Welt im Kleinformat
Die digitale Überflutung der Seele

Unsere Handys – immer smarter und hochtechnisiert – bieten uns eine Welt im Kleinformat und überfluten unsere Seele mit all dem Bodensatz menschlicher Interaktion. Und nebenbei entstehen Algorithmen über uns – mehr als uns lieb sind.

 

Handy - Relikt (Foto Arnold Illhardt)
Handy – Relikt (Foto Arnold Illhardt)

Mein erstes Handy, ein gebrauchter, etwas klobiger Knochen von Sagem mit Aufstellvorrichtung, bekam ich von meinem Kollegen geschenkt. Bis dato bildete ich mir ein, ein solches Unding nicht zu benötigen. Da ich sowieso ungern telefonierte und das, was ich zu sagen hatte, gerne mündlich erledigte, erschloss sich mir der Sinn dieser Kommunikationsprothese nicht. Doch dann saß ich plötzlich bis tief in die Nacht an meinem blauen Mobiltelefon und war schier überwältigt von seinem Innenleben, all den vielen Funktionen, die man per Tastendruck eingeben und speichern konnte und der nun existierenden Möglichkeit, SMS zu verschicken. Damals musste man immer noch aufpassen, dass man möglichst viele Abkürzungen gebrauchte, um das vorgegebene Buchstabenlimit nicht zu überschreiten; jede weitere SMS kostete Geld. Einziges Problem: In meinem Bekanntenkreis gab es wenig Handybesitzer, so dass mein aufkeimender Drang, short messages zu verschicken, auf natürliche Weise gezügelt wurde.

Time goes by und mein jeweiliges Handy entwickelte sich immer mehr zu einer Interaktionsmaschine mit ungeahnten Möglichkeiten. Es wurde eleganter und schmaler, so dass es irgendwann nicht mehr Handy, sondern Smartphone hieß. Wer hätte vor zwanzig Jahren gedacht, dass man irgendwann in ein Gerät quatscht, dort einen bestimmten Befehl erteilt und prompt die Antwort als Google-Ergebnis angezeigt bekommt. Ich hatte Zugriff auf das aktuelle Wetter, konnte die jeweiligen Bewertungen der anvisierten vegetarischen Restaurants erfragen und bekam im Nachrichtenportal einen Überblick über die aktuellen Katastrophen und politischen Kakophonien. Die ganze Welt lag plötzlich in meiner Hand und es dauerte nur wenige Sekunden, um mir per Tastendruck einen Eindruck von ihrem aktuellen Zustand, egal ob im Westmünsterland oder in Timbuktu zu verschaffen. Genial! Und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis es keiner Tasten mehr bedarf, sondern das überaus intelligente Gerät auch so weiß, dass ich für 11Uhr einen Intercity nach Magdeburg benötige und lieber im Großraumabteil sitze.

Dass ich meine heutige Frau über das Internet kennen- und lieben gelernt habe, ist eine schwärmerische Anekdote und steht symbolisch für ein digitales Zeitalter, in dem Menschen auf abenteuerliche, aber auf den ersten Blick wenig romantische Weise ohne Blickkontakt zueinander finden. In dieser Zeit spielte das Handy eine mehr als wesentliche Rolle. Es war nicht einfach nur ein technisch aufgemotzter Klotz, sondern eher eine Zauberspieluhr. Klappte man es auf, so erschien eine Pirouetten drehende zierliche Tänzerin mit einem Hauch von Nichts gewandet, die mir bei jedem Vibrieren des Gerätes den Honigmond auf den Bildschirm zauberte. Egal ob tief in der Nacht oder früh am Morgen, mein Sony soundso wurde nicht müde, mir Liebesbekundigungen entgegenzuhauchen oder kleine, in rosa Tüll verpackte Geschichten zu erzählen. Ich war (und bin es immer noch) verliebt und mein Handy zwangsläufig mit mir. Es war zum Postboten befördert worden, der die fast 200km zu überbrücken half – wenigstens bis zu den heißersehnten Wochenenden.

 

Eintauchen in die Welt (Foto Arnold Illhardt)
Eintauchen in die Welt (Foto Arnold Illhardt)

Die Dame des Herzens wurde meine Frau und lebt mit mir heute in einem Haus, so dass wir uns zwar nun liebe Worte auch persönlich sagen können, aber dennoch den digitalen Briefträger zwischendurch nutzen. Das schnurlose Telefon bekam ständig neue Funktionen zugedacht: Emailverwalter, Terminkalender, Brockhaus-Lexikon, Gelbe Seiten und Straßenatlas. Bis mir eines Tages auffiel, dass ich gebeten wurde, eine Empfehlung für das Restaurant XY abzugeben, in dem ich mich zwar nicht aufgehalten, in dessen Nähe ich mich aber längere Zeiten befunden hatte. Eine Recherche im digitalen Keller meines Gerätes brachte das erschütternde Ergebnis zutage, dass jeder Spaziergang, jede Autofahrt, jeder Kneipenbesuch akribisch aufgezeichnet worden war. Der Datenkrake hatte seine Saugnäpfe auch bei mir – dem damaligen Volksbefragungsgegner – festgesaugt. Was wussten die Institutionen oder auch Behörden im Off nun von mir? Dass ich verliebt bin, gerne philosophische Literatur lese, Death Metal höre, mich zur Hippiebewegung bekenne, (u.a.) Trump, Seehofer und Erdogan scheiße finde und ein macht- und gewaltfreies Leben präferiere? Gut, dann weiß man das spätestens jetzt!

Ich fing an, mich abzusichern, die Ortsbestimmung abzuschalten und ab und zu sinnfreie Begriffe wie Grünpflanzenverschlingungsmechanismen oder Kolbenrückholfedergetriebe zu googlen, um die NSA auf falsche Spuren zu bringen. Aber das ist in etwa so, als würde man sein Gespartes hinter den Handtüchern verstecken: Ein Einbrecher wird sie auch dort finden! Neulich las ich in einem Forum, wie sich Personen über die Funktion der SwiftKey-Taste unterhielten. „SwiftKey ist eine Eingabemethode für Geräte mit Touchscreens… Die Anwendung verwendet Technologien wie N-Gramm und künstliche neuronale Netze zur Autovervollständigung und Wortvorhersage; dabei lernt sie von vorhergehenden Nachrichten. Ziel ist, die Texteingabe dadurch zu beschleunigen.“ (Quelle: Wikipedia) Die Forumsbesucher hatten Sorge, dass sich diese Funktion auch auf Bankzugänge auswirkt und so möglicherweise Zugangsdaten geklaut werden könnten. Ich denke mal, dass dies noch das kleinere Problem ist; Swiftkey bekommt natürlich alle Eingaben mit und speichert diese in einer Art künstlichen Intelligenz ab. Doch hier stellt sich die Frage: Wo findet die Speicherung statt: Nur im Handy oder bei google und anderen Firmen, die ein supergroßes Interesse an meinen Daten haben?

 

tiefe Verbindung (Foto Arnold Illhardt)
tiefe Verbindung (Foto Arnold Illhardt)

Inzwischen ist das alles kein Geheimnis mehr und trotzdem erwische ich mich ständig dabei, wie unbedacht ich mit dieser fast schon kriminellen Materie umgehe. Wir halten in der Bankfiliale die Hand vor den Bildschirm am Geldautomaten, wenn wir unseren Code eingeben und natürlich bewahren wir im Vorraum des Geldinstituts den notwendigen Sicherheitsabstand zum Vordermann, aber beim Handy drücken wir alle Augen zu und öffnen unser Privatleben wie ein Scheunentor. Ist das Dummheit oder doch eher Unbekümmertheit, weil wir die Folgen einer absoluten Manipulierung nicht erahnen? Oder für nicht so schlimm befinden? Früher wurden wir von dem Regierungsoberhaupt sichtbar und spürbar reglementiert und ausgebeutet, jetzt passiert das verdeckt: Eine digitale Dressur unseres kompletten Innenlebens – nur sind es weniger die Regierungen, sondern die Investoren von Silicon-Valley.

Wenn es ganz still wird um mich herum, höre ich die Algorithmusmaschine in meiner Hosentasche, wo sich das Informationsaufsauggerät zumeist befindet, arbeiten. Algorithmen sind komplexe Vorgänge und Vorgehensweisen, die zu der Lösung eines Problems oder einer Frage beitragen. „Anhand dieses Lösungsplans werden in Einzelschritten Eingabedaten in Ausgabedaten umgewandelt.“ (1) Wir Individuen werden zu „Dividuen“, wie es der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem Buch Homo Deus beschreibt, „denn Google wird in der Lage sein, sogar meine Überzeugungen besser zu repräsentieren“ als ich selbst dazu in der Lage wäre. Und meine Gefühle! Und meine Gedanken! Und meine Träume! Und… Noch amüsiere ich mich über die Stümperhaftigkeit dieser Algorithmisierung, oder steckt ein Plan dahinter, wenn ich auf facebook die Seite eines AfD-Gauleiters vorgeschlagen bekomme, der an Dämlichkeit kaum zu überbieten ist? Ich algorithmisiere, also bin ich?

 

Die Welt im Kleinformat (Foto Arnold Illhardt)
Die Welt im Kleinformat (Foto Arnold Illhardt)

Doch neben dieser Vereinnahmung meines Selbst beutelt mich noch eine ganze andere Seuche. Eine Bekannte schrieb neulich: „Wir bekommen Hornhaut auf der Seele, durch dieses mediale über-updaten im Sekundentakt.“ Ein Satz, der sehr wohl meine Befindlichkeit trifft. Nur Hornhaut lässt sich abhobeln, doch die mediale Überflutung hat sich schon weiter gefressen. Schon morgens meldet sich facebook und bringt „frohe“ Botschaft über die Misanthropen dieser Welt. Zwei Minuten die schriftlichen Ejakulate strammdeutscher Analognazis lesen und die Laune formiert sich zur mentalen Faust. Ein Blick auf unsere süddeutschen Schmunzelkatholiken von der CSU und das dort Gelesene wirkt wie Brechwurz. All diese Minusmenschen, ihr Verhalten und vor allem Nicht-Verhalten machen krank, nagen an der soliden Substanz meiner eigentlich belastbaren Psyche und führen zu einem Weltschmerz, der nach Entladung trachtet. Mein smartes Handy lässt mich zu jedem gewünschten Zeitpunkt in den Hades des aktuellen Weltzustands eintauchen. Ich muss nicht – wie früher – bis zur Tagesschau warten, die Themen in ihrer geballten Intensität erwarten mich bereits, wenn ich den Bildschirmcode eingebe. „Hallo, hier spricht Donald Trump! Ich habe mir heute wieder eine ganz besonders fiese Entscheidung von tiefergelegter Intelligenz für Dich ausgedacht. Hier, nimm das!“ Ein Schlag in die Magengegend!

 

Funkstille (Foto Arnold Illhardt)
Funkstille (Foto Arnold Illhardt)

Vor über zehn Jahren haben wir unser Fernsehen abgeschafft. Gut, so weiß ich nicht, dass Angela Merkel inzwischen älter aussieht und das Grinsen von Dr. Blex, AfD-Irrlicht aus dem Nachbarort, an das pathologische Teufelsgrinsen „Risus sardonicus“ nach einer Infektion mit Clostridium tetani erinnert, aber ich komme dennoch nicht drumherum, mich mit dem mehr als besorgniserregenden Zustand dieser einen Welt und den ihr innewohnenden Schwachmaten zu beschäftigen. Ja sicherlich, man könnte in die Uckermark ziehen und vorher sein Handy in der Schrottpresse schreddern lassen. Aber wäre „So-Tun-Als-Wenn-Nichts-Wäre“ eine Lösung? Ist Wegschauen, Nicht-Denken oder Empathievermeidung, also die ganze Verhaltenspalette des überwiegenden Weltbbürgertums, der Schlüssel zur Minderung von digitalem Stress?

Heute Morgen habe ich facebook und die Nachrichten-App im Schlafmodus belassen. Es fiel mir verdammt nicht leicht. Stattdessen habe ich mir die Beschriftung auf der Flasche mit der Körperlotion durchgelesen. Mir fiel auf, dass ich dringend eine Brille brauche! Warum bekomme ich eigentlich in letzter Zeit so oft Werbung von Apollo und Fielmann?

(1) Agnieszka Czernik: Was ist ein Algorithmus – Definition und Beispiele. https://www.datenschutzbeauftragter-info.de