Der Blick nach Innen – oder auch Introspektion – ist ein psychologisches und philosophisches Verfahren, dass jedem Menschen möglich sein sollte. Es gestattet ein Leben als verantwortungsvoller Mensch und ist daher gerade für die Jetztzeit bedeutend und wegweisend.
Jana (der Name wurde geändert) ist fast 15. Das „fast“ ist in diesem Alter von besonderer Bedeutung. Ich kenne das Mädchen, das bisher keinen leichten Stand im Leben hatte, schon seit ein paar Jahren und betreue sie psychotherapeutisch. Auf meine Frage, wie denn das letzte halbe Jahr, in dem wir uns nicht gesehen haben, verlaufen sei, antwortet sie sinngemäß, sie sei momentan dabei, sich selbst zu finden. Und dann erzählte sie mir von ihrer Feststellung, wie falsch es sei, Markenklamotten zu kaufen, um sich über solche Äußerlichkeiten zu definieren. In ihrer Klasse habe ihr Umdenken zu Problemen geführt, da ihre plötzliche Kursänderungen und ihr gewandeltes Kleidungsverhalten zu blöden Bemerkungen und Hänseleien geführt habe. Das halte sie aber nicht davon ab, sich treu zu bleiben, denn „ich will nicht „Nike“ sein, sondern Jana!“
Diese und andere Umgestaltungen in ihrem Leben sind noch weiter Thema in unseren Gesprächen und natürlich verstärke ich sie in ihrem Blick nach innen und den damit verbundenen Überlegungen, für sich einen authentischen Weg gefunden zu haben. Das Gespräch macht mich allerdings auch nachdenklich. Jana ist – wie gesagt – eine Jugendliche, obendrein keine, die sonderlich viel Unterstützung durch ihr Elternhaus erfährt und auch niemand ist, die schulisch durch besondere kognitive Leistungen auffällt. Und trotzdem ist sie in der Lage, Introspektion = Innenschau zu halten. Könnte man es im Umkehrschluss, dann nicht von jeder, vor allem von jeder erwachsenen Person erwarten, die sich auf dem kognitiven Niveau von Jana befindet?
Das Prinzip Selbstreflexion, also der Blick nach innen, ist kein neuzeitliches, psychologisches oder philosophisches Konstrukt. Bereits im Apollotempel von Delphi findet sich die vielzitierte Inschrift Gnothi seauton, zu Deutsch: Erkenne Dich selbst. Die Bedeutung dieses Satzes wurde aber erst später im Sinne einer Introspektion interpretiert. So sah z.B. Platon in dieser Aufforderung zur Innenschau eine Veredelung des Charakters, indem man sich um seine Seele sorge und Tugenden kultiviere. Sokrates bezeichnete Selbsterkenntnis gar als Ideal und Verpflichtung, wollte man ein Leben als verantwortungsvoller Mensch führen. Und macht man einen Zeitsprung in die Ära des existenzialistischen Denkens, so wird auch hier betont, dass wir für unsere inneren Vorgänge ganz allein verantwortlich sind und diese tatsächlich auch von uns bestimmt werden.
Jean-Paul Satre, französischer Dramatiker, Philosoph und Publizist, der dem Existenzialismus zugerechnet wird, fand dafür ein sehr drastisches Bild: „Wenn wir uns in dem ´trauten Stübchen unseres Bewusstseins bei verschlossenen Laden` einsperren …, hören wir auf zu existieren.“ (1)
Der Psychoanalytiker Erich Fromm schreibt, bezugnehmend auf Denker wie Buddha, Freud oder Marx, dass Wissen über sich selbst in ihren Augen „…mit der Erkenntnis der Täuschungen durch die Wahrnehmungen unseres sogenannten gesunden Menschenverstandes…“ (2) beginnt. Fraglich ist allerdings, was mit diesem gesunden Menschenverstand gemeint ist. Der Ausdruck wird zu gerne in Politikerreden (übrigens über alle politischen Farbzuordnungen hinweg), aber auch in der Alltagskommunikation gebraucht, um zu täuschen. Denn der Nutzer dieser Floskel gibt damit in der Regel in verdeckter Weise zu verstehen, dass er selbst keine Ahnung hat, dass aber Wissen hier auch nicht vonnöten sei, da dies ja eben der gesunde Menschenverstand sagt. Die Betonung liegt auf gesund und zu klären bliebe, was ein kranker Menschenverstand wäre.
Der gesunde Menschenverstand erscheint mir allerdings im Zusammenhang mit einem Blick nach innen, einer Introspektion, ein sehr nützlicher Begriff zu sein. Wir sind a) Menschen und b) verfügen überwiegend über ausreichend Verstand im gesunden Ausmaß. Man benötigt für eine Innenschau kein Hochschulstudium, Jana hat auch keins. Das Problem ist allerdings, dass wir zumeist gar nicht wissen, wonach wir beim Blick nach Innen schauen sollen. Oder wo wir mit der Innenschau anfangen sollten. Aufgrund der daraus resultierenden Unkenntnis über unsere Fähigkeiten, Qualitäten oder Ich-Anteile sind viele Menschen von einem Gefühl der Begrenzung und Unzulänglichkeit durchdrungen. Es fehlt uns an persönlicher Logik, uns zu erkennen. Dazu der Individualpsychologe und Psychiater Rudolf Dreikurs: „In den meisten von uns herrscht oft ein kurzsichtiges Zwergwesen. Wir unterschätzen unsere Fähigkeiten im tragischen Ausmaß und lassen viele unserer Möglichkeiten verkümmern, während wir uns in einem Elend quälen, das leicht zu beheben wäre, wenn wir selbstsicher und zuversichtlich unsere Rechte geltend machten.“ (3)
Auf dem Weg, uns zu erkennen, stoßen wir auf zahlreiche Barrieren, die wir uns zum Teil selbst in den Weg gelegt haben oder aber die wir bei der Selbstreflexion als von außen vorgegeben wahrnehmen. Wenn wir sie durch einen Blick nach innen bemerken, ist dies schon ein erster Schritt der eigenen Analyse. Es gibt nämlich zahlreiche Institutionen, die ein Interesse daran haben, uns von einer Selbsterkenntnis abzuhalten. Nicht umsonst wurde das Denken der Existenzialisten in den 60er Jahren als Gefahr für gesellschaftliche Prozesse gesehen. Aufforderungen wie selbst zu denken, eigene Verantwortung zu übernehmen, auf den ureigenen Sinn seines Seins zu achten und größtmögliche Freiheit auch in einem besonnenen Handeln wahrzunehmen, ist wenig kompatibel mit einem System, in dem man Bevormundung, Reglementierung und Kleinhalten beabsichtigt, es aber als Demokratie verkauft oder besser: vermarktet. Auch dazu Dreikurs: „…Wir können uns jetzt nicht mehr auf Autoritäten verlassen, die unser Handeln und die zu befolgenden Gesetze bestimmen. Wir wissen heute, dass die autoritativen Institutionen meist das eigene Interesse im Auge hatten, wenn sie uns anhielten, das oder jenes zu tun.“ (3)
Zurück zu Jana. Da von ihr die besagten Markenklamotten erwähnt wurden, sprach ich sie auf ihren Kleiderschrank an und wollte wissen, wie dieser Schrank aufgebaut sei, ob dort Ordnung herrsche und wie sie mit Anziehsachen umgehen würde, die ihr nicht mehr passen oder aus der Mode gekommen wären. Natürlich ist diese Allegorie leicht zu durchschauen und kam schließlich auch in unserem therapeutischen Gespräch zum Einsatz: Wenn man nämlich den Zustand eines Kleiderschranks auf das eigene Leben bezieht, so lassen sich ebenfalls Fragen erstellen, die für eine Innenschau anwendbar sind:
- Wie sieht es in diesem Schrank des Lebens aus?
- Wie durcheinander ist er? Und wird er hin und wieder aufgeräumt?
- Hat man einen Überblick über die Inhalte?
- Gibt es Schubladen, in denen sich versteckte Dinge befinden?
- Was passiert mit individuellen Einstellungen und Lebensphilosophien oder privaten Schlussfolgerungen, die überholt oder nicht mehr nützlich sind?
- Wo stehe ich mir selbst im Weg, wenn in diesem Behältnis Chaos herrscht?
- Wer beeinflusst mich dabei, Inhalte im Schrank abzulegen? Bin ich frei oder werde ich reglementiert? Oder lasse ich mich gar gänzlich gegen meinen Willen führen?
- usw.
Die Fragen lassen sich unendlich erweitern und zeigen letztendlich, wie simpel es ist, sich zu erkennen. Viele Jugendliche lieben solche Spiele. Doch es stellt sich die Frage: Wer führt sie mit ihnen durch und unterweist sie in den Blick nach innen? Müssen sie erst krank und in einer Klinik psychologisch betreut werden?
Wir werden zur Zeit mit zahlreichen rechtsradikalen Phänomenen besudelt, wodurch unser gesellschaftliches Zusammensein und bislang als menschlich geltende Werte durch den Dreck gezogen werden. „Nie zuvor war das Denken des Einzelnen so stark von Ansichten und Meinungen bestimmt, die er von anderen übernimmt, ohne sie zu prüfen oder auch nur prüfen zu können.“ (4) Doch ist es wirklich so, dass wir von außen kommende Ansichten und Meinungen, all die versteckten Botschaften nicht prüfen können? Fallen Menschen tatsächlich auf die Machenschaften der rechten Trickbetrüger rein, erkennen sie wirklich nicht die Zusammenhänge und gehen stattdessen den Täuschungen auf den Leim? Grundsätzlich müssten sie in der Lage sein, Informationen überprüfen zu können, sie in Relation zu setzen oder sie abzugleichen mit gängigen Wertvorstellungen. Jana schaffte das auch – mit 15.
Hätten wir alle gelernt, uns zu hinterfragen, von unseren Freiheiten Gebrauch zu machen, selbst verantwortlich zu sein, selbstdenken zu können und auch Mut zur eigenen Unvollkommenheit zu haben, bräuchten wir keine vermeintlichen Führer und Volkvertreter. „Wenn wir uns so akzeptieren, wie wir sind, ohne Auflehnung oder sogenannte Selbstkontrolle, können wir unsere inneren Kräfte vollkommen einsetzen und nach unserem Wunsch und Willen zum allgemeinen Wohl und zum Fortschritt der Menschheit beitragen.“ (3)
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(1) Sarah Bakewell: Das Cafe der Existenzialisten
(2) Erich Fromm: haben oder Sein
(3) Rudolf Dreikurs: Selbstbewusst
(4) Jens Soentgen: Selbstdenken