Politische Mitte
Terra incognita der Langeweile

So wie alles Mittige wird auch die politische Mitte als repräsentativdemokratisches Non-Plus-Ultra hofiert und wählerwirksam verkauft. Dabei ist politische Mitte vor allem eins: eine demokratische Zumutung.

Ein Wahlabend

Neue Mitte (Foto Arnold Illhardt)
Neue Mitte (Foto Arnold Illhardt)

Der Abend der Bekanntgabe der Bundeswahlergebnisse im September 2021 – wir schauten die Analyse auf unserem Smartphone – war ein Abend wie jeder andere. Alles ging seinen normalen Gang (nämlich ins Bett): Keine entkorkte Sektflasche, kein Indianertanz um den Tisch und keine Hurra-Rufe. SPD, FDP und GRÜNE hatten wohl gewonnen und würden sich als Koalition zusammenrotten (was sich später bestätigte). Bliebe noch als Abschlussfrage: Ja und? Da man hier im Münsterland vermeintlich eher wortkarg ist, fiel mir zudem noch ein weiterer Zweiwortsatz ein: Ja guck! Das sagt man hier (angeblich), wenn man über etwas arg verwundert ist. Was mich nämlich verwunderte war die Beobachtung, dass die Parteien, die sich vorher mit kindergartentauglichen Sprüchen beharkten, plötzlich den Modus „Ziemlich beste Freunde“ aus der Anzug- oder Kostümtasche zogen. Noch vor wenigen Wochen hatte ich die wenig erbauliche Gelegenheit, rein zufällig in Hamburg dem FDP-Dreitagebartchefideologen Christian Lindner beim Über-die-Grünen-Herziehen zuzuhören. Die Freude bei der Schar der bügelfaltigen Jungliberalen über das Grünen-Bashing war sichtlich enorm. Jeder Kommentar wurde frenetisch abgefeiert. Mein einziger Gedanke beim Beobachten dieses Szenarios war durchgehend: Wann sagt dieser Man endlich mal, was er will, was seine Partei will und wie er das zu erreichen denkt. By the way: Ich spreche hier über ein Stilmittel der politischen Rede, das bei allen Parteien Usus ist, weshalb ich mich auch tunlichst von solchen und zwar von allen Veranstaltungen fernhalte.

Obschon ich als libertär denkender Mensch dem ganzen Parteiklüngel nicht viel abgewinnen kann, beobachte ich natürlich schon politische Prozesse über Zeitungen und hier vor allem über sehr kritische Medien. Ein paar gibt es ja noch. Wenn schon die meisten Ergebnisse politischen Handelns an Unbedeutungslosigkeit lahmen, muss ich schließlich nicht noch Zeitungen lesen, die diese Unbedeutungslosigkeit journalistisch für politische Normalität verkaufen. Mich interessieren politische Langzeitdarstellungen, konstruktive Alternativvorschläge, Fehleranalysen und vor allem interessieren mich basisdemokratische Prozesse, die Probleme verändern wollen und sie nicht nur verwalten. Radikale Veränderungen passieren zumeist nicht über repräsentative Demokratiegremien, sondern sind häufig eher durch den Druck der Straße, durch Bürgerinitiativen oder andere Nicht-Regierungsorganisationen entstanden. Vermutlich wäre z.B. der Hambacher Forst längst komplett dem Erdboden gleichgemacht – was ja auch größtenteils passiert ist -, wenn nicht ein massiver Widerstand den Politikern kalte Füße verursacht hätte. Meine Briefe an Laschet, die RWE und andere Drahtzieher der Erdverwüstung blieben übrigens diesbezüglich – nur mal so – unbeantwortet.

Das Märchen von „rinks und lechts“

In meiner späten Jugendzeit – also Ende der 70er war das politische Denken stark vereinfacht. Alles was sich bürgerlich oder christlich nannte, hatte einen Heiligenschein und wurde sogar vom Pastor im Gemeindeschaukasten als Wahlempfehlung angepriesen. Dagegen war die SPD bedenklich, da rot und rot war russisch. Von den Rechten hörte man nichts, da sie sich z.B. in der CDU pudelwohl fühlten und nicht weiter auffielen. Und die Linken waren richtig schlimm, weil sie mit roten Fahnen, die noch röter waren als die von der SPD, durch die Stadt zogen. Man blickte aber nicht durch, weil sich die ganzen kommunistischen und analogkommunistischen Splitterparteien untereinander spinnefeind waren, anstatt sich als Block gegen das Konservative und damit Problembewahrende zu stellen. Mein Onkel war übrigens bei der FDP und meine Eltern, allein schon wegen des C´s bei den Christdemokraten angedockt, tolerierten das zwar, aber irgendwie wurde mit diesem vermeintlich Freiheitlichen immer so etwas wie Freikörperkultur und Freigeist verbunden, was natürlich schlecht, vor allem aber verwerflich war. Immer schön mittig denken!

Interessant ist es, dass sich dieses Links-Mitte-Rechts-Denken nie so richtig verändert hat, obschon sich die CDU inzwischen hier und da gewerkschaftlich oder auch klimainteressiert gibt (bzw. so tut) und eine Sahra Wagenknecht auf Stereotypen zurückgreift, die man genau so in rechtspopulistischen Kreisen und Medien wiederfindet. Beides kostet Wähler, daher ist es immer gut, sich nicht zu weit aus dem politischen Fenster zu lehnen, eher allgemeingültige Themen auf die Tagesordnung zu stellen, diese allerdings nicht überstürzt zu behandeln und vor allem zu den Wahlen verbissenes Kämpfertum – außer gegen andere Parteien – zu vermeiden. Und damit trudeln all die Parteien nach und nach dort ein, wo es unbedenklich, nichtssagend, vage und unauffällig ist: In der Mitte. Hier einige Kommentare zu dieser Tendenz zur Mitte, die recht nachdenklich stimmen:

„Die Konkurrenz der meisten Parlamentsparteien um einen Platz in „der Mitte“ ist nicht unproblematisch. Wegen seiner Inhaltslosigkeit dient er leicht als Projektionsfläche für wirklichkeitsferne Harmoniebedürfnisse (bpb).“ (1) ,

„Die Mitte ist überall. Dabei ist sie ein Mythos. Und schaut man genau hin, bleibt von ihr in der postmodernen Parteiendemokratie mit den erodierten Parteienbindungen, den vielen Wechselwählern und den fragmentierten gesellschaftlichen Interessen nur eine aufgeblasene Leere (Cicero).“ (2)

„Und zur politischen Mitte zählen sich jene, die behaupten, „Maß“ und „Vernunft“ zu verkörpern. Eben diese Erzählung einer objektiven „Mitte-Vernunft“ aber gilt es zu hinterfragen (Tagesspiegel).“ (3)

Sowohl obigen, als auch anderen Zitaten ist gemein, dass die „Mitte“ zwar zwischen links und rechts bzw. ihren radikalen oder extremen Enden angesiedelt wird (wobei der Begriff „extrem“ recht inflationär und vor allem als Stimmungsmache gebraucht wird!), tatsächlich aber irgendwo im terra incognita, also in einem unbekannten Land, rumdümpelt und zu einem politischen Tanz um das Nichts mutiert.

Der neuste Schrei: Moderne Mitte

Mitte oben links (Foto Arnold Illhardt)
Mitte oben links (Foto Arnold Illhardt)

Mit Mitte wird zunächst einmal etwas sehr Positives assoziiert, nämlich Ruhe, Aufgeräumtheit, Angemessenheit, Besonnenheit oder Bürgerlichkeit. Genau damit arbeitet die Politik und neuerdings wurde dieser eh schon unscharfe Begriff um Moderne Mitte erweitert. Vermutlich genauso sinnentleert wie freie Demokraten, denn unfreie Demokraten wäre wie schwarze Schimmel. Man möchte mit diesem Mittebegriff den Bürger in einen Zustand der Normalität einlullen: Alles geht seinen Gang, man muss sich um nichts kümmern und vor allem – um nichts fürchten.

In der empirischen Sozialforschung findet man z.B. in Befragungen oder Untersuchungen häufig die Tendenz der Probanden, bei mehrstufigen Antwortmöglichkeiten vor allem in der Mitte ein Kreuzchen zu setzen. Mittelwertorientierung nennt sich das oder im Fachjargon: Error of central tendency. Was steckt hinter dieser Mittetendenz? Man bleibt unauffällig und das eigentliche Problem z.B. in der Psychotherapie unter den Teppich gekehrt. Als meine Eltern bemerkten, dass ich nicht ihrer Graupensuppenpolitik der Christdemokratie folgen wollte, ermahnten sie mich zur Mitte: „Man muss immer den mittleren Weg gehen“, so ihr Credo. Eben um nicht aufmüpfig, renitent oder gar revolutionär zu gelten. Für mich hat der Begriff der Mitte eine eher negativ orientierte Assoziationstendenz: Er steht für keine klare Meinung, Zurückhaltung, diese zum Ausdruck zu bringen, alles beim Alten zu lassen und bloß nicht an Altbewährtem zu rühren. Allerdings bedeutet es auch, menschlichen, gesellschaftlichen oder politischen Dreck und Gräuel unter den Tisch fallen zu lassen. Obendrein gelingt es der Infiltrationsmaschinerie der Mitteanhänger, allem „Unmittigen“ nicht nur ein Gefühl des Außenvorseins und Gefährlichen zu vermitteln, sondern sich auch ungebremst und damit unauffällig auf undemokratischen Pfaden bewegen zu können. Es ist mir allerdings bis heute nicht gelungen, Literatur ausfindig zu machen, die besagt, dass Demokratie stillhalten, nichts tun oder Probleme verwalten, statt sie an der Wurzel zu packen, bedeutet.

Mittiges Dahingeplätschere

Um auf die aktuelle politische Trias zurückzukommen: ich habe sie zwar nicht gewählt, muss aber wohl oder übel mit ihrer drohenden „Vermittung“ klarkommen. Längst sprechen selbst die GRÜNEN, die mal mit dem Ansatz angetreten sind, das öde Parlament umzukrempeln, davon, zur Partei der Mitte zu werden. Das ist ein cleverer Schachzug, damit später nicht auffällt, dass man es sich mit den anderen Problemverwaltern gemütlich eingerichtet hat und lieber nicht so richtig radikal tätig werden muss. Radikal bedeutet in seinem Ursprung, etwas an den Wurzeln zu packen. Weist man den drei Parteien eine konstruktive Radikalität zu, so fallen mir folgende Zuordnungen auf einer Skala von 0 – 10 ein: GRÜNE 6, SPD 4 und FDP 2. Der Mittelwert macht 4, womit wir beim Dahingeplätschere und halbherzigem Dahinsozialisieren der SPD wären. Das kann ja heiter werden.

Mitte oben (Foto Arnold Illhardt)
Mitte oben (Foto Arnold Illhardt)

In vielerlei Hinsicht befinden wir uns an einem Punkt, an dem die Erde stetig und gewaltsam ruiniert, zerstört, vermüllt und vergiftet wird und die sich darauf befindlichen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen ausgerottet, gequält, vertrieben und per Krieg oder Hunger getötet werden. Der Mensch erweist sich nicht als Krönung der Schöpfung, sondern als brandgefährliche, entseelte Instanz – weit entfernt von einer Beschreibung, die man sapiens nennen könnte. Kriege, Flüchtlings- und Klimakrise, Rassismus, Umweltzerstörung, Hass oder Gefahren durch digitale Medien sind keine Probleme, die man mit etwas In-Der-Mitte-Rumsitzen bewältigen kann. Mit den Jahren schäme ich mich immer mehr, zu einer Spezies zu gehören, die Milliarden von Geldern ausgibt, um sich, die Natur und das Drumherum nebst Klima systematisch zu zerstören. Und genau dieses sinnentleerte menschliche Verhalten wird durch eine Mitteposition der hier vertretenen Partei ausschließlich verwaltet, ausgesessen oder gar verschlimmert. Der Trick funktioniert in der Regel so, dass man zu Beginn meist in Verbindung mit den Wahlen bahnbrechende Veränderungen ankündigt, um sie dann, wenn sich alles beruhigt hat, sukzessive zu verwässern oder gar zurückzuziehen. Oder wie Greta Thunberg die Ergebnisse auf der  Weltklimakonferenz in Glasgow kommentierte: Es ist alles nur BlaBlaBla.

Demokratische Grunderneuerung: Raus aus der Mitte

Neulich nahm ich an einem Workshop teil, der den Bürgern meiner Stadt und so auch mir als Kulturvertreter die Möglichkeit gab, an einem Masterplan für die Altstadt mitzuarbeiten. Visionen waren gefragt, aber auch alltagstaugliche, unmittelbar umsetzbare Ideen. Die etwa 50 Personen setzten sich aus den Bereichen Politik, Verwaltung, Handel, Kirche, Schule, Kultur etc. zusammen. Was mich faszinierte war vor allem der Prozess: Es ging nicht um Parteizugehörigkeit oder Wichtigkeit des Aufgabenbereichs, sondern einzig und allein um die Sache. So stelle ich mir repräsentative Demokratie durch die Basis vor. Es ist somit ein Gegenvorschlag im Zusammenhang mit meiner Kritik an der Mitte, die Vorrangigkeit der Parteien als „Selbsterhaltungssysteme (Richard David Precht)“, die über ihre eigenen Vorschläge abstimmen, abzuschaffen und stattdessen über eine Erneuerung des demokratischen Systems nachzudenken. Ich stieß auf einen archivierten Artikel von Eugen Ruge in der ZEIT: „Ist es uns eigentlich klar, dass eine sachkundig durchgeführte zufällige Auswahl aus politischen Laien, mit anderen Worten: ein ausgewürfeltes Parlament die Zusammensetzung unseres Volkes wesentlich besser repräsentieren würde als das gegenwärtige Verfahren?“ (4) Und nun komme mir keiner mit dem Argument, eine solche Vertretung könne nicht über komplizierte Sachfragen entscheiden. Die Kompetenz zur reflektierten Entscheidung spreche ich auch vielen Hardcore-Politikern ab. Jedenfalls hätte ein solches Modell der Partizipation gute Chancen, das versumpfte Fahrwasser der Mitte zu verlassen. Zudem würde all diese entsetzliche politische Langeweile durch ein Planen, Organisieren und Realisieren ersetzt, das an der Natur, dem Menschen und dem friedlichen Zusammenleben orientiert ist. Politische Mitte ist vor allem eins: Eine demokratische Zumutung.

Quellenangaben