aber meine Darmflora hat sich noch nicht entschließen können, endlich wieder auf Normalbetrieb umzuschalten.
Die Hitze und der Magen machen mir zu schaffen. Nach 23 km sehe ich vor mir Chateauneuf auf dem Berg liegen.
Das berühmte Dorf will ich mir unbedingt ansehen, und der Berg sieht harmlos aus – was ich mit anderen Augen sehe, als ich völlig durchgeschwitzt und fix und fertig um 16.15 oben ankomme.
Gleich am Dorfeingang ein wirklich schönes Erlebnis: Ein Ehepaar, so um die 60-65 Jahre (er Metall-Handwerker, wie ich am nächsten Tag bemerke) kommt gerade von der Arbeit nach Hause. Ich frage, ob sie mir bitte Wasser geben können. Sie bringen mir gleich mehr als ich brauche und trinken kann. Wir unterhalten uns so gut es geht mit meinem Französisch, sie fragen aus welchem Land ich komme usw, und dann gibt mir die Frau auch noch mindestens einen Meter Heftpflaster von genau der Art, wie ich es brauche.
(Als ich das Dorf am Dienstagmorgen verlasse, gehe ich noch einmal vorbei und bedanke mich bei dem Mann in seiner Werkstatt.) Auf meine Frage empfehlen sie mir ein kleines 2 Sterne-Hotel direkt neben der schönen alten Burg (die man im Prinzip besichtigen kann, aber nur an Tagen und Zeiten, wo es mir absolut nicht passt. Dies wird sich noch die ganze Woche wiederholen – Vive la France!).
Ich miete ein kleines Zimmer unter dem Dach (schwül-warm) für 60 Euro die Nacht, und brauche lange, bis ich mich ausgeruht, geduscht, meine Wäsche gewaschen und aufgehängt und vor allem meine Füße verarztet habe.
Muskeln, Sehnen, Gelenke – keine Probleme. Aber die Blasen: Beide Fußsohlen, beide Fersen, 3 Zehen, die meisten Blasen groß und tief. Steche alles auf und klebe es ab. Danach humpele ich vorsichtig, wie auf rohen Eiern, durch Chateauneuf – was für ein schöner Ort! Alte Häuser mit Charakter, alle mit Stil und Geschmack renoviert.
Nehme einen Aperitif in einer Kneipe mit Stühlen draußen und genieße das Abendessen auf der Terrasse des Hotels (gut – wie fast überall in Frankreich).
Montag
9 Stunden geschlafen, trotz der Hitze unter’m Dach.
Meine Füße raten mir gleich nach dem Aufstehen, schon auf dem Weg ins Bad, jetzt nicht alles zu verschlimmern, sondern einen Tag Pause einzulegen. Nach 1 ½ Tagen Laufen bereits Pause? Das darf ich niemandem erzählen! Es kränkt meinen Ehrgeiz und meinen Stolz! Bin ich jetzt wirklich schon alt? Ich hatte mir doch vorgenommen, immer noch alles genauso zu machen und zu schaffen wie damals, vor 22 Jahren auf dem Camino de Santiago! Seit wann fange ich an, Rücksicht zu nehmen auf Hitze, Magen, Durchfall oder Blasen? Ich ringe schwer mit mir. Am Ende siegt rationale Abwägung, es ist klar: Wenn ich die Blasen nicht unter Kontrolle bekomme, kann das das Ende der Wanderung bedeuten.
Ich brauche vor allem eine Apotheke und Vorräte an Pflastern. Außerdem wären andere Socken nützlich, ohne Struktur unter der Fußsohle, Socken, die bei der Hitze weniger Reibung verursachen. Das muss die Ursache der Blasen sein – abgesehen von meinen zarten Füßchen ohne Hornhaut. Und meine schwarze Baumwollhose, die ich damals auf Zypern gekauft habe, ist an einer Stelle sehr fadenscheinig geworden. Das sieht schon gefährlich aus (schade, ich mag sie), und ein Ersatz wäre gut – sicher ist sicher. Scheiße – heute ist ja französischer Montag! Aber eine Apotheke muss es doch irgendwo geben.
An der Rezeption die nächste Enttäuschung: Hier gibt es weder eine Apotheke, noch irgendeine Bus-Verbindung in den nächstgrößeren Ort, nach Pouilly. Ich kann es kaum glauben, wo sind wir hier, in der EU?
Die Frau an der Rezeption bietet mir an, ein Taxi aus irgendeinem anderen Ort zu bestellen („Aber man kann nicht sicher sein, ob das Taxi auch bereit ist, hierher zu kommen“!!). Mir bleibt nichts übrig als anzunehmen. Ein Taxi! Für mich! Auf einer Wanderung! Schande!! Mein Gott, wenn ich überlege: Den allergrößten Teil meines Lebens wäre ich und bin ich nie, niemals!, in einem Taxi gefahren. Taxi war etwas für die Wohlhabenden, und außerdem Geldverschwendung. Das war völlig außerhalb aller Erwägungen.
Und heute? Taxi fahren ist zwar immer noch sehr, sehr selten, aber ich muss zugeben, dass es ein angenehmes Gefühl ist, es sich leisten zu können ohne sich um die Kosten große Sorgen zu machen.
Tatsächlich kommt ein Taxi. Die Fahrerin ist sehr nett. Soweit sie wisse, gebe es in einem Gewerbegebiet von Pouilly einen großen Supermarkt, der montags geöffnet habe und eine Gamm Vert-Filiale, wo ich mit Glück auch Kleidung fände. Sie setzt mich in der Ortsmitte an einer Apotheke ab und kann auf meinen 50-Euro-Schein nicht herausgeben. Ich soll sie anrufen, wenn ich meine Sachen erledigt habe, und nach der Rückfahrt bezahlen. Bin über das Vertrauen überrascht und nehme gerne an.
Kaufe in der Apotheke große Mengen Heftpflaster, nicht plastifiziert, 6 und 8 cm breit, so viel, dass ich fast bis zum Ende der Wanderung damit auskomme. Dann mache ich mich auf den grob beschriebenen Weg zum Gamm Vert, in leichten Straßenschuhen, humpelnd und vorsichtig. Es sind über 2 km und als ich ankomme ist der verdammte Laden zu! Immerhin steht auf einem Zettel, dass er nachmittags geöffnet sein soll. Also versuche ich es in dem großen Supermarkt. Er ist offen, ich kaufe Mineralwasser und einen Apfel, will aber weder in dem Laden, noch in dem hässlichen Gewerbegebiet die Stunden totschlagen, bis der Gamm Vert aufmacht. Also zurück in den Ort. Immer noch sehr heiß. Irgendwo im Schatten esse ich mein letztes Stück Käse mit – schon wieder, bäh – Zwieback und den Apfel. Merkwürdig, dass mein Magen auf Hitze zu reagieren scheint wie vor 35 Jahren, bei meinen ersten Besuchen in Spanien. Das hatte er doch eigentlich längst überwunden …
Ich esse nur zwei Mal am Tag kleine Portionen, aber die erhoffte positive Wirkung scheint – bisher jedenfalls – auszubleiben. Zwar beobachte ich meinen Körper, der irgendwie aus dem Lot zu sein scheint, aber das Ganze macht mir eigentlich nicht wirklich was aus. Ich nehme es, wie es kommt, und mache einfach weiter (außerdem nehme ich so zumindest ab).
Ich hoffe, es gibt irgendetwas Schönes oder Interessantes in Pouilly zu sehen, laufe herum, frage, aber Fehlanzeige. Schließlich setze ich mich einige Stunden vor ein Café in den Schatten, trinke Tee, schreibe und lese.
Um 14.00 wieder zurück zum Gamm Vert. Tatsächlich, geöffnet! Und ich finde sogar eine einigermaßen akzeptable Baumwollhose und so etwas wie Wandersocken. Auch der Preis ist ganz okay. Ich darf die Toilette benutzen, immer noch Durchfall.
Zurück zur Ortsmitte, wo mich auf meinen Anruf die nette Taxifahrerin abholt. Ich bedanke mich herzlich und bezahle großzügig.
Mir fällt auf, dass es mir viel weniger ausmacht als erwartet, den ganzen Tag allein zu verbringen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, mich allein einsam und verlassen zu fühlen – aber nein, es ist ganz okay. Ich bin interessiert an allem was mir begegnet, beobachte mich selbst, lasse meine Gedanken ungezielt treiben wie Wolken am Himmel – wobei diese merkwürdigerweise bis zum Ende der Wanderung gar nicht um die Probleme zu Hause und bei der Arbeit kreisen.
Zurück in Chateauneuf schaue ich mich ausgiebig im Ort um, mache viele Fotos, die ihre eigene Geschichte erzählen. Würde gern mehr über seine historische Vergangenheit wissen. Werde sicher noch mal zurückkehren.
Hier, wie in allen Orten auf der Wanderung, fällt mir die Gedenksäule für die Gefallenen der Weltkriege auf. Die bedrückend lange Liste mit den Namen der Gefallenen aus dem jeweiligen Ort, die im 1. Weltkrieg „für Frankreich“ geschlachtet wurden, scheint überall viel länger zu sein als die, die die Getöteten des 2. Weltkrieg aufzählt. Erstaunlich. Ist das in Deutschland auch so? Ich glaube, auf den deutschen Gedenksteinen ist die Zahl der Toten des 2. Weltkrieges viel größer. Ich muss an die Berichte über die grässlichen und sinnlosen Gemetzel denken (immer noch nicht habe ich Verdun besucht mit seinen Knochengebirgen).
Will nicht noch mal im Hotel zu Abend essen und wähle die L’Auberge du Maronnier, weil sie so schön am Dorfplatz liegt und abends die Sonne noch lange auf die Tische und Stühle scheint. Aber nie wieder! Langweiliger, phantasieloser, viel zu teurer Salat, der von einer schlecht gelaunten Frau gebracht wird, bei der man sich anscheinend entschuldigen muss, dass man sie behelligt hat.
Ich beobachte die recht beträchtliche Zahl von – vorwiegend französischen – Touristen und denke: Wieso bemerken alte Männer, die nur noch mühsam laufen können, deren spindeldürre Beine aus weiten kurzen Hosen herausstechen und in teuren weißen Joggingschuhen enden, deren Kopf von einer Basecap gekrönt wird, eigentlich nicht, dass sie die Würde des Alters der Lächerlichkeit opfern?? Und wieso sagt es ihnen keiner? Dasselbe gilt für dicke alte Frauen, die ihr welkes Fleisch in hautenge Leggins in grellen Farben quetschen und den Betrachter mit grellroten Lippen in Schrecken versetzen. Über die Lächerlichkeit der Erscheinung hinaus ist der Zusammenhang zwischen Kleidung und Schminke einerseits und gewolltem Sex-Appeal andererseits allzu offensichtlich, daher die abstoßende Wirkung.
Dienstag
Um 8.30 geht es los. Überlege noch, ob es sich lohnt, bis 10.00 zu warten, um die vielversprechende Burg neben dem Hotel zu besuchen. Aber dann wäre doch wieder ein halber Tag weg. Also los.
Bin zwar gestern mehr Kilometer gelaufen als vorhergesehen, aber meinen Füßen scheint es besser zu gehen, zumindest hat sich die Lage nicht verschlimmert, und der Tag lässt sich gut an.
Meine Libido ist zurück, nicht nur abends, auch tagsüber. Schön! Herzlich willkommen.
Auf steilem Weg den Berg runter an den Canal, und dann nach Pouilly, zum höchsten Punkt des Canal-Verlaufes. Bisher haben die ungezählten Schleusen alle 1-2 km die Schiffe angehoben, ab Pouilly senken sie die Schiffe ab (jedenfalls aus meiner Blickrichtung betrachtet).
Es ist kurz vor 12.00 als ich in der Nähe des Ortes bin und habe Sorge, dass die Läden schließen, bevor ich mir mein Mittagessen gekauft habe. Ich komme durch eine Wohngegend und halte ein Auto an, um zu fragen, wo der nächste Supermarkt sei. Der Fahrer, wegen seiner wirren Haare, der Kippe im Mundwinkel und der schmutzigen, abgeschürften Hände zweifellos ein Arbeiter, lädt mich sofort ein einzusteigen und fährt mich in die Ortsmitte, die ich schon von gestern kenne. Ich mag diese Art von Leuten einfach! Da gibt es eine instinkthafte Verbindung, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, egal in welchem Land sie mir begegnen.
Kaufe Brot, Käse, Tomaten, Wasser und Wein und humple los, um mir ein schattiges Plätzchen zum Essen zu suchen – und finde ein wunderbares auf einer Bank direkt am Canal unter großen Bäumen, genau dort, wo der Canal vor 200 Jahren durch den Berg gebrochen wurde, wo er eintaucht in den Fels und tief unter Pouilly hindurchführt bis er auf der anderen Seite wieder ans Tageslicht kommt. Aber recht schmal ist er hier schon.
Nachdem ich die Schuhe ausgezogen und meine qualmenden Füße inspiziert habe, genehmige ich mir ein Gläschen Cotes du Rhone und sende – da ich guter Laune bin – emails an Andreas und Pauline und Veronika, worauf sich mit letzterer ein lustiger Austausch einstellt.
Es wird eine ausgiebige Pause, das Essen und der Wein schmecken wunderbar, und es mag daran liegen oder am Inhalt der emails, dass mir „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ als Ausdruck meines Befindens erscheinen.
Dass man als Feminist „Brüderlichkeit“ nicht mehr sagen kann, hat sich herumgesprochen, „Freiheit“ (die politische natürlich) ist zum unveräußerlichen Wert geworden seit es Staaten und damit Herrschaft über Menschen gibt, die „Gleichheit“ allerdings ist unpräzise oder doch zumindest erklärungsbedürftig. Ist die soziale oder politische Gleichheit gemeint? Lässt sich Gleichheit im wörtlichen Sinne herstellen, und wenn ja, wäre dies überhaupt wünschenswert? Man müsste die (angebliche) Maxime der französischen Revolution zumindest zu zwei Dritteln umformulieren – und betonen, dass diese Parole nur als Gesamtkonzept gedacht werden darf, nicht in isolierten Teilen.
„Wer nur Freiheit verlangt, bekommt das Recht des Stärkeren.
Wer sich mit sozialer Gerechtigkeit begnügt, mag mit politischer Diktatur leben.
Wessen alleinige Maxime die Mitmenschlichkeit ist, wird von politischer Macht missbraucht werden.
So lässt sich die Losung Freiheit, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit!
nicht in ihre Teile auflösen.
Denn ein jedes von ihnen ist bedingt durch die anderen.“
Dieses – in der Form noch etwas unbefriedigende – Epigramm könnte unter der Überschrift stehen: „Über Kapitalismus und Staatssozialismus“.
Engels schrieb, dass die in der französischen Revolution zur Macht gelangte Bourgeoisie den Menschen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ versprochen habe, der Kapitalismus dieses Versprechen jedoch niemals einlösen könne. Dies bleibe erst dem Sozialismus vorbehalten. Was für ein grausamer Scherz, jedenfalls was den Staatssozialismus betrifft, den wir kennen! Gerade deshalb – der Gedanke, die Forderung und das Ziel bleiben revolutionär. In Anlehnung an Brecht:
„Freiheit, Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit sei das Mindeste, das wir leben und verlangen wollen.
Es ist das Einfache und Natürliche, das schwer zu machen ist.“
Der Nachmittag wird sehr lang, sehr heiß und irgendwie langweilig. (In der Erinnerung wird diese Mittagspause jedenfalls zur schönsten und genussvollsten meiner Wanderung.) Eigentlich gefällt mir die Landschaft. Wären nicht die Berge links und rechts und die typischen französischen Dörfer, würde sie mich an Westfalen erinnern, genauer an den Lauf der Ems im Münsterland. Der Canal ist ähnlich breit, seine sanften Biegungen, die gelegentlichen Pappeln links und rechts, das satte Grün der Landschaft …
Wahrscheinlich wegen des Rhythmus des Laufes kommen mir die alten linken sogenannten „Arbeiterlieder“ in den Kopf, die wir vor 30-40 Jahren gesungen haben. Aber mir wollen die Texte nur noch in Bruchstücken einfallen, und das Grübeln hilft nur wenig. Schade … Ich habe die Lieder sehr gemocht, und das gemeinsame Singen damals hat so viel Freude gemacht, Kraft gegeben und Gemeinschaft gestiftet.
Zumindest scheint mein Magen endlich wieder in Ordnung zu sein. Gelegentliche Pausen um nach den Blasen zu sehen. Einige sind besser geworden, andere schlimmer.
Irgendwann fange ich an, über ein Zimmer zum Schlafen nachzudenken, aber die Dörfer, die 2-3 km vom Canal entfernt liegen, sind wohl zu klein, um Touristen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit irgendeine Infrastruktur anzubieten. Und den Weg hin und zurück umsonst machen? Also weiter nach St. Thibault. Lt. meiner Karte (ein buntes DinA3-Blatt für Radwanderer, aus dem Internet heruntergeladen) muss dies ein größerer Ort sein.
Bei irgendeiner Pause, um nach meinen Füßen zu sehen, bücke ich mich, und meine Hose reißt hoch über dem rechten Oberschenkel breit auf. Das sieht jetzt ziemlich scheiße aus. Aber ich habe ja zum Glück die Ersatzhose gekauft! Werde sie heute Abend im Zimmer auspacken.
Nach 30 km komme ich ziemlich kaputt in St. Thibault an. Schon von weitem sieht man den berühmten gotischen Chor hoch in den Himmel ragen. Sieht komisch aus. Wo ist denn die dazu gehörige Kirche?
Was für eine Enttäuschung. Der Ort ist ein armseliges, deprimierendes Dörfchen mit wenigen Häusern. Frage einen Bauern nach chambres d’hotes (Gästezimmern). Er sieht mich erstaunt an – nix! Nach wenigen Metern sehe ich einen kräftigen, mittelalten Mann mit ziemlich langen, unten Pagen-artig gerade abgeschnittenen grau-blonden Haaren, der mitten im Ort mit einer Schubkarre Kaminholz in einen alten Steinschuppen transportiert. Frage ihn, aber er scheint mich nicht recht zu verstehen. Da übersetzt seine kleine, blonde Tochter ihm auf Englisch was ich sage. Na prima, das ist mir recht. Spreche also auf Englisch weiter. Er sagt, es gebe keine chambres d’hotes, aber ein Ehepaar biete eine gîte an. Falls es nicht klappt, soll ich wiederkommen, und er werde noch mal sehen, ob sich was machen lasse. Er beschreibt das Haus, seine Tochter begleitet mich auf dem Fahrrad.
Ein junges Ehepaar betreibt die gîte, aber vermietet es nur für mindestens eine Woche. Sie sind sehr nett, geben mir Wasser, bieten mir einen Stuhl an, und er beginnt, in der ganzen Umgebung herumzutelefonieren, um ein Zimmer für mich zu finden – vergeblich. Ich bedanke mich und sage: Kein Problem, ich kann auch am Canal schlafen. Als ich gehe, ist es mir peinlich, dass sie von hinten sehen, wie ich in meiner zerrissenen Hose aussehe – sie müssen mich für sonst was halten …
Also zurück zu dem Mann mit den langen Haaren, ein irischer Ami, wie sich herausstellt. Seine Frau kommt hinzu, auch sie USAnerin. Sie holt mir einen Stuhl und ein warmes Bier, wir beginnen zu reden. Sie haben gerade ihr gemietetes Haus für die Übergabe völlig entleert und verlassen das Dorf nach einem Jahr Aufenthalt. Zur Not könne ich dort auf dem Boden schlafen, aber … Ich sage, ich könne z. B. auch in der kleinen Kirche mit dem angehängten Riesen-Chor … Geht nicht, abgeschlossen – natürlich. Na gut, dann eben in den Büschen am Canal. Leider habe ich dort nirgends Bänke gesehen, und ich habe weder Zelt noch Schlafsack, aber es gibt Schlimmeres.
Ein weiterer Ami kommt hinzu, der schwer an Krücken geht (am nächsten Tag erfahre ich, er lebt schon 20 Jahre in Frankreich, ist Vorsitzender des Montgolfier-Vereins der Bourgogne mit Sitz in Vézelay und seit einem schweren Fesselballon-Unfall an den Beinen gelähmt). Er bekommt auch einen Stuhl und beginnt in perfektem Französisch herumzutelefonieren. Nach einiger Zeit gibt er mir das Telefon und sagt: „Speak German!“. Okay, ich erkläre also in langsamem, deutlichem Deutsch, dass ich ein Zimmer suche und … Eine akzentfreie Frauenstimme unterbricht mich und sagt, man werde mich mit dem Auto zu ihr bringen. Und tatsächlich, der Krückenmann holt sein Auto, und er und die befreundete Frau bringen mich über ein Gewirr von schmalen Landwirtschaftswegen irgendwo, ich weiß nicht wo-, hin.
Die Fahrt dauert ziemlich lange. Den beiden gefällt es, dass ich Gewerkschaftsarbeit mache, die Ami-Regierungspolitik nicht mag, usw. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden, und sie sind wirklich sehr nett. Als wir ankommen, will der Fahrer nicht mal Spritgeld von mir annehmen, und wir verabschieden uns herzlich.
Es ist bereits Viertel nach Acht und dämmerig. Auf einem großen, offenen Hof eines alten Bauernhofes, zu dem anscheinend ein Turm und schlossartige, halb verfallene Gebäude gehören, erwartet uns eine Frau um die 40, die die beiden gut zu kennen scheint. Sie entschuldigt sich, dass sie wegen privater Gäste keine Zeit habe, zeigt mir ein Zimmer unter dem Dach und verschwindet.
Uff, na gut, ich weiß nicht, wo ich bin, das Ganze ist mir irgendwie mysteriös, aber ich habe ein schönes, gut restauriertes Zimmer mit alten Balken und einem modernen Bad. Jetzt erst mal auf dem Bett ausruhen, dann duschen, Unterwäsche waschen und aufhängen und vor allem die Füße versorgen und verbinden. Würde hungrig ins Bett gehen, hätte ich nicht noch etwas Brot und Wein von heute Mittag.
Inzwischen ist es Nacht. Ich humple in meiner neuen Hose nach unten, schaue mich in einem schönen, alten, einer Art Gemeinschaftsraum und hinter dem Hauptgebäude um und rauche noch ein Zigarillo. Dann endlich ins Bett. Kann schlecht einschlafen, wälze mich lange hin und her.
Um 2.00 wache ich von einem heftigen Gewitter auf. Es regnet wie aus Eimern gegossen. Zwar muss man Alles mal mitgemacht haben, aber dennoch ziehe ich es vor, jetzt nicht am Canal in den Büschen zu liegen …
Mittwoch
Am nächsten Morgen genieße ich in einer riesigen Wohnküche ein schönes Frühstück, und die Frau des Hauses hat jetzt Zeit zum Plaudern. Ich erfahre, dass ich bei Elisabeth und Jean-Michel Senechal bin, in einer Bauernschaft namens Chazelle l’Echo, die zu Fontangy gehört, westlich des Canals, südlich von Semur en Auxois und am Arsch der Welt. Sie erzählt mir von den Amis, die ich gestern kennengelernt habe. Unglaublich – sie ist aus einem Dorf in der Nähe von Borken, das mir vom Namen her bekannt ist. Sie und ihr französischer Mann haben ihr altes Leben aufgegeben, diesen Bauernhof gekauft, den sie jetzt seit Jahren selbst renovieren und bieten Zimmer für Urlaub auf dem Land an. Ein Seminarraum kommt gerade hinzu für Gruppen, die in Klausur gehen wollen. Sie sind in keinem Prospekt oder Internet zu finden und vertrauen nur auf Mundpropaganda. Zusätzlich nehmen sie irgendwie betreuungsbedürftige Personen auf, für die eine Behörde ihnen Geld gibt. Früher war der große Bauernhof Teil eines Chateau, von dem heute fast nur noch ein Turm übrig ist. Der Bauer, der das Ganze in den 30er Jahren besaß, hat das Chateau demontiert und Stein für Stein einzeln verkauft.
Das Zimmer inklusive Frühstück kostet nur 50 Euro, und am Ende schenkt mir die Frau sogar noch eine richtige Wanderkarte und eine Liste der Gästezimmer in der Region. Wir verabschieden uns herzlich, und ihr schwarzer junger Teddybär-Hund mit den traurigen Augen will mit mir auf die Wanderung gehen. Schade, sie hält ihn zurück, so einer wäre ein wunderbarer Freund auf jeder Wanderung. Es ist 9 Uhr 30, ich treffe noch ihren Mann am Wegesrand, der dort Beeren pflückt. Er wünscht mir Glück, und es geht weiter.
Erstaunlich, in alter Zeit war die Bourgogne so reich, eine der entwickeltsten Regionen Europas – heute machen die Dörfer und die Bauernhöfe einen ausgesprochen ärmlichen Eindruck, sehr viel ärmer als die im Münsterland z. B..
Das Wetter hat sich seit dem nächtlichen Gewitter gedreht, auf den nächsten 8 km nach Pércy werde ich zweimal nass. Ich muss die Landstraße entlang laufen, und unterwegs hält ein Autofahrer und bietet an, mich mitzunehmen. Ich lehne dankend ab (da weiß ich noch nicht, wie nass ich noch werde).
Wäre es faul gewesen, das Auto zu wählen? Quatsch, es gibt keine Faulheit. Faulheit ist nur ein moralisch aufgeladener – vermutlich protestantisch-kapitalistischer – Kampfbegriff, erfunden, um Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, die ihnen keine Freude machen. „Faulheit“ als Begriff und Konzept macht keinerlei Sinn, es gibt lediglich Menschen, denen unterschiedliche Tätigkeiten – denn es gibt ja eigentlich kein Nichts-Tun – entweder Freude machen oder als Pflicht erscheinen. (Nietzsche: „Deine Pflichten sind die Rechte anderer auf Dich.“)
In Pércy schaue ich mir die Karte an, und stelle fest, dass es in der Umgebung keinen einzigen interessanten Ort gibt, zu dem man zu Fuß in vertretbarer Zeit kommen könnte. Es gibt eine Touristen-Information, wo ich erfahre, dass ich erst um 18.40 mit dem Bus von hier wegkomme. Mist!
Inzwischen schüttet es wie verrückt – also in eine Kneipe, wo man ein Tagesmenü für 15 Euro bekommt. Der Wirt ist abweisend-unfreundlich, dass Menü gut, aber zu viel, und liegt mir wie ein Stein im Bauch.
Nach dem Essen – das Wetter hat sich beruhigt – erkunde ich den Ort, der einige nette Ecken hat. Die Kirche ist, wie immer, abgeschlossen. Unter einigen Linden setze ich mich auf eine Bank. Und wieder ein Kriegerdenkmal mit endlosen Namen der Geschlachteten im 1. Weltkrieg. „Mortes gloriousments pour la patrie“ (Glorreich fürs Vaterland Gefallene) – welche Verhöhnung dieser armen junger Männer! Nichts war glorreich und großartig, verreckt sind sie elendig im Dreck, geschrien haben sie, leben wollten sie! Auch den in den Kolonialkriegen in Indochina, Algerien Verreckten rufen sie hinterher: Pour la patrie. Selbst in und an den Kirchen tragen diese gemeinen Lügen dazu bei, neue Generationen für neue Massaker zuzurichten.
Ich muss an das Lied von Tucholsky denken:
„Mutter, wozu hast Du Deinen aufgezogen, hast Dich 20 Jahr mit ihm gequält?
Wozu ist er Dir in Deinen Arm geflogen, und Du hast ihm leise was erzählt?
Bis sie ihn Dir weggenommen haben – für den Graben, Mutter, für den Graben.“
All diese Namen, ich möchte weinen …
Aber wenn wir den nächsten Krieg verhindern wollen, gilt am Ende immer noch der Satz: „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber!“
(Einige Tage später, in Oberstdorf im Allgäu, besuche ich eine Kapelle, die für die Gefallenen der Weltkriege dieses Ortes errichtet wurde. Viel mehr sind im 2. Weltkrieg gefallen als im 1.. Keine dummen Lügen im Stil von „Heldenhaft gefallen für Gott und Vaterland“. Im Gegenteil, es gefällt mir, dass in derselben Kapelle zugleich mit einer hölzernen Skulptur an einen katholischen Priester erinnert wird, der wegen seiner Opposition zu den Nazis verfolgt wurde. So etwas scheinen sich die Franzosen nicht leisten zu können, da sie ja sonst ihre gefallenen Soldaten der Kolonialkriege nicht rechtfertigen könnten.)
Soll ich wirklich noch stundenlang auf einen Bus warten? Oder alternativ 13 km eine Hauptverkehrsstraße entlang laufen? Also Anhalter. Es dauert nicht lange, und ein junger, netter Handelsreisender nimmt mich mit bis nach Semur en Auxois.
Die schöne, alte, ehemals bedeutende Stadt an einer tiefen, schroffen Schlucht über einem Fluss ist ziemlich heruntergekommen. Man muss Angst haben, die beiden mächtigen Stadttürme zu passieren, in denen über die ganze Höhe handbreite Risse klaffen, und an denen trotzdem täglich die 40-Tonner vorbeirumpeln. Viele Häuser stehen leer, vieles in schlechtem Zustand, die berühmte Kathedrale ist nur zu Zeiten geöffnet, die für Besucher wie mich unmöglich sind, ab 18.30 geschlossen! Sogar das Polizeirevier ist genau von 9.00 bis 12.00 und von 14.00 bis 17.00 geöffnet! Als Krimineller würde ich mich für die Information herzlich bedanken.
Wähle nach einigen vergeblichen Telefonaten und manchem Hin- und Herlaufen ein Gästezimmer, das sich als Scheißzimmer an einer LKW-befahrenen Ausfallstraße herausstellt. Ich hätte ein billiges Hotel in der Stadt nehmen sollen, von denen es einige gibt, wie ich – zu spät – bemerke. Gehe abends spazieren, Hans ruft mich an, freue mich. Schöner Ort, trinke zwei Weißwein, wo ich noch draußen sitzen kann, obwohl es kühl geworden ist. 17 km sind genug für heute.
Donnerstag
Um wieder zu meiner ursprünglich geplanten Wanderroute, dem Canal de Bourgogne, zu kommen, nehme ich am Morgen den Bus nach Montbard. In der Umgebung gibt es viele lohnende Ziele, und es gibt günstige Zugverbindungen, um am Samstag, dem letzten Tag meiner Wanderung, zum Auto zurückzukommen. Es lohnt sich deshalb nicht, für einen oder einen halben Tag den Weg am Canal fortzusetzen. Außerdem ist das Wetter kühl, unbeständig, regnerisch geworden.
Das „Hotel du la Gare“ sieht von außen nicht schlecht aus, das Zimmer ist aber nur gerade noch okay. Die Frau an der Rezeption, anscheinend die Chefin, ist extrem unfreundlich, taut aber am nächsten Tag ein wenig auf. Ich soll einen Großteil meiner Sachen zunächst in einer dubiosen, unbeaufsichtigten Kammer lassen. Vielleicht hält man hier Wanderer grundsätzlich für Penner, die nur deshalb zu Fuß gehen, weil sie sich kein Auto leisten können? So ist es mir vor Jahren mal an der Lahn gegangen.
Schaue mir den Ort an, nicht sehr interessant. Überall Schilder zur Kirche St. Urse. Laufe also auf den Berg, um sie anzusehen. Abgeschlossen, natürlich!
Gehe zur Touristen-Information am Bahnhof, um zu erfahren, wie ich am besten zur Abbay de Fonteney komme. Zwei unfreundliche, inkompetente Hühner teilen mir genervt mit, zu Fuß seien es 6 km bis zur Abbay. Später stelle ich fest, dass es 12 waren, aber das mag auch an dem katastrophalen Zettel liegen, den sie mir als „Wegbeschreibung“ mitgeben, und an der widersprüchlichen Ausschilderung am Weg.
Aber immerhin, zwei Drittel des Weges sind sehr schön. Allerdings nicht die beträchtliche Strecke, die ich zunächst eine Hauptverkehrsstraße entlang laufen muss. Flüchte vor heftigem Regen unter einen dürren, kleinen Baum an einem Autoparkplatz. Ein Lieferwagen hält in etwas Entfernung, sieht mich an und fährt ein Stück weiter, damit der nasse Kerl mit dem Rucksack und dem großen Stock ihn nicht ansprechen kann. Das macht er noch zweimal sobald ich mich bewege, um einen besseren Baum zu suchen. Nicht weit von dem Parkplatz sehe ich so etwas wie Beton-Unterstände, die sich als Versorgungsstationen für übernachtende Wohnwagen-Reisende entpuppen. Nichts wie hin und die nassen Klamotten aus. Esse mein Brot, Käse, Tomate im Stehen, aber immerhin im Trockenen. Jetzt tut der Rotwein gut und die Zigarette nach dem Essen.
Im Laufe des Nachmittags komme ich überraschenderweise noch mal ins Schwitzen. Meine Füße sind wieder begehbar, allerdings in den leichten Straßenschuhen, die ich an diesem Tag versuchsweise gegen die Wanderschuhe ausgetauscht habe. Vermutlich sind die Blasenprobleme lediglich den notorischen ersten 3-5 Tagen geschuldet, der Reibung in den Schuhen bei Hitze, und dem Fehlen von schützender Hornhaut.
Die Abbay de Fonteney ist beeindruckend, mache viele Fotos. 1118 gegründet vom ebenso „berühmten“ wie zweifelhaften Heiligen Bernard de Clairvaux, 1139 Beginn des Kirchenbaus, weitestgehend erhalten in romanischem Baustil. Mönche anscheinend während der Revolution enteignet, ab 1820 86 Jahre lang Papierfabrik. Heute UNESCO-Weltkulturerbe, seit über 100 Jahren Privatbesitz. Die gewaltige Anlage kann unmöglich, wie behauptet, von den in Spitzenzeiten 200 Mönchen allein gebaut worden sein. Wahrscheinlich hat man es nicht für nötig gehalten, die unzähligen Bauern zu erwähnen, die Eigentum der Mönche waren und Frondienste leisten mussten. Ein wenig peinlich, wie das ‚karge Leben‘ der Mönche betont wird. Das der Bauern war sicher karger. Immerhin, wenn es stimmt, dass im Winter außer der Schmiede nur das Krankenzimmer beheizt war …
Bemerkenswert, dass der Wasserrad getriebene Schmiedehammer hier erfunden und erstmals eingesetzt worden sein soll. Die Konstruktion wurde von einem wissenschaftlich betreuten französisch-deutschen Team von Freiwilligen wiederhergestellt.
Das Kloster hatte ein eigenes Gefängnis und war durch Mauern, Torwächter, Hunde geschützt. Mitten im Kloster ein prächtiges Herrenhaus, das für die Äbte errichtet wurde nachdem diese nicht mehr gewählt, sondern vom König eingesetzt wurden.
Habe schon in Semur erfahren, dass in der ganzen Gegend Navettes eingesetzt werden, Minibusse für Touristen, die einen kostenlosen Shuttle-Service zwischen wichtigen Orten und Sehenswürdigkeiten anbieten. Bin nicht in der Stimmung, die 12 km nach Montbard zurückzulaufen. Kurz bevor die Abbay um 18.00 geschlossen wird, will ich den Navette-Service nutzen – aber: die letzte Navette fuhr um 16.00! Ich hatte schon zuvor den leisen Verdacht, dass man in dieser Gegend einen 12-jährigen Praktikanten eingestellt haben muss als Verantwortlichen für Tourismus und Organisation …
Der Kartenkontrolleur am Eingang der Abbay ist selbst etwas irritiert, dass keine Navette fährt. Er telefoniert etwas herum, aber nichts zu machen. Er geht in den zugehörigen Buch- und Souvenirladen und kommt mit einem französischen Ehepaar wieder heraus, das mich gern nach Montbard mitnehmen will. Sehr nett, alle drei! Wir unterhalten uns gut auf der kurzen Fahrt, sie setzen mich am Hotel ab, und ich bedanke mich herzlich.
Bin heute 19 km gelaufen und hungrig. Am Abend leiste ich mir im gut besuchten, zum Hotel gehörigen Restaurant unter freiem Himmel ein 3-Gänge-Menü. Vier Stunden später Durchfall. Verdammter Mist! Zum Glück bin ich wenigstens im Hotelzimmer.
Freitag
Es ist kühl geworden und stark bewölkt, Regen ist angekündigt. Versorge, wie immer, erst mal meine Blasen (bisher 1,5 Meter Pflaster verbraucht) und gehe ohne Frühstück, ebenfalls wie immer, erst mal zum Bahnhof und erkundige mich nach Zugverbindungen, um zu meinem Auto zurückzukommen. Sehr nette, hilfsbereite Frau am Schalter.
Insgesamt hat sich gezeigt, dass die gesamte Infrastruktur in dieser Gegend – jemand hat mir gesagt: allgemein in Frankreich – schlecht für Wanderer ist. Wegenetz abseits von Autostraßen, Übernachtungsmöglichkeiten, Informationen, es mangelt an allem … Gästezimmer oder Lebensmittelladen in 10 oder 20 km Abstand vom Wanderweg bedeutet für Wanderer 2,5 oder 5 Stunden Fußmarsch, für Radfahrer aber nur 30 bis 60 Minuten im Sitzen. Abgesehen davon, dass Kirchen hier grundsätzlich abgeschlossen zu sein scheinen. Ich dachte, berühmte Bauwerke sollten Reisende anziehen, aber hier vielleicht nicht … Kein Wunder, dass ich die ganze Woche keinen einzigen Wanderer gesehen habe, nur ein paar Fahrradfahrer auf Tour.
Der ganzen Gegend scheint es wirtschaftlich nicht gut zu gehen, jedenfalls stehen überall Häuser zum Verkauf.
Würde mir gern das berühmte Alésia ansehen. Mein Burgund-Fremdenführer schreibt, es gebe dort ein Museum zum Leben der Kelten. Die Hühner im Touri-Büro in Montbard sagen, es gebe keins. Das Touri-Büro in Semur dagegen teilt die Meinung meines Fremdenführers. Also hin, und zwar mit der Touristen-Navette, die vor dem Eingang des Touri-Büros abfahren soll.
Sehe allerdings nur einen Schulbus, der in einiger Entfernung parkt. Die Zeit vergeht, ich werde misstrauisch, frage die Hühner, und die sagen mir – genau in dem Moment, in dem der Schulbus völlig leer wegfährt – dies sei die Navette gewesen. Ich winke, schreie – vergeblich. Bin stinksauer!
Was jetzt? Alésia ist zu weit, um mal eben zu Fuß hinzulaufen. Muss also warten, bis in zwei Stunden die nächste fährt. Ich laufe den Canal entlang nordwärts, nach einer Stunde fängt es an zu regnen. Zurück in den Ort, es regnet immer stärker. Hoch zur Eglise St. Urse, vielleicht ist sie heute geöffnet. Natürlich nicht. Nirgends ein Dach, um mich unterzustellen. Drücke mich, so gut es geht, gegen den Kircheneingang. Aber es will nicht aufhören zu regnen, und muss ich zurück zum Touri-Büro, um wenigstens die nächste Navette zu erwischen. Tatsächlich, es klappt.
Sitze nass im Minibus. Die Besichtigung des Chateau de Bussy-Rabutin kann ich aus Zeitgründen schon mal knicken. Als wir dort ankommen, weiß auch die Fahrerin nicht, ob das Chateau nicht wegen der Mittagspause sowieso geschlossen ist. Also fahre ich weiter mit nach Alise St. Reine.
Schönes Dorf mit steilen Straßen am Berg. Kein Mensch auf der Straße, und es regnet und regnet. Nirgends ein Hinweisschild zum Museum, nur zum Vercingetorix-Denkmal. In einiger Entfernung gibt es eine Ausgrabung einer römischen Villa. Aber davon habe ich schon genug gesehen, und jetzt interessieren mich die Kelten. Also den Berg hoch zum Denkmal.
Es gefällt mir, es wirkt nicht so nationalistisch-plump wie das Hermanns-Denkmal im Teutoburger Wald, ist aber vermutlich aus derselben Zeit. Die Denkmäler demonstrieren, wie die europäischen Völker sich im 19. Jahrhundert ihre Vergangenheit selbst erfanden, den Bedürfnissen der Eliten entsprechend. Im Balkan sind sie selbst nach über 100 Jahren immer noch nicht fertig damit.
Was jetzt? Bei dem Regen und nur mit meiner Jacke, ohne Hut und Schirm macht keine weitere Erkundung Spaß. Also runter ins Dorf und erst mal irgendwo essen. Folge meinem Instinkt und lasse das Restaurant Le Cheval Blanc links liegen und finde ein Stück weiter auf der gegenüber liegenden Straßenseite ein Kneipe, in der Arbeiter, Handwerker und junge Leute essen. Alle schauen mich an, wie ich mich klatschnass mit meinem großen Stock und dem Rucksack durch die Tische schiebe, manche lächeln und grüßen freundlich. Die Kneipe hat was von Arbeiter- und Alternativ-Szene, hier gefällt’s mir. Das Essen, lokale Küche, ist ausgezeichnet. Habe das Gefühl, dass ich irgendwann noch mal hierher zurückkommen werde. Der sympathische Wirt erklärt mir, es habe ein Kelten-Museum gegeben, aber man habe es geschlossen, weil man ein neues, besseres baue. Schade, hätten sie das alte doch noch so lange geöffnet lassen können …
Nach dem Essen eine Zigarette in einer überdachten Einfahrt zu einem alten Hof neben der Kneipe. Nette junge Leute fragen mich nach dem Woher und Wohin, es scheint ihnen zu gefallen, dass hier einer zu Fuß durch die Gegend läuft, aber gleichzeitig finden sie es auch etwas merkwürdig.
Ich entschließe mich, zu der Stelle zu gehen, wo eine Navette zurück nach Montbard fahren soll. Stelle mich unter ein Vordach und passe auf, dass die Navette nicht einfach vorbeifährt ohne mich mitzunehmen. In Montbard soll es ja auch Museen geben, und was Anderes geht bei dem Wetter sowieso nicht.
Zunächst zum Musee du Beaux Art in einer neogotischen ehemaligen Kapelle. Uralte, eigentlich interessante Fahrräder und Mopeds ohne erklärende Hinweise neben wirren Kollagen und belanglosen Fotos burgundischer Landschaften auf dem Niveau von Urlaubs-Schnappschüssen eines angeblich bedeutenden Fotografen. Eine aufgetakelte alte Spinatwachtel taucht auf, die unglaublich wichtig tut und von einem Tross von Begleitern und Fotografen eskortiert wird. Sie lässt Leute dabei filmen, wie sie mit verbundenen Augen Kunst fotografieren. Heilige Einfalt …
Ich frage einen jungen Mann, der anscheinend zum Museum gehört, wie ich in das Musee Buffon in der alten Orangerie komme. Er ist nett, beginnt ziemlich gutes Deutsch zu sprechen und bemerkt wie gern er es spreche.
Das Musee Buffon ist jedenfalls professioneller geführt. Buffon? Nie gehört den Namen, scheint aber wichtig gewesen zu sein. Im Erdgeschoss moderne Kunst – für meinen Geschmack zu bunt, zu plakativ – neben großen und kleinen Buffon-Statuen und –Büsten. Der 1. Stock ist interessanter. Ein Sammelsurium von astronomischen Instrumenten, Kristallen und Versteinerungen, neolithischen und bronzezeitlichen Artefakten, in Konservierungsflüssigkeit eingelegten und ausgestopften exotischen Tieren und Insekten – Hinterlassenschaften eines für seine Zeit ungewöhnlich interessierten, suchenden Geistes, sicher eines Mannes mit weitem Horizont.
Wie ich später herausfinde war dieser Georges Louis Marie Leclerc, Comte de Buffon, 1707-1788, ein sehr reicher Graf mit großem Schloss in Montbard, ganz offensichtlich ein Wegbereiter der neuen Gesellschaft, mit der das feudale Frankreich schwanger ging. In der Nähe von Montbard gründete er ein Stahlwerk(!) mit revolutionärer Technik. Stahlwerk, ein dreckiges, lautes Monstrum, geschaffen, um Profit abzuwerfen – was für ein Akt für einen damaligen Adeligen! Durch Titel, Privilegien und Lebensstandard eigentlich ein Vertreter der alten Gesellschaft und herrschenden Klasse von Feudalherren – und gleichzeitig im Denken und Handeln revolutionär, jedenfalls im Sinne einer neuen bürgerlichen Klasse. Seine Geisteshaltung und sein Handeln werden verständlicher als ich herausfinde, dass er ursprünglich aus einer gebildeten, reichen Bürger- und Beamtenfamilie stammte, die dem Adel zuarbeitete, und erst später vom König zum Grafen ernannt wurde. Die Revolution hat er nicht mehr erlebt, sie wirtschaftlich, kulturell und ideologisch mit vorbereitet hat er sicher.
Der Gedanke an Vergleiche mit dem Heute kommt ganz unwillkürlich. Wer sind diejenigen, die gerade jetzt um uns herum im ebenso brutalen und verfaulenden wie gleichzeitig schaffens-, und zerstörungsmächtigen Kapitalismus das Neue ausbrüten oder sogar schon vorleben?
Die “revolutionäre Arbeiterklasse“, oder besser ihre selbst ernannte Avantgarde, bisher wohl jedenfalls nicht. Deren verschiedene Varianten von Staatssozialismus entpuppten sich als Alptraum, allenfalls nützlich, um notwendige Schlüsse über Kontrolle von Macht, Gewaltenteilung, Dezentralisierung zu ziehen. Die selbst-organisierte, autonome Gemeinschaft der Zapatistas in Chiapas? Die Landkommunen der Aussteiger mit Gemeineigentum, die neue Lebensformen erproben? Junge Menschen der reichen Welt, die angewidert vom Konsum um des Konsums willen freiwillige soziale Dienste leisten oder für den Schutz von Umwelt und Klima kämpfen und so ihrem Leben einen Sinn zu geben suchen? Die Erfinder neuer Technologien, deren Anwendung nur unter neuen Besitzverhältnissen Sinn macht? Die landlosen Armen und besitzlosen Arbeitssklaven der sogenannten Dritten Welt? Sicher nicht als unorganisierte Masse. Oder die Bill Gates und Warren Buffets, die ihre Milliarden in wohltätige Stiftungen verwandeln und auf eigene Faust und ohne irgendeine demokratische Beteiligung und Kontrolle damit Gutes tun? Oder George Soros, der in gewissem Sinne an Friedrich Engels erinnert und als Börsenspekulant im globalen Kasino skrupellos Milliarden macht und mit demselben Geld demokratische Graswurzel-Bewegungen fördert auf der ganzen Welt?
Wahrscheinlich werden erst die Nachgeborenen in der Rückschau sagen, wer von all diesen die Fundamente für das Neue legte und ihm zur Geburt verhalf – so wie ich Nachgeborener im Buffon-Museum umhergehe und sinniere.
Vielleicht ist die Antwort auf die Frage, wer die Haupttriebkraft gewesen sein wird, gar nicht eindeutig. Warum sollte es nicht viele, ganz verschiedene neue Wege geben und Versuche, Alternativen zu erproben? Was aber all diese Menschen, Bewegungen und Kräfte zweifellos gemeinsam haben, ist der Bruch mit der ideologischen Hegemonie des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Sie alle suchen etwas Anderes als die angeblich alternativlose „Freiheit der Märkte“ und den blinden Zwang zu immerwährendem, zerstörerischem Wachstum, diese grausame Macht, die in Wirklichkeit Herrschaft von Menschen ist und unsere Lebensgrundlagen auf dem Planeten zerstört.
Aber wird es überhaupt gelingen, den Kapitalismus durch Besseres zu überwinden oder wird er, wie schon mehrmals in der Vergangenheit, nur eine neue Form annehmen? Die sich Niedrig-Energie-Häuser bauen, auf dem Dach ihre eigene Energie erzeugen, die 400 oder 500 Transition Towns in 30 Ländern der Welt, die daran arbeiten, ganz ohne Erdöl und Erdöl-Produkte auszukommen, sie tragen sicher dazu bei, die Macht der Energiekonzerne zu brechen, sogar das Zeitalter der Kriege um’s Öl zu beenden – großartig, dies wird der Welt ein neues Gesicht geben! Aber wird es die Ausbeutung von Menschen beenden oder die Herrschaft über Menschen?
Mir scheint, das Ringen zwischen denen, die Freiheit, Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit verkörpern und denen, die Demokratie zu einer entleerten Hülle machen, Kriege führen, Menschen verhungern lassen oder mit Brot und Spielen in geistiger Gefangenschaft halten, monströse Datensammlungen über Aber-Millionen auf der ganzen Welt anlegen, ist längst noch nicht entschieden. Wäre ich nicht mein Leben lang an diesem Ringen beteiligt, wäre ich nur Zuschauer, hätte mich dieser Graf Buffon wahrscheinlich nicht interessiert.
Der deutsch sprechende junge Mann im Musee du Beaux Art hat mir gesagt, um 16.30 gebe es eine Führung durch die sehenswerte Eglise St. Urse. Also geben wir den Franzosen noch eine Chance und gehen hin, sicher werden sie mir heute den Gefallen tun … Nix, abgeschlossen, keine Führung und kein Führer!
Es wird immer kälter und es regnet, regnet. Ins Zimmer, lesen und Fernsehen. Morgen geht‘s zurück zum Auto und die Wanderung ist vorbei. Eigentlich schade, jetzt wo die Füße wieder funktionieren … Dafür bekomme ich jetzt Zahnschmerzen und wieder Durchfall.
Obwohl die Wanderung heute buchstäblich ins Wasser gefallen ist, bin ich immerhin 15 km gelaufen.
Samstag
Wache um 6.15 auf und muss sofort, zum ersten Mal seit einer Woche, intensiv an die bedrückende Lage bei der Arbeit denken, an Mobbing und den unfähigen, intriganten Generalsekretär, unter dem wir alle leiden. Keine Perspektive in dieser Organisation, aber wohin? Die Zahnschmerzen haben schon gewartet, dass ich aufwache, und mein Tinnitus ist auch wieder da. Fühle mich rat- und hilflos, kann nicht mehr schlafen, versuche zu lesen. (24 Stunden später sind die Zahnschmerzen verschwunden, also psychosomatisch. Auch wenn man nicht bewusst an die Probleme zu Hause denkt – das Unterbewusste vergisst nicht.)
Ich schulde Andreas Dank für das Buch von Joachim Bauer ‚Das Gedächtnis des Körpers‘. Es tröstet zu lesen, dass mein nachlassendes Gedächtnis und manche anderen Auffälligkeiten nicht ‚meine Schuld‘ sind, sondern typisch für Leute in meiner Situation.
Vielleicht sollte ich an Bauer schreiben und ihn fragen, ob soziale Erfahrungen nicht nur individuell Auswirkungen genetischer/körperlicher Art haben können, wie ich vermuten möchte. Was ist mit kollektiven Erfahrungen, Kriegen, Katastrophen, langen Phasen friedlichen und sorgenfreien Lebens von Gemeinschaften? Können kollektive Erfahrungen auch Gene an- und abschalten? Das wäre vielleicht die Brücke zur Theorie der ‚morphogenetischen Felder‘ von Rupert Sheldrake.
Vermutlich bleibt es wieder nur bei der Idee an ihn zu schreiben. Bis ich mich wirklich aufraffe, sind wieder so viele Dinge passiert, und ich habe den Kopf nicht frei, und ich bin so müde …
Irgendwann, ich habe ja Zeit bis der Zug fährt, stehe ich auf, dusche und packe meine Sachen. Es ist kalt und regnet – in mir selbst und da draußen. Fühle mich sehr allein. Ich zahle das Hotel und drücke mich noch frierend am Bahnhof herum bis mein Zug fährt.
Die Fahrt nach Velars-sur-Ouche ist gar nicht so weit. Allerdings ist der Bahnhof nicht, wie erwartet, im oder am Ort, sondern irgendwo jwd. Ich frage alte Leute auf der Straße in einem Wohngebiet. Es sind ca 2 km zum Ort zu laufen. Ist okay, ich wollte ja laufen, und jetzt regnet es mal nicht. Irgendwann bin ich irritiert: Dies ist doch ein Dorf, aber nicht das, wo ich hin will … Sehe ein Frau, etwa Anfang 30, in Jeans und einer Art ärmellosem Unterhemd am offenen Fenster, die mir freundlich Auskunft gibt. Mein Gott, ist sie attraktiv, was für ein Gesicht – und die Figur! Anscheinend heben die Hormone mir schon die Schädeldecke …
Finde schließlich mein Auto neben der Kirche – genau rechtzeitig für den heftig einsetzenden Regen. Ich esse meinen verbliebenen Käse, das Brot, die Tomaten im Auto. Der Wein schmeckt wunderbar.
Ziehe mich um, vor allem die schweren Wanderschuhe aus, bevor ich losfahre. Willi hat eine Liste von Dingen geschickt, die ich morgen nach Oberstdorf mitbringen soll. Es ist Samstag und die letzte Möglichkeit, etwas zu kaufen. Versuche es im großen Discountmarkt am Rande von Velars s/Ouche und tatsächlich, ich werde fündig. Guter Wein, spezielle Kaffeesorte, usw.
Die Fahrt ist problemlos, aber etwas langwierig und mühsam nach Verlassen der Autobahn. Was mache ich mit dem Rest des Tages, wenn ich zu Hause ankomme? Eigentlich könnte ich auf dem Rückweg kurz bei Pauline anhalten und ihr eine Flasche Wein da lassen. Wenn sie nicht da ist, stelle ich sie vor die Tür … Sie ist da, freut sich über den Wein, wir trinken ein Glas, essen etwas Brot und Käse. Kann mich allerdings des Gefühls nicht erwehren, dass ich vielleicht etwas ungelegen komme und breche wieder auf.
120 km in einer Woche zu laufen, ist nicht viel. Aber es war ‘ne gute Woche, es hat sich gelohnt, körperlich, seelisch, geistig, kenne Burgund jetzt viel besser, habe Orte gesehen, die ich wieder besuchen möchte, Menschen getroffen, an die ich mich erinnern werde. Blasen und Durchfall haben mich innerlich nicht wirklich belastet, es ist ein gutes Gefühl, dass man, wenn man will, einfach weitermachen kann und Schmerzen einen nicht umbringen. Unter’m Strich hat mich das schlechte Wetter in den letzten Tagen mehr gestört.
Nach 10 Minuten bin ich zu Hause. Alles leer, natürlich, sie ist ja schon in Oberstdorf. Zum Glück bleiben mir jetzt noch die Urlaubstage in Bayern und Westfalen bevor ich wieder ins Büro muss.
[Die Wanderung fand im Sommer 2011 statt]
Kontakt: juergen.buxbaum“at“querzeit.org