Telgte. 1969 wurde in Telgte das moderne Kirchengebäude St. Johannes errichtet. Mit dem Rückgang der Kirchgänger dachte man über eine Schließung und sogar einen Abriss nach. Inzwischen wurde die Kirche profaniert. Und nun?
Als ich ein kleiner Junge war, baute man in Telgte sozusagen in Spucknähe zu meinem damaligen Elternhaus eine neue Kirche. Zu der Zeit gab es kaum große Bauwerke, also stand ich so manches Mal vor der künftigen Johannes-Kirche und staunte Bauklötze. Zudem fragte ich mich – und meiner erwachsenen Umgebung schien es nicht anders zu gehen: Warum sind die Mauern nicht gerade wie allgemein üblich sondern rund? Es sprach sich bald rum, dass der Architekt Tiepelmann aus Münster sich bei der Planung etwas gedacht hatte, was man heutzutage nicht unbedingt von vielen Architekten erwarten darf. Seine Idee: Das künftige Bethaus soll von oben wie eine Rose aussehen. Damit fing er sich schon einmal den ersten Ärger ein, denn dem eindimensional denkenden Telgter ist es natürlich schietegal, wie so ein Murmelbeiß von oben aussieht, wenn er des Fliegens nicht allmächtig ist. Als dann so um 1969 das postmoderne Bauwerk schließlich eingeweihräuchert werden konnte, wurde gemotzt was das Zeug hielt: zu modern, zu ungewöhnlich, zu turmlos und zu unsakral. Es ist übrigens eine bis heute weit verbreitete Mentalität der Telgter, sich über neumodischen Krams zu mokieren.
Ich für meinen Teil verstand die Welt nicht mehr. Endlich mal ein Gotteskomplex, der transparent, luftig und hell wirkte und nicht so verkathedralt wie der Rest der religiösen Gebäude, in denen man immer gleich an den Namen der Rose (äähm, Rose? Da war doch was?) denken muss – übrigens auch was die Doppelmoral in manchen Kircheneinrichtungen anbetrifft. Unvergessen blieb mir die Schadenfreude der ersten Kirchgänger, als es zum Hochamt durch die Decke pieselte und der Regen in Eimern aufgefangen werden musste. Ein wasserfester Beweis, dass Neues eben doch nichts taucht. “Guckste! Sach ich doch!”
Und noch etwas brachte die Kleingeistigkeit vieler Kirchgänger gehörig ins Schwanken: Eine Kirche ohne Turm ist keine Kirche. Um auch noch die letzten Mohikaner unter den erbosten Katholiken zu beschwichtigen, setzte man 1987 einen Glockenturm AUFS!!! Flachdach. Aus dem angepriesenen Turm wurde ein rechteckiger Aufbau mit fünf Glocken, was die erhoffte Zweifaltigkeit vieler zerbröseln ließ. Immerhin läuteten die Glocken und hupten nicht wie befürchtet.
Da irgendwann motztechnisch der Schwung raus war, begann man sich, an den neuen Ort des Gebetes zu gewöhnen, außerdem, so verkündete es ja der Neukatholizismus, ist der liebe Gott überall, sogar in so einem neuzeitlichen Gebäude. Und so
wurden dort ganz normale Messen gefeiert, Piet Janssens brachte musikalisch-poppigen Schwung ins Gemäuer, ich wurde als Messdiener angeheuert und sogar trotz Stimmbruch als Lektor unter Vertrag genommen bis man sich von mir aufgrund erhöhten Promillegehaltes am Altar trennte. Seitdem verlor ich die Johanneskirche etwas aus den Augen und aus dem Sinn, allerdings ließ ich in späteren Jahren keine Gelegenheit aus, Besuchern und jeweiligen Lebenspartnerinnen stolz UNSER Gotteshaus zu präsentieren. Offenbar bin ich aber der einzig stolze Johannist, denn in allen Telgter Chroniken, selbst im dicken, über 700 Seiten starken Totschläger “Geschichte der Stadt Telgte” wird dieses Stück Emsstadt bis auf homöopathisch dosierte Hinweise verschwiegen. Das ist halt die Rache des kleinen Mannes.
Dann – vor ein paar Jahren – waberte plötzlich die schockierende Meldung durch die lokale Presse, man wolle das Gebäude schließen und möglicherweise sogar abreißen lassen. Als Grund wurde natürlich wie in so vielen anderen deutschen Gemeinden der Rückgang der Kirchenbesucher angegeben. Auch wenn Pope Benedikt und später Franziskus on Tour riesig abgefeiert und zu einem Massengaudi wurden, merkte man von dieser Stimmung in den Kirchenbänken vor Ort und so auch in Telgte nichts.
Kurz vor Pfortenschluss besuchte ich noch einmal mit meiner Frau die Johanneskirche. Auch an diesem Tag waren wir die einzigen Gäste in den heiligen Hallen. Jetzt, mit so viel Muße und ohne die ständig in Kirchen rumlatschenden Besichtiger, wurde mir noch einmal deutlich: Die Kirche ist unglaublich schön! Und auch wenn sich bei mir die Beziehung zur Institution(!) Kirche bis zur geistlichen Umnachtung verdunkelt hat, so fühl ich mich hier sehr geborgen.
Nach heftigen Protesten gegen einen Abriss des Gotteshauses konnte der vorläufige Erhalt gesichert werden. Ja, wie einfallslos ist man denn in Telgte? Vor ein paar Jahren besuchten wir eine ehemalige Kirche in Maastricht (Holland). Hier hat es eine lange Tradition, Kirchen umzufunktionieren, so wie in diesem Fall zu einem großen Buchladen mit Cafe. Ein fantastischer Ort! Warum geht das eigentlich nicht hier? Warum kann man nicht mit Investoren das Gebäude umgestalten, Innenräume hochziehen und dort ein kulturelles Zentrum errichten? Ausstellungen, Versammlungen, Seminarräume, Verlage undsoweiterundsofort! Was ist so schlimm daran, einen solchen Platz weltlich zu nutzen und trotzdem spirituelle Kräfte zu spüren? Ja, ja ich weiß, war ja auch nur eine Idee. Wahrscheinlich, weil sonst wieder jahrelang gemotzt wird!
(Inzwischen wurde die Kirche profanisiert und unter Denkmalschutz gestellt. Die weitere Verwendung war mir zum Zeitpunkt des Artikels nicht bekannt.)