Meine Geschichte
Leib und Leben auf der Spur

Sich kennenlernen setzt seine Geschichten kennenzulernen voraus. Viele von uns haben sie leider verdrängt. Was das in uns und in unserer Gesundheit auslöst, wird hier debattiert.

 

Doktor Thomas Sydenham, ein sehr berühmter Arzt (1624-89), wurde der Hippokrates des 17. Jahrhunderts genannt. Der Beiname war interessant, weil es damals wie heute auch immer noch eine physikalische – Maschinenmodell – und eine chemische – Säfteorientierte / medikamentöse – Medizinrichtung gab. Hippokrates, Begründer der antiken Medizin, sah seine Disziplin ohne diese Theorien. Sydenham schloss sich dieser Richtung an und wollte den Menschen damals ganz anders verstehen. Dazu eine Geschichte:

Don Quijchote und Sancho Pansa von Pablo Picasso. Eigene Kachel. Foto F.J. Illhardt
Don Quijchote und Sancho Pansa von Pablo Picasso. Eigene Kachel. Foto F.J. Illhardt

Hans Sloan, der spätere Präsident des Royal College of Physicians, hatte sein Studium abgeschlossen und wollte bei Sydenham eine Art Lehre – so war damals die Ausbildung – beginnen. Er fragte ihn vorher, was er denn zur Vorbereitung lesen sollte. Sydenham riet ihm: „Lies Don Quijchote, alles andere ist Mist.“ Er meinte das ernst, weil er nicht irgendeine Theorie (z.B. Chemie bzw. Physik wie üblich, besonders nicht seine Lehrbücher) in den Vordergrund stellte, sondern den Menschen mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Geschichten des Don Quijchote sind die Probleme eines psychiatrisch Erkrankten und zeigen, wie ein „Verrückter“ in eine Realität integriert werden sollte, die total anders tickt — das ihn so faszinierende Zeitalter der Ritter war längst vorbei.

Während meiner Arbeit wollte ich einmal ein Seminar mit dem teilweise geklauten Titel „Literarisches Quartett für Mediziner“ anbieten. Aber ich rechnete mit zu wenig Interesse an Dingen jenseits der Biomedizin.

Das Problem ist nicht Don Quijchote, sondern die Sensibilisierung für menschliche Schwächen. Erst wer die hat, kann den geeigneten Arzt finden oder wenigstens beurteilen, ob die Therapie seinen Schwächen hilft. Es gibt doch die schöne (erfundene) Story vom amerikanischen Arzt, der seinem Patienten mit dem Stethoskop die Herztöne abhört, während der Patient etwas erzählt. Er unterbricht den Patienten: Please be quiet, I can’t hear you. Hören = Stille? Ist der Arzt der Interpret der Erzählungen seiner Patienten? Oder ist der Patient ein Wesen, das erzählt und wissen will, was seine Geschichten bedeuten? Geht Therapie ohne Geschichte überhaupt? Wer keinen Arzt kennt, sollte sich an Freunde wenden, die seine Erzählungen am besten beurteilen können.

Und vor allem: Besonders durch Lesen kommt man Antworten auf folgende Fragen immer näher:

  • Was sind meine Erfahrungen?

    Der Nobelpreisträger erzählt aus seinem Leben. Fotographie meines Buches.
    Der Nobelpreisträger erzählt aus seinem Leben. Fotographie meines Buches.

Warum sind Erfahrungen so wichtig und was ist damit gemeint? Ein Beispiel: Ich studierte in Münster. Es war so bequem mit zu Hause, auch wenn ich da nicht wohnte. Dann bekam ich das Angebot, in Lyon zu studieren. Warum das, fragte ich mich, und warum soll Lyon besser sein als Münster bzw. Telgte? Z.B. nach Lyon zu fahren, bedeutet Erfahrung, weil er-fahren bzw. Erfahrung von fahren/reisen herkommt. Mein Vater musste als Handwerksbursche fremde Werkstätten besuchen. Sein Motto: mit den Augen stehlen! Oder Ärzte konnten ihre Ausbildung erst abschließen, wenn sie an anderen Orten gearbeitet hatten (sog. peregrinatio academica). „Ein Schelm, wer Böses denkt“, wenn er argwöhnt, dass Handwerker, Ärzte u.a. ohne Erfahrung auskommen.

Er-fahren? Damit ist nicht Tourismus gemeint, vielmehr neue Perspektiven sehen. Andere Orte, andere Schwerpunkte. Folgendes habe ich erlebt: Es wurde ein medizinisches Projekt gemeinsam zu einem geriatrischen Thema von Ärzten aus Frankreich, der Schweiz und Deutschland (und ich als Bioethiker) durchgeführt. Die Franzosen wurden als Weicheier eingestuft, weil sie auf weiche Literatur (Fälle, Erfahrungsberichte usw.), die Deutschen dagegen auf Studien und Statistiken setzten. Welchen Wert hat welche Perspektive? Medizin ohne Erfahrung(s-berichte)? Geht das? Unsere Erfahrungen sind oft zu engspurig, um etwas von der Realität zu begreifen.

Wenn man Belletristik (also Romane, Biographien, Unterhaltungsliteratur und alles, was nicht Sachliteratur ist) liest, fragt man sich sehr bald nach den eigenen Erfahrungen. Erst das macht durchsichtig, weil meine Fragen sich darin widerspiegeln: Was kann ich? Was möchte ich weitergeben? Was war mir warum wichtig?

  • Was sind meine Beziehungen?

Beziehungen wie Partnerschaften, Freundschaften, Kooperationen, Bekanntschaften usw. prägen Menschen. Eine extreme Konsequenz: Ohne das Du gäbe es kein Ich, keine Identität, kein Glück. Priorität hat oft Arbeit, seltener das Du. Gerade in der Altersmedizin gibt es riesige Probleme, weil immer mehr Menschen aus dem Blickfeld verschwinden, sterben, zu weit weg wohnen usw., die ein Du sein könnten. Auch Krankheiten, Behinderungen, Selbstzufriedenheit, soziale Engpässe oder Kränkungen jüngerer Menschen stellen vor dieses Problem der Einsamkeit. Pflege von Beziehungen ist darum extrem wichtig.

Beziehungen muss man pflegen. Spielt Literatur dabei eine Rolle? Ja. Beziehungen in der Literatur bleiben nicht etwas, das einmal in einer oft fernen Welt abgelaufen ist. Sie erinnern an eigene Konflikte, an eigene Geschichte, betrifft uns selber. Wenn wir etwas lesen, steht das Problem der Beziehung immer im Raum. Nicht selten wird sie sogar zum beherrschenden Thema. Erst wer die Konflikte der eigenen Beziehung kennt, kennt sich selber besser.

  • Was sind die Verknotungen meiner Geschichte?
Sprechende Medizin (Foto Arnold Illhardt)
Sprechende Medizin (Foto Arnold Illhardt)

Ich hatte mit einem Psychologen aus der Frauenklinik in Freiburg viel Kontakt. Beim Thema narrative Ethik (Ethik durch Erzählen) schilderte er mir einen Fall: Eine Frau ergriff gegen den Willen ihres Mannes einen Schreibberuf. Auf dem Weg zur Arbeit stürzte sie mit dem Rad und fiel mit dem Unterbauch auf den Lenker. Später entstanden ungefähr an der Stelle starke Schmerzen. Der Frauenarzt schickte sie mit Verdacht auf Eierstockkrebs in die Klinik.

Nach der OP erzählte sie dem Psychologen von ihren Schuldgefühlen gegenüber ihrem Mann und dass sie ja mit Recht von der Erkrankung getroffen wurde. Die Patientin arbeitete mit dem Psychologen daran, dass ihr Mann sie nicht zu bevormunden dürfe, ihre Entscheidung für einen Beruf nichts mit Schuld zu tun habe und sie mit guten Gefühlen weiterhin ihren Beruf ausüben könne. Gleich, ob es ein Rezidiv gibt oder nicht: Einen Knoten in ihrer Geschichte, der jede Erzählung blockiert, darf es nicht geben. Sonst verpasst sie ihr weiteres Leben.

Natürlich war diese Geschichte drastisch. Es gibt immer wieder – vielleicht weniger drastische) Blockaden in unserer Geschichte, die wir beheben müssen. So in dem Roman von Sorj Chalandon (im Anhang zitiert). Er wird bei einem Kunden vor die sehr schwere Aufgabe gestellt, eine Biographie mit einer komplizierten Geschichte mit vielen Blockaden aufzuarbeiten. Ist das nicht auch unser Problem? Sich selbst belügen führt in Katastrophen.

Literatur macht es uns oft wieder möglich darüber nachzudenken, wo unsere Geschichten am Ende sind. Lügen, Fake Stories usw. sind Knoten und verhindern Fortsetzungen.

  • Was sind die entscheidenden Weggabelungen?

Auf der Schule war ich beeindruckt von den Songs der Beatles, mit der Gitarre kam ich gut zurecht. Als jedoch meine Noten für das Abitur gefährdet waren, musste ich das mit der Gitarre und der Band laut elterlichem Verbot einstellen. „Vernünftiges“ war angesagt. Ich stand vor einer Weggabelung: Entweder Musik oder Ausbildung. Musik? Vermutlich wäre ich als ältester und verarmter Popper von Telgte berühmt geworden.

Scherz beiseite. Vielleicht wäre ja auch alles ganz anders gekommen. Und so träume ich immer noch davon, Barmusiker in Rio de Janeiro zu sein … So ist das mit den Weggabelungen. Träume stören die Realität und machen unzufrieden. Irgendwie beleidigen sie auch die, die bei dem Werdeprozess mitgeholfen haben. Was wirklich aus jemandem geworden ist, kann nur ein guter Freund beurteilen.

Aber es hilft nicht, das Leben vom Ende her zu beurteilen. Das Wichtige an einer Entscheidung ist die Entscheidung, nicht an einem Punkt stehenzubleiben. Wachsen ist nicht möglich ohne das Risiko, sich falsch entschieden zu haben, aber man hat sich entschieden. Nicht der Erfolg zählt, sondern das Wagnis.

  • Was will ich?

Dieses Thema setzt das Vorhergesagte fort. Wenn ich (noch) nicht weiß, was ich will, ist die Entscheidung sinnlos, eine Art Russisches Roulett. Die Entscheidung für einen Wegabschnitt versucht, dem Ziel, das man gewählt hat, näher zu kommen.

Zwei Dinge sind dazu nötig:

  • Klären, was „mein“ Ziel ist und das Leben prägt. Dazu gehört natürlich auch, sich von diesem Ziel bestimmen zu lassen. Sich vor Entscheidungen bzw. Weggabelungen zu drücken, bedeutet sich vor dem Ziel zu drücken.
  • Wege einschlagen beinhaltet immer auch, Entscheidungen zu korrigieren, ist niemals eine (wie Politiker heutzutage gerne sagen) Win-Win-Strategie (Doppelsieg-Strategie der Spieltheorie). Nichts darf so bleiben, wie es ist. Wie es so schön heißt: Einen Tod muss man sterben…

 

Fazit:

Solchen Fragen kann der nicht ausweichen, der liest. Sydenham`s Empfehlung des Don Quijchote hat das ausgelöst, aber diese Fragen sind nicht nur für Ärzte wichtig. Auch die auf der anderen Seite der Spritze sollten sie kennen. Eine sehr kleine Auswahl möchte ich vorstellen. Einige Titel sind für Ärzte wichtig, aber auch und gerade die Laienperspektive ist interessant. Meine Titel sind weniger auf Ärzte spezialisiert, sie gehen Leben insgesamt an:

  • Anton Tschechow: Krankenzimmer Nr.6. Deutsch 1902. Der Arzt Tschechow wusste, worüber er schrieb. „Krankenzimmer Nr. 6“ gehört zur Abteilung für seelisch und geistig gestörte Patienten in einem verwahrlosten Provinzspital. Oberarzt Dr. Ragin ist vom rebellischen Geist des hochintelligenten Paranoikers Gromow fasziniert. Er gerät unter Verdacht, wie sein Patient rebellisch, intelligent und krank zu sein, gerät ins Abseits, verliert die Stellung, verarmt. Schließlich landet er selbst im Krankenzimmer Nr. 6. als vermeintlich Verrückter und stirbt kurz darauf. Rebellion ist leider allzu oft ein Grund für sozialen Ausschluss. Auch bei uns? 
  • George Bernhard Shaw: Des Doktors Dilemma. Uraufführung, London 1909.  Shaw schrieb: „Das Leben hört nicht auf, komisch zu sein, wenn Leute sterben, so wenig, wie es aufhört, ernst zu sein, wenn Leute lachen.“ Thema ist der Hintergrund einer Entscheidung für eine teure TBC-Behandlung vor der Verbreitung der Antibiotika. Shaw gestaltete das Theaterstück als Satire gegen Ärzte, aber in gleichem Maße auch gegen andere Bevölkerungsgruppen. Übrigens, ein Jahr später wurde in England die Krankenversicherung eingeführt. – Allzu oft ist die Verteilung der Gesundheitsmittel von eigenem und fremdem Egoismus geprägt, eben vom Egoismus beider Seiten.
  • Friedrich Wolf : Cyankali (§ 218. Zeitstück in 8 Akten). Uraufführung, Berlin 1929. Das Theaterstück geht auf eine reale Begebenheit zurück, von der auch die Zeitung berichtete. Am Abend des 6. Juni 1928 warf eine Frau ihre zweijährige Tochter Marie und ihren halbjährigen Sohn Reinhold in die Spree. Passanten verhinderten, dass den drei ältesten Kindern das gleiche geschah. Wolf beschreibt die sozialen Hintergründe dieser Verzweiflungstat. Nicht Emotion und ärztliche Moral, sondern wirkliche Hilfe ist nötig. Die gibt es aber nicht. – Wieviel Verzweiflung ist in meine Biographie eingebaut? Sind meine Einstellungen Auslöser für Verzweiflung bei mir selbst und bei anderen?
  • Oliver Sacks: Der Mann, der seine Frau mit dem Hut verwechselte. Deutsch 1990. Das Buch handelt von 24 faszinierenden Fallgeschichten und erhob sie zur literarischen Kunstform. Sacks ist auch der Autor des Filmes „Zeit des Erwachens“. – Ein Musikwissenschaftler hält Hydranten für spielende Kinder. Eine 90jährige Frau bekommt plötzlich wieder Appetit auf junge Männer. Ein Jazzschlagzeuger, der nach der Therapie schnelle Rhythmen nicht mehr spielen kann, trauert über seine Wiedergesundung: Eine winzige Hirnverletzung, ein kleiner Tumult in der zerebralen Chemie, und Menschen geraten in eine andere Welt, in die Gesunde nicht vordringen. Versuchen wir das überhaupt? Wie gesund ist Krankheit, meine und die anderer? Kann ich mit ihnen leben?
  • Sorj Chalandon: Die Legende unserer Väter. Deutsch 2012. Lupuline will ihrem Vater zu seinem 84. Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk machen: eine Biographie, wie er als Kommandant der Resistance Sabotageakte gegen die deutschen Besatzer angeführt hat. Sie ist stolz auf das Widerständler-Heldentum ihres Vaters. Der Exjournalist Frémaux will in vielen Sitzungen diese Biographie schreiben, entdeckt aber Probleme über Probleme, mit denen er umgehen muss. Zu alledem kommt noch das Andenken des eigenen heldenhaften Vaters. – Mir brennen die Fragen unter den Nägeln, wieviel eigene und fremde Lügen ich ertragen und mit wieviel Mittelmäßigkeit ich umgehen kann. Hätte ich eine andere Lösung des Romans gewollt und warum?
  • Haruki Murakami: Die Pilgerreise des farblosen Herrn Tazaki. Deutsch 2014.  Es geht dem Autor nicht um Pilgern á la „Pilgern auf Japanisch“ wie 2008 der Film „Pilgern auf Französisch“, es wird nicht gepilgert. Die Klavieraufnahme einer Freundin (Années de pèlerinage [= Jahre des Pilgerns] von Franz Liszt) steht Pate für den Titel. Eigentlich geht es darum, ein Ich zu entwickeln, ein wichtiger Mensch (wichtig für wen?) zu werden. Das Problem wird manifest, als eine tiefe Jugendfreundschaft zerbricht. Die angebliche Farblosigkeit der Hauptperson ist ein Gefühl, das vom anderen anders gesehen werden kann. – Kann ich Farblosigkeit, wenig beachtet werden, nicht auffallen etc. ertragen, und können das meine Mitmenschen? Bin ich wichtig für sie? Geht das zu erkennen ohne Freundschaft? Farblosigkeit ist eigentlich eine Außenperspektive.