In der Konfrontation mit antidemokratischen Politiksystemen sei mutiges Handeln nötig, sagen Politiker. Das klingt beherzt, aber lässt uns Wähler im Regen stehen. Hat das irgendetwas mit Praxis zu tun?
Was hatte Dante gegen Odysseus, den Helden des antiken Troja?
Dante Alighieri (14. Jahrhundert) hatte, so Sybille Lewitscharoff, in seiner Göttlichen Komödie nichts gegen Odysseus, den alten Haudegen, auch nicht gegen sein Techtelmechtel mit der Nymphe Calypso (laut Homer: hübsch, jung und göttertypisch), von der er sich nach zwei Jahren – aus geriatrischen Gründen oder Sehnsucht? – nach Hause verabschiedete. Dante ließ Odysseus in der Hölle schmoren. Warum? Er war zwar mutig, aber auch sehr listig und besaß einen menschenverachtenden Wagemut (z.B. als Seefahrer). Hölle wiederfuhr auch einigen Päpsten, Adeligen, Politikern, Tyrannen, Betrügern usw. Vielen haben sie die geistige oder finanzielle Hilfe verweigert, sie auf den Leim geführt und ihre eigene Würde verletzt.
Es geht mir nicht um Dante, eher um die aktuelle Politik. Vor allem um Erdogan, auch um Orban, Kaczyński und Politgiganten wie Trump oder Putin. Deren Pseudodemokratie ist ähnlich gestrickt. Was hat das mit Dante zu tun? Sein Streifzug durch das Inferno zeigt: Nicht Draufgängertum, Tapferkeit, Muskeln, gute Waffen, Erfolg, Prestige usw. – auch nicht die aktuellen Mutfaktoren wie (getürkte) Wahlerfolge. Macht, Militär usw. – machen Mut aus, eher Achtung der eigenen Würde und Respekt vor anderen Menschen. Das Problem ist, dass Mut, zu dem wir aufgefordert werden, immer auch die Energie unserer eigenen Entfaltung ist. Ich habe Dante als Exempel gewählt, weil er mit korrupten Politikern abrechnete, die man damals zu Hauf im untersten Höllenkreis findet. Wo wird man Trump finden? Dante musste vor dem Todesurteil der florentinischen Politiker fliehen, weil er der falschen politischen Bewegung angehörte. Bei ihm war Mut, der von Menschlichkeit abgekoppelt war (wie im Fall Odysseus), ein Pflasterstein zum Inferno.
Jetzt sind wir beim Thema. Vor kurzem sprach man vom Wutbürger, jetzt gibt es auch den Mutbürger. Wut ist eine Form von Zorn, Mut ist komplizierter, mehr als Explodieren und das Draufhauen á la Odysseus. Versuchen wir eine Definition: Mut ist ein aktives Verhalten, das Risiken und Nachteile bei der Überwindung einer drohenden Gefahr in Kauf nimmt. Mut, der Beschluss einer aktiven Reaktion, ist also eine Art Wagnis, aber weder Wagemut noch Win-Win-Spiel. Kalkulieren Politiker diese Elemente ein, wenn sie zum Mut auffordern?
Zum Mut aufgefordert wurde man im Fall Erdogan. Damit war gemeint, dass man ihm etwas entgegensetzen könnte. Das hätte Erdogans Mischmasch von Religion und Politik sowie seinen autokratischen Größenwahn verfremden oder lächerlich machen können. Ein treffsicherer Böhmermann und eine mutigere Kanzlerin wären nicht schlecht gewesen. Auch auf die Gefahr hin, dass der Flüchtlingsdeal platzt. Denken wir an sein Präsidialsystem, die Verhaftung vieler Richter und Journalisten, Ankündigung der Todesstrafe (die Deutschland bei den USA etwa akzeptiert), Verletzung parlamentarischer Regeln, beleidigende Äußerungen, Wahlkampf in (einst) befreundeten Staaten usw.
Merkel, Steinmeier, de Maizière, Lammert, Gabriel und andere forderten uns beim Erdoganproblem auf, Demokratie mutig (!?) zu verteidigen. Aber ist Mut in deren Reden mehr als eine Worthülse? Meines Erachtens nicht. Seltsam, diejenigen, die uns zu Mut auffordern, tun nichts, und diejenigen, die Lösungen anbieten, können die Politik nicht ändern. Enttäuschter Mut verstärkt wieder einmal die Wut, und die kann zur Zerstörung der Demokratie führen und unser Demokratiekonzept mit Geschichtsklitterungen, Lügen, Desinformationen, Machtspielchen, fehlenden Konzepten usw. unterhöhlen. Es ist so einfach, uns aufzufordern, die Demokratie „mutig“ zu verteidigen. Vor allem, wenn man nicht genau weiß, was Mut ist. Dante konnte Politiker wegen vorgetäuschter Klugheit ins Inferno schicken, wir können nur noch enttäuscht und wütend sein. “Falsche Wörter kündigen falsche Politik an“ (P. Sloterdijk, NZZ vom 22.4.17).
Was setzen wir dem Demokratieverfall entgegen? Mut. Klar, Erdogan und Co schlottern die Knie vor Angst, wenn wir mutig werden. Ich finde die Berufung auf die sogenannten Sekundärtugenden lächerlich, die man als Haltung der parteipolitischen Kritiklosigkeit versteht. Auch die Sonntagsreden mancher Politiker, wenn sie fordern: wir sollen mutig die Demokratie verteidigen. Wie zum Teufel (Vorsicht Dante!) geht das, wenn Politiker selber alles andere als Mut beweisen und höchstens emotionalen Sinn transportieren. Was soll die Aufforderung? Sollen wir etwas unternehmen, etwa nach Ankara oder Washington fahren und Außenpolitik machen? Das Bild von George Grosz zeigt den Offiziellen als Schwein – und das im Dritten Reich. Es beweist Mut. So sein Bild von 1944 (Verzicht auf Darstellung, weil Google den Download als illegal erkennen würde) „Cain oder Hitler in der Hölle“. Doch ein bisschen Dante?
Versuchen wir, dem Sinn dieses Wortes „Mut“ auf die Spur zu kommen. Am Mut wurde von der vorchristlichen Antike bis in die frühe Neuzeit herumgefeilt. Gegenwärtig sinkt vor lauter Pflichtmoral die Nachfrage nach Mut. Vermeiden wir diese (Un)Art der Moral und konzentrieren wir uns auf einige wichtige Dimensionen.
Zum Mut gehören m.E. die vier Elemente im nebenstehenden Schema. Wir dürfen es nicht so lesen wie ein Barkeeper: Ingredienzien rein, gut schütteln, fertig ist der Mut. Andersherum: Wenn wir mutig sein wollen/müssen, sollen wir die vier genannten Elemente berücksichtigen. Sie werden hier andeutungsweise erklärt:
- Ich-Stärke beweist der, der Konturen als seine wesentlichen Elemente ausarbeitet. Das führt vor allem zum Aufzeigen der Grenzen. Sonst wird das Ich zum Du-Verschnitt.
- Aktivität bedeutet nicht Entscheidungen anderer hinnehmen, sondern durch eigenes Tun gestalten bzw. ihnen etwas entgegensetzen. Bloße Reaktion kann, wie das Wort schon sagt, reaktionär sein, weil sie immer einen Schritt hinterherhinken.
- Risikoabwägung erfordert Nachdenken. Zunächst überlegen, welche Gefahren mit der Entscheidung verbunden sind. Dann aber auch überlegen, wie die Demonstration der Ich-Stärke dann noch angemessen gestaltet werden kann. Aktuell werden Gefahren und Nachteile, wie in der Definition beschrieben, nicht in Kauf genommen, sondern ausgeschlossen. Soll heißen: nicht drauhauen, aber Kante zeigen.
- Dissensmanagement erscheint in einer konsensfreudigen Zeit unpassend. Es bedeutet aber auch klar zu machen, welche Entscheidungen für uns unannehmbar sind. Sogenannte rote Linien (nicht nur die von Obama im Syrienkonflikt) müssen definiert und eingehalten werden. De Maizière’s Leitwerte, zum x-ten präsentiert und immer noch nicht gut, vermeiden den Dissens, wollen den Zwangskonsens.
Schlimm, wenn Politik den Mut des Bürgers eigentlich nicht will, auch wenn sie so tut, als wäre er wichtig. Dazu kommt, dass politische Rhetorik den Mut und seine Essenz nicht einmal bedacht hat. Vor allem: mutige Menschen gelten meist als Ärgernis.
Mutprobe: Viele Politiker sagen Dinge, die sie nicht durchschauen, geschweige durchdacht haben. Sie überzeugen uns nicht, sie überreden nur. Politik gerät so immer mehr zu Symbolpolitik. Es folgen den Reden der Politiker keine wirksamen und überzeugenden Maßnahmen, die unsere demokratische Haltung retten.
Bezüglich der Vorgänge in der Türkei wurde andiskutiert: ● ein angekündigtes Aufnahmeverfahren in die EU auf Eis zu legen, ● angekündigte Visaverhandlungen bis auf weiteres zu stoppen, ● Waffenlieferungen im Rahmen der NATO aufzukündigen, ● für das militärische Engagement im Rahmen der NATO statt Incirlik eine andere Militärbasis zu finden, ● Förderung wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu beenden. Keine von diesen Maßnahmen wurde umgesetzt, stattdessen wurde unser Mut, wenn auch anderes behauptet wurde, auf Eis gelegt. (Nach dem Tag der freien Presse sollte ein Tag des Mutes eingeführt werden. Immerhin ging beides daneben.)
Neben diesen strategischen Ideen denke ich insbesondere an Folgendes: Wir sollten die Kooperation mit DITIB (Deutsch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V., die Abkürzung kommt von der türkischen Version) aufgeben. Sowohl die Gestaltung der Religion als auch die Integration sind seine Aufgaben. Er hat allerdings seine Aufgabe der Religionsgestaltung durch Spionage für Erdogan politisch missbraucht und wird sie wegen seiner politischen Abhängigkeit leider immer wieder missbrauchen. Mein wichtigster Grund: Lehrmeinungen im Islam (anders als in christlichen Religionen) sind auf die jeweilige Moschee begrenzt, eine Moschee von Köln z.B. ist autonom, kein Ableger von Ankara. Eine islamisch-deutsche Union würde stattdessen eine zentrale Steuerung (etwa durch Erdogan als Papstersatz) bedeuten. Es gibt im Islam keine globale Lehrinstanz, und sollte es auch nicht geben.
Als ich das aufschrieb, hatte die Regierung nur angeordnet, die Finanzierung zu stoppen. Jetzt fließen die Gelder wieder. Das ist Mut. Eben, außer Spesen / nichts gewesen. Das Ende des Mutes ist angebrochen. Er ruhe in Frieden!
Erdogan und die anderen, die Demokratie verletzen, lachen sich wegen unserer Reaktion ins Fäustchen. Vielleicht denken sie: oh, diese schwachen deutschen Armleuchter. Meinen die uns, das Volk, oder unsere Politiker der GroKo?