Verkannt, Verachtet, Verlassen
Das Schicksal von Judas & Co

Zurzeit ist die Tendenz leider sehr groß, Menschen ins Abseits zu stellen. Die 3 Vs im Titel sind eine Stufenleiter. Ein paar Geschichten dazu werden erzählt, aber auch ein paar Empfehlungen.

Die 3 Vs: verkannt, verachtet, verlassen würden – im Bildzeitungsjargon – „ein Dreisprung in die Hölle“ heißen. Leider geschieht es zu oft, dass wir andere verkennen, dann verurteilen und schließlich ins Abseits stellen. Beispiel: Hass im Internet. Geht das? Verleumdung ist der Anfang, oft sind aggressive Handlungen die letzte Konsequenz. Mit unserer Toleranz ist es nicht allzu weit her. Bemerkenswert ist, dass vom Vorurteil zum aktiven Hass der Weg immer kürzer wird. War das früher (wann immer das war) anders? Eher nicht. Es war, als es noch keine digitalen Medien gab, auch niemals so leicht. – Dazu 3 Geschichten:

Amos Os schrieb den Roman „Judas“. Die Geschichte von Judas, so meine Deutung, ist die Geschichte eines Vorurteils in Israel: Dem alten Israel. In dem Judas typisch ist. und dem neuen Israel, in dem Ben Gurion, der 1. Präsident Israels wurde. Sein Aufruf zur Kooperation von Arabern und Juden wird immer mehr verschwiegen. Ein Paradefall der 3 Vs.

Vorweg: Der biblische Name „Judas“ ist wohl der Name des Vaters der 12 Stämme Israels (Judas ≈ Jude). In seinem Beinamen „Isc(h)ariot“ sehen viele das Mitglied einer Guerillatruppe (≈ „die mit dem Dolch“) gegen die römischen Besatzer. Ob Judas schon einen umgebracht hat?

Und jetzt die Erzählung aus dem Roman „Judas“, dem angeblichen Verräter Jesu. Aber das, meinen Os (ich auch), ist widersprüchlich, teilweise grotesk. Er trägt z.B. nach seiner Deutung die Kasse der 12 (den berühmten Geldbeutel in den alten Gemälden), weil Jesus und seine Gruppe ihm absolut vertrauen. Auch er ist er von Jesus überzeugt, mehr überzeugt als alle anderen. Warum hat Petrus z.B. diese Rolle nicht bekommen …? Judas drängte Jesus, in der Hauptstadt Jerusalem und nicht nur auf dem platten Land seine Wunder zu wirken und damit das im ganzen Land zu beweisen, was er jenseits der Hauptstadt bezeigt hat. Damit erhofft er sich die große Wende. Aber Jesus stirbt elend am Kreuz. Kein Wunder, kein Eingreifen Gottes, keine politische Befreiung oder wenigstens Befreiung von der harten Moral (über 600 Gebote) der Juden. Judas glaubt, Jesus betrogen und getötet zu haben. Deswegen flüchtet er in den Freitod. Also kein Verräter, nur ein Verkannter. Dass ihm auch noch der Suizid vorgeworfen wird, der erst durch Augustinus, also ein paar Jahrhunderte später, zur Schuld stilisiert wurde, ist reine Geschichtsklitterung.

Warum endet Judas, wenn es so war, mit einem biblischen Rufmord? Schließlich weisen Unterschiede in den Evangelien oder totales Verschweigen bei Paulus auf eine unkorrekte (eher erfundene) Geschichte hin. Wird Judas verkannt? In Deutschland ist dieser Name sogar für Babys verboten (in manchen Ämtern nur Kann-Vorschrift). Das Phänomen ist unwichtig, aber der Hintergrund ist schlimm. Wir denken in eingefahrenen Spuren und halten Verkennung und seine Folgen für belanglos, d.h. wir verzerren Wahrheit und lügen oder tolerieren das und sind extrem selbstsicher.

Der Film „Der Vorname“ ist eine Filmkomödie von Sönke Wortmann (2018), eine Neuverfilmung des gleichnamigen französischen Films von Alexandre De La Patellière und Matthieu Delaporte (Le Prénom von 2012). Wir besuchten diesen Film wegen seiner klugen Dialoge und seiner hervorragenden Anpassung der französischen und deutschen Geschichte und weil die Komödie nicht seicht endet.

Der Inhalt: Es finde ein Abendessen bei Stephan, dem Literaturprofessors, der sich für besonders klug hält, und bei seiner Ehefrau Elisabeth statt. Eingeladen sind ihr Bruder Thomas, dessen fehlendes Abitur und geringe literarische und historische Bildung Stephan ständig verspottet, und seine schwangere Freundin Anna, die wegen einer Schwangerschaftsuntersuchung später kommt. Außerdem ist René eingeladen, der adoptiert wurde und wie ein Bruder mit Elisabeth und Thomas aufgewachsen ist.

Solange Anna noch nicht da ist, erklärt Thomas, um Stephan zu ärgern, dass der Junge, der geboren wird, „Adolf“ heißen soll. Bei Adolf denken natürlich alle an Hitler. Ein gewaltiger Streit bricht aus. Als Anna eintrifft, denkt sie, Thomas habe den richtigen Vornamen genannt. Doch der Vorname „Adolf“ schwirrt durch den Raum und irritiert alle. Wut kocht hoch. Zudem brüskiert Anna die Gastgeber mit der Bemerkung, sie diskutiere nicht mit Leuten, die ihre Kinder wie Stephan und Elisabeth Caius und Antigone genannt haben. Weitere komische Einstellungen der Beteiligten kommen zur Sprache. Als René mit seiner vermeintlichen Homosexualität konfrontiert wird, von der die anderen seit Jahren ausgegangen sind, beichtet er seine Beziehung mit der Mutter von Elisabeth und Thomas. Fassungslose Reaktion. Thomas schlägt René zornentbrannt ins Gesicht, alle sind zu wütenden Monstern mutiert. Ihre Beziehungen sind nachhaltig kaputt.

Ist das eine Komödie (die immer lustig ist) oder eher ein Film mit traurigem Ausgang? Wie auch immer: der Ausgang ist realistisch. Und realistisch ist, dass uns nicht interessiert, was der Andere denkt. Es geht ja nicht um Adolf Hitler, sondern um die Entscheidungen des Andren. Was uns nicht passt, macht uns wütend und aggressiv.

Von Dimitré Dinev stammt ein vielsagender Roman aus Bulgarien. Dinev kommt aus einem kommunistischen Land, floh nach Wien, studierte und lebte dort. Wer seinen Roman „Engelszungen“ liest (es geht um Flucht und Rat in höchster Verzweiflung), entdeckt sich selber, auch seinen Umgang mit Fremdheit, die Zerstörung von Beziehungen wegen Selbstgewissheit. – Daraus stammt folgende Geschichte:

Jordans Opa, der Pope Serafim, den Jordan wegen seiner Frömmigkeit als Feind der kommunistischen Partei hasste, ist gestorben. Sein jetzt leeres Haus wird an eine Romafamilie verkauft. Romas hasste er auch. Darüber sinnierte der Autor:

Stellen wir die wichtigen Gründe seiner Ressentiments noch einmal zusammen:

  1. Der Grund seines Hasses blieb ihm verborgen

Ziel der Partei war, eine vielschichtige Persönlichkeit aufzubauen. Jordan hatte das nie geschafft. Nachdenken scheiterte daran, dass er nicht wirklich denken konnte. Die kommunistische Partei, die viel für Romas tat, verstand er auch nicht, aber er gehorchte der Partei. Seine Stärke war sein Polizeikonzept.

  1. Zugehörigkeit zu einer Gruppe macht stark

Eine Gruppe stimuliert oder dämpft Hass je nach Gruppenentscheid. Kontrolle ist eine ihrer Funktionen, sie erspart die Unsicherheit des Nachdenkens. Wenn man ihre Ansichten übernimmt, bekommt man auch eine entsprechende Identität. Sobald man nicht damit übereinstimmt, wird man ausgestoßen. Daher seine Furcht vor dem eigenen Denken.

  1. Mit anderen zusammenleben wird hinter Alltagsproblemen versteckt

Ob man Romas und andere hasst oder nicht, ist nicht mehr so wichtig wie die eigenen Ansichten und Ziele (wie Regeln der Arbeit, oder Kindererziehung usw.). Hinter den eigenen Alltagsproblemen verstecken sich die aggressiven Tendenzen.

Seltsam, als ich Dinev las, kam mir immer wieder der deutsche Fremdenhass in den Sinn. Warum hassen wir Menschen? Ist Nachdenken das Problem oder die unsinnige Selbstsicherheit? Mag sein. Aber kennen wir die Einsamkeit der Verkannten? Immer wieder werden Menschen zu Verkannten abgestempelt, und wir wissen nicht, was wir damit anrichten.

Es gibt nichts Gutes / es sei denn man tut es

schrieb Erich Kästner in einem Kinderbuch.

Was haben die 3 Geschichten – so der Titel – eigentlich mit Judas zu tun? Judas ist der berühmteste Verkannte. Verkennung von Menschen heißt, sie ganz anders zu sehen, als sie sind. Das liegt natürlich oft an Vorurteilen oder Einstellungen, die auf falschen oder gar fehlenden Informationen beruhen, nicht nur an bösem Willen. Wichtig ist die Arbeit an sozialen Einstellungen

Kürzlich las ich, dass die sogenannten MINT-Fächer auf den Universitäten mehr als die Hälfte aller Ausbildungen abgeben. MINT ist abgekürzt: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik. Wir sind ein Volk von Ingenieuren (dem Ingenieur / ist nichts zu schwör). Nur was selten gelernt oder studiert wird, ist, warum wir die MINT-Wissenschaften studieren. Übrigens, warum ist 1 + 1 = 2? Wen interessiert das schon? Wozu rechnen wir? Das interessiert auch fast keinen. Warum studieren wir MINT-Fächer?

In der Schule lernt man alles Mögliche, nur nicht, was die Perspektiven der Mitmenschen sind. Die Süddeutsche Zeitung belegte, dass in Arbeit und Wirtschaft genau dieser Aspekt des Zusammenlebens fehlt. Warum sind wir ein Team? Das versuche ich zu erklären.

  1. 100 Schritte in den Moccasins des Anderen gehen!

Das ist ein Satz des englischen Philosophen John L. Mackie, der mit einem Indianerspruch Kant verdeutlicht. Gemeint ist, dass man nichts tut, was anderen schadet. Die Schritte in den Schuhen des anderen, ein Symbol, hilft das zu entdecken. Genau das wäre der erste Schritt. Das heißt respektieren, was die anderen wollen und wie sie reagieren.

  1. Die verdrängten Seiten des Dialogs

Dialog grenzt allzu oft an Gefühlsduselei, ist die Unart, einen Begriff – gerade auch in der Politik – zu benutzen, dessen Brisanz man gar nicht versteht.

Anders als Diskussion, setzt der Dialog voraus, dass man an das Gespräch nicht mit einer vorgefassten Meinung herangeht. Er findet eine Meinung, hat sie nicht schon. Nur Offenheit für jedwede vernünftige Meinung – allein deren Vernünftigkeit gilt es zu prüfen – ist Bedingung für einen Dialog. Wer das nicht kann, sollte das Wort aus seinem Wortschatz streichen.

Zum Dialog gehört das Urteilsverbot. Wer den Anderen verstehen will, darf ihn nicht verurteilen. Dialog ist kein Streitgespräch, Deutschlands beliebtestes TV-Feature, sondern eine Art zu leben.

Ich war auf einem Internat, und der Pater Direktor lud alle Jungens zu einem Dialog ein. Was der Pater bei den meist pubertierenden Jugendlichen unter Sexualmoral verstand, war klar wie Kloßbrühe. Ich gehörte zu einer eher kritischen Gruppen. Wir hängten an die Tür des Paters ein Plakat mit der Aufschrift „Quatschbude“. Später wurde ich, weil das rauskam, vom Pater zu einem Pseudodialog geladen.

Warum gibt es beide Merkmale des Dialogs nicht (mehr)?

  1. Erst fragen, dann argumentieren

Übrigens, die meisten von uns haben das schon oft erlebt, etwa in der Schule oder auch in meinen Seminaren (ich sollte es ja eigentlich wissen): Wir Lehrenden kommen mit Argumenten, obwohl unsere Schüler noch gar nicht wissen, wo bei ihnen das Problem liegt. Darum ist Fragen der erste Schritt. Es ist Ernstnehmen des anderen, sein Problem zu erfahren. Erst dann kann Argumentieren beginnen. Oft sind deren Probleme viel größer als diejenigen annehmen, die argumentieren wollen und vorgeben zu wissen, was gute Argumente sind.

  1. Verzicht auf Betonwahrheiten

Betonwahrheiten machen kaputt, vor allem, wenn einem die Wahrheiten wie Beton auf Kopf und Herz fallen. Sie taugen zum Indoktrinieren, nicht zum Lernen. Sie überfrachten Menschen mit angeblicher Wahrheit, die den „bösen“ Teil ihrer Welt zukleistern. Ihnen wird die Chance genommen, Problemlösungen offen zu entwickeln und dabei Fehler zu machen. Unwandelbare Wahrheiten passen nicht in eine Welt, die sich wandelt, und nicht zu Menschen, die ihren Weg wählen müssen. Oder ist die Welt doch eine Welt der Wortführer?

  1. Das Gut-Böse-Schema

Das Wort „Schema“ deutet auf einen Automatismus hin. Wir halten jemand für böse und stecken ihn in eine Schublade zu den anderen Schmuddelkindern. Dabei gibt es Bösesein nicht in Reinform, Gutsein eben auch nicht. Insofern sollten wir solche Schemata vermeiden. Da viele und besonders viele Moralisten ohne Gut-Böse-Schema nicht auskommen, wollen wir eins klarstellen: Gut und Böse treten immer in Mischform auf. Der Böse hat auch gute Seiten, noch wichtiger: Der Gute hat auch böse Seiten („We don’t need another hero“, dt.: Wir brauchen keinen weiteren Helden [Tina Turner]). Man darf nicht vergessen, dass auch der Gute seine Schattenseiten hat, deswegen verzichten wir auf moralische Helden.

Wenn man diese (oder auch andere) Schritte nicht beherzigt, werden immer mehr Menschen zu Opfern der 3 Vs, also einer Welt, in der es immer mehr Wortführer und wenig Menschen gibt, die nachdenken.

„Mancher hat ein großes Feuer in seiner Seele, und nie kommt jemand, sich daran zu wärmen“ (Vincent van Gogh) – Foto: Franz Josef Illhardt