Auf dem Weg zur mutlosen Gesellschaft
Putins Krieg - und unsere Antwort?

Die Brutalität des Kriegsherren Putin und seiner Soldaten hat uns alle erschreckt. Aber nicht nur der Krieg macht uns zu schaffen, mehr noch die Mutlosigkeit des Westens, besonders Deutschlands. Die Ukrainer kämpfen, wir zahlen – und das auch nur halbherzig. Übrigens, Mut ist auch ein ethisches Thema.

Was bedeutet der Titel dieses Aufsatzes? 1963 veröffentlichte der berühmte Psychologe Alexander Mitscherlich das Buch »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft«. Er beschreibt eine Gesellschaft, in der Väter fehlen. Arme Mädchen, aber auch arme Jungen, die sich nicht an Vätern orientieren oder sich an ihnen reiben. Ich bin so frei, aus „vaterlos“ „mutlos“ zu machen.

Der Kabarettist Günter Schramm (von Hause aus Psychologe) zeigte uns einmal, wie Mutlosigkeit (nach dem Modell des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin) aussieht. Wie Menschen ticken, die weder protestieren noch zustimmen können, also nur tun, was alle tun, Waschlappen sind oder wie man heute lieber sagt: Weicheier. Darin sehe ich das Muster, wie man auf Putins Krieg reagiert.

Man kann es kaum noch hören, dass Putin ein brutaler Unmensch ist. Halten wir uns nicht auf mit Ostvertragsproblemen, die mehrfach (von Gorbatschow und Jelzin) durch andere schriftliche Vereinbarungen revidiert wurden. Das Problem ist, dass Putin die Autonomie anderer Länder missachtet. Er will die Gestalt des alten Russlands – nicht nur der UdSSR, die ja „nur“ eine Völker- und Militärgemeinschaft ist – wieder errichten. Das alte Russland ist eine Kultur- und Volksgemeinschaft.

Das Recht auf autonome Gestaltung jeden Landes gilt als Menschenrecht, so in Artikel 28 der Menschenrechtscharta:

Art 28
Art 28
Standbild von Iwan dem Schrecklichen (Foto Pixabay)
Standbild von Iwan dem Schrecklichen (Foto Pixabay)

Es gibt gefühlte 1000 Putinversteher, imponiert hat mir der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin. Er verglich Iwan den Schrecklichen (1530-84) und Wladimir Putin. Sicher, Putin ist so schrecklich wie Iwan. Beider Machtexzesse sind ähnlich: Anzetteln von Kriegen, politische Figuren von Bedeutung entmachten, das Patriarchat von Moskau als religiöses Etikett benutzen, alle Länder, die zum Territorium der Rus (normannische Gründung) gehören, ins alte Russland eingliedern. Das waren aktuell Tschetschenien, Georgien, die Krim und jetzt die Ukraine, vielleicht auch Transnistrien, ein Landstrich in Moldau.

Zurzeit wird in politischen Parteien diskutiert, ob man schwere Waffen an die Ukraine liefern soll, damit sich die Ukraine besser verteidigen kann. Regiert wird der Westen von der Angst eines wahrscheinlich atomaren Krieges. Dagegen stehen das Prinzip der diplomatischen Konfliktlösung und eine möglichst kompletten Wirtschafts- und Finanzblockade.

Angst ist kein guter Berater. Darum kann das Regiment der Furcht nicht helfen. Ob passieren könnte, was nicht passieren darf, ist keine vernünftige Frage, eher: hätte, hätte, Fahrradkette (berühmt durch Peer Steinbrück, SPD). Ist die Lieferung schwerer Waffen ein militärischer Eingriff à la Nato-Intervention? Wieder einmal: Lawrow drohte mit Einsatz atomarer Waffen … und der Westen zitterte. Zittern kann er.

Uns kann nicht egal sein, wieviel Ukrainer abgeschlachtet werden. Angenommen, ich ginge spät abends mit meiner Frau spazieren, und sie würde angegriffen. (Der Bösewicht kann natürlich nicht wissen, zu welcher Form ein älterer Ex-Telgter aufläuft.) Diplomatische Konfliktlösungen helfen hier nicht, und bestimmt auch keine Finanzblockaden, vielleicht auch nicht einmal das Gegenteil. Bleiben wir bei Putin. Hätte er inzwischen nicht genügend Grund, mit atomaren Waffen zu reagieren? Egal wie wir uns entscheiden. Wir müssen zeigen, dass wir unsere Werte hochhalten und Verletzungen dieser Werte nicht unter den Teppich kehren.

Mein Vorschlag: Wir dürfen nicht vor Putin kuschen. Unsere Werte sind uns sehr wichtig. Und das müssen wir klar und deutlich und keineswegs verzagt zum Ausdruck bringen. Wir sind wer! Auch Putins Drohgebärde mit dem Atomkrieg ist nur eine Drohung, noch keine Ankündigung. Russland scheint zwar mit Atomsprengköpfen besser ausgerüstet zu sein als die Nato. Stimmt das? Putin ist kein Selbstmordattentäter. Würden wir beherzter sein, würde eventuell Putin zittern.

In dem Film »Die dunkelste Stunde« (Joe Wright 2017) musste Churchill auf Hitlers militärische Drohungen reagieren. Hitlers Armeen waren 1940 noch beängstigend erfolgreich. Viele englische Parlamentarier waren gegen einen Krieg mit Deutschland. Toll fand ich Churchills Satz: „Wir wollen keinen Frieden, wir wollen einen Sieg.“ Mit Hitler wollte eigentlich niemand leben. Wollen wir mit Putin leben?

Hier einige meiner Argumente:

1.    Die Kubakrise

Die Kubakrise im Oktober 1962 war eine Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR, die Mittelstreckenraketen auf Kuba stationierte. Ab dem 10. Juli 1962 begann die UdSSR heimlich mit der Stationierung von Militär und dem Transport von Atomsprengköpfen. Ziel war nicht nur der Schutz Kubas, sondern der Aufbau eines militärischen Drohpotenzials. Als John F. Kennedy im Gegenzug Atomwaffen an der Landesgrenze stationierte, zog die UdSSR ihre Waffen zurück.

Diskutieren wir nicht über die schlechte Behandlung Kubas durch die USA. Wichtig ist hier nur die Konfrontation der beiden Weltmächte.

Die Untersuchung der Kubakrise durch die Politikwissenschaft zeigte auf, dass sowohl John F. Kennedy als auch Nikita Chruschtschow sich der Tragweite ihrer Entscheidungen bewusst waren. Kennedy erklärte unmittelbar nach der Kubakrise, dass er die Gefahr nicht darin gesehen hat, dass die Sowjetunion von Kuba aus Raketen auf die USA schießen könnte, sondern dass allem Anschein nach die Machtbalance aus dem Gleichgewicht geraten wäre.

Ich bin kein Experte in Militärfragen. Aber offensichtlich ist die Reaktion Kennedys ein Zeichen der Stärke gewesen. Stärke heißt nicht Überlegenheit, Stärke heißt: Sich nicht für dumm verkaufen lassen.

Hätte Kennedy, wie unsere Politiker heute, sich vor dem russischen Angriff gefürchtet, hätten wir sicher den dritten Weltkrieg gehabt. Unsere mutlosen Politiker heute wären vor lauter Angst in den Krieg geschlittert. Sie sollen Realität einschätzen, nicht Wahrsager spielen.

  1. Helfen – eine Pflicht

Wir alle kennen die Hilfeleistungspflicht. Angenommen, da liegt jemand auf der Straße, nicht ansprechbar. Als Autofahrer mussten wir einen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren, und können etwa die Atemwege freimachen, wiederbeleben o.ä. Mindestens einen Notarzt oder die Polizei rufen sollten wir.

Hilfeleistungspflicht besteht für den einzelnen. Aber gilt das auch für kriegführende Nationen? Ja! Das Prinzip gilt sicher seitens der Ethik. Welcher Art die Hilfe ist, liegt nicht auf der Hand. Wenn z.B. in Mali ein Kontingent deutscher Soldaten im Auftrag der UN operiert, ist das eine sinnvolle Hilfeleistung. Gilt sie aber nicht mehr, wenn von Russland Soldaten geschickt werden? Die einen gefährden die Hilfe der anderen, das könnte ein Einschränkungsgrund sein, Aber das muss verantwortungsbewusst – nicht nur strategisch – überlegt werden.

Kommen wir auf den Ukrainekrieg zurück. Wir müssen helfen, Gefahren einkalkulieren, auch und vor allem Mut haben, und nicht nur auf die eigenen Interessen achten. Importe von Kohle, Öl und Gas einschränken, soweit es uns nicht zu hart vorkommt, oder solche Importe ganz stoppen, auch wenn wir mit Härten rechnen müssen.

  1. Mut – eine sogenannte Tugend

Tugenden wurden in der Antike von Aristoteles – gerade auch für Politik – als Ethikprinzip entworfen. Sie sind heute in Verruf gekommen, sind total veraltet und für Probleme der Gegenwart wenig überzeugend. Leider. Ihre Eigentümlichkeit ist leider oft die oft fromme Innerlichkeit. Vergessen wird oft ihre Handlungsorientierung.

Aber es gibt eine Renaissance der Tugendethik. Sie sind

  • die Mitte zwischen zwei Extremen
  • ein Prozess, kein Fixpunkt bzw. Prinzip
  • ausgerichtet auf eine soziale Lebenswelt und
  • zentriert auf die Achtung des anderen.
  • Eine Bedingung für ein gutes und glückliches Leben

Konzentrieren wir uns wieder auf die Tugend des Mutes: Sie steht zwischen der Feigheit und dem Übermut. Man kann nicht sagen, was Mut ist, wir müssen aber die beiden Extreme (Feigheit und Übermut) vermeiden und uns an der jeweiligen Situation orientieren, an dem: »Was können wir« und »wie reagieren die anderen«.

Stellen wir das in Form einer Graphik da:

Mut ist, sich für ein geglücktes Leben der anderen zu engagieren. Viel wird getan, leider scheint zurzeit vieles in dem Krieg daneben zu gehen. Im Ukrainekrieg zählte man (Ende April 2022) auf russischer und ukrainischer Seite an die 40-50.000 Tote. Genaue Zahlen gibt es nicht. Waren wir nicht mutig genug?

  1. Unmoral des Angriffs

Die Soldaten Putins tun das, was ihr System von ihnen verlangt. Mein Vergleich: Die Verbrechen der deutschen Wehrmacht kann man nur schwer beschuldigen, höchstens dann, wenn sie über die Übliche hinaus etwas Verbrecherisches getan haben. Bei Putins Soldatenliegen die Verbrechen auf der Hand Das ist in Russland wie damals in Deutschland sicher ähnlich. Dieses Problem des Ukrainekrieges kann man erst nach seiner Beendigung analysieren, jetzt noch nicht. Wir müssen das System kennen.

Der schon zitierte Schriftsteller Sorokin notierte aus dem Ort Butscha die in großen Lettern geschriebene Inschrift auf einer Häuserwand:Das ist m.E. die typische Unmoral des Untertanen. In der christlichen Ethik würde das heißen: Aggression gegen andere kann man nur verhindern, wenn man gut zu sich selber ist. Wenn der Krieg vorbei ist, sollte man solch eine moralisch klingende Unmoral in unserer Welt – und mag sie noch so klein sein – abbauen oder ganz verhindern.

  1. Die Perspektive der anderen

Dass immer wieder davon berichtet wir, wie halbherzig Deutschland auf Putins Krieg reagiert, mag stimmen oder auch nicht. Selbst die Blockade der Energielieferungen (Kohle, Öl und Gas) ist halbherzig. Estland liefert mehr Hilfe als das reichere Deutschland. Wir stehen an 6. Stelle. Putin würde sagen: Auf die Deutschen ist Verlass. Oder ändert sich unsere Einstellung zum Krieg?

Problematisch ist das schlechte Bild, das die Deutschen in der EU und den nicht zur EU gehörenden europäischen Staaten abgeben. Es geht nicht um das Ansehen Deutschlands, das schon einiges in der EU vermasselt hat. Man denke nur an die erfolglose Kritik der Europäer am Aufbau von North stream 2. Es geht um die Rolle Deutschlands in der Europäischen Debatte.

Die Amerikaner haben uns Deutsche gelobt wegen der militärischen Aufrüstung. Das Einzige, was mir zu denken gibt, ist die Tatsache der vermutlichen Aufrüstung, nicht der Stärke. Natürlich ist klar, dass Waffen anderen Angst machen. Klar ist auch die wirtschaftliche Rolle in der Welt. Wofür wir aber nicht großes Ansehen haben, ist der Mut, unsere Werte – haben wir die wirklich? – zu vertreten.

Übrigens Werte vertreten. Merkel hat das in China z.B. nicht getan. Leitet Scholz, der Peking links liegen lässt, und Tokio besucht, eine Wende ein? China, das den Ukrainekrieg beobachtet und sicher genau hinschaut, wie schwach die EU ist, wenn es um Stärke geht, z.B. um Klarheit und Eindeutigkeit nach dem Motto: Entweder macht ihr das, was uns wertvoll ist, oder ihr könnt nicht mit uns rechnen. Diplomatie ist nicht Mutlosigkeit.

Resümee: Ein Film

Von Larry Peerce  stammt der dramatische Kriminalfilm (schwarz/weiß, 1967) mit dem Titel: »Incident … und sie kannten kein Erbarmen«. Der Inhalt in Kürze:

Joe Ferrone und sein Kumpel Artie Connors terrorisieren aus reiner Langeweile in der New Yorker Bronx die nächtlichen Fahrgäste eines U-Bahn-Wagens. Es werden Formen von Gewalt bis zum äußersten Terror dargestellt. Nacheinander provozieren, erniedrigen sie andere Fahrgäste und kalkulieren dabei die Feigheit der übrigen ein. Bis endlich zwei andere Passagiere die beiden überwältigen und die Polizei rufen. Wieviel Ohnmacht nehmen wir hin?

Was sagt uns das? Mutlosigkeit ist ein Problem, das nicht erst im Ukrainekrieg offenbar wird. Schon lange, allzu lange – wann und warum wurde Mutlosigkeit eigentlich zum Zeitindex? – hat es das feige Wegschauen gegeben.

Wenn man im Fernsehen mitbekommt, wie 1000e Soldaten und Zivilisten im Asow-Stahlwerk in Mariupol verhungern, nachdem Putin die Bombardierung abgesagt hat. Für ihn wäre Häuserkampf zu verlustreich. Und seit Ende Mai schießen Putins Soldaten sogar mit Raketen. Das ist zwar teuer, aber radikal. – Können wir mit solchen Bildern leben bzw. mit unserer Feigheit?