Aber bitte mit Sahne
Ernährungspolitik: ein Ziel mit vielen Hürden

Udo Jürgens – von ihm stammt mein Titel – spießte 1976 die Ernährungspannen unserer Gesellschaft auf. Welche das sind und warum sie nicht in unsere Projekte einbezogen werden, sollte uns interessieren. Immerhin liegen dort Gründe für das Scheitern unsere Gesundheitspolitik.

In den 1980ern las ich einen Bericht der WHO über ein Gesundheitsprojekt gegen das Risiko der Herzerkrankung in Guatemala. Viele Ernährungsmaßnahmen wurden angeboten, unter anderem Reduzierung von Palmölverwendung und Rauchen. Das Projekt scheiterte. Warum? Die Kolumbianer konnten/wollten weder auf Palmöl noch auf Rauchen verzichten. Damals irritierten mich die offenen Fragen. Ist Leben in alter Tradition, selbst wenn die alte Tradition krank macht, wichtiger als Gesundheit?

Solche Erfahrungen machen nachdenklich: Ist gesund sterben unser Ziel – oder was? Sterben ist unvermeidbar, aber kann Leben mit gesundheitsfördernder Ernährung nicht doch erstrebenswert sein? „Kann“? Es gibt sicher noch andere Faktoren, nicht nur die Ernährung, sondern Faktoren wie Gene, Lebensqualität, Reichtum usw. Es gibt kein Allheilmittel für gesundes Leben. Aber worauf kann Ernährungspolitik denn gebaut werden? Nicht auf Statistik und Medizin mit aufregenden Zahlen. Wir bauchen Zusammenhänge, die unser Leben lebenswert machen. Unser Dilemma ist natürlich, die rationalen Ziele (z.B. der Ernährungswissenschaft) zu eruieren, aber auch die Widerstände zu benennen, die schließlich ja auch ein Teil unseres Lebens sind.

Mit welchen Widerständen müssen wir rechnen? Als besonders auffällig werden in der Gesundheitspolitik vor allem folgende 5 Punkte definiert:

1) affektive Prioritäten,

2) die Armut,

3) Negierung der Theorien (oft politisch bedingt, z.B. Abschaffung von Leberkäs

in bayrischen Schulen),

4) Betonung der individuellen Ernährungsverantwortung und

5) die Delegierung auf politische Gesetze.

Ich erinnere an die ernährungsbedingte Erkrankung der Adipositas (Fettleibigkeit), deren Behandlung der Krankheitsfolgen allein in Deutschland pro Jahr 63 Milliarden € kostet. Die OECD rechnet bis 2050 mit 8% der Krankheitskosten. Etwa 15% der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig, etwa jeder Dritte von ihnen ist adipös. Eine fehlende gesunde Ernährung ist sicher ein Grund, aber nicht der einzige.

Zuvor ein (sehr) verkürzter Überblick:

Informationen sind allgemeiner Art, weil es mir um die Basics der Ernährungspolitik geht und nicht um ernährungswissenschaftliche Details. Also Ernährungspolitik ist mein Thema. Im Folgenden sollen ihre Hürden erklärt werden, wobei diese Hürden nur die sind, die unsere Ernährungspolitik ins Rutschen bringen.

  1. Beispiel Gemeinschaft: eine wichtige affektive Priorität

Viele Dinge in unserer Ernährungsplanung sind uns vorrangig wichtig. Essen bedeutet Genießen, weckt Erinnerungen, wird durch Riechen ausgelöst (nur was gut riecht, kann gut schmecken) usw. Das passt natürlich zum Essen in Gemeinschaft

Wie wichtig das ist, zeigt ein ethnologisches Erinnerung. In der Antike und (zumindest gelegentlich noch) bis zum Mittelalter basierte das Ehegelöbnis oft nicht nur auf einem sexuellen Akt mit oder ohne Folge einer Schwangerschaft, sondern ein gemeinsames Essen. Wer gemeinsam isst, gehört zusammen.

In Fernsehkanälen etwa in Arte werden Sendungen meist mit Titeln wie „Kochen in Sardinien“ gezeigt, deren Zubereitungsteil für mich weniger interessant ist. Aber faszinierend ist für einen Genießer (auch mich) dann vor allem das gemeinsame Essen mit Familie und Freunden.

Besondere Regelungen gibt es für die Kleinen (in Kitas, Kindergärten und einigen Schulformen). Was man hört und sieht, ist gemeinsames Essen schön und offensichtlich auch für die Kleinen wichtig. Was meine Frau und ich in Frankreich viel erlebt haben, ist selbst für Kinder ein kulinarisches Event, mit der Familie oder Freunden zu essen. Das ist durchaus ein feierliches Erlebnis, bei dem Gemeinschaft, Ernst-genommen-werden, eigene Prioritäten-haben, Dazu-gehören wichtiger sind als Spielzeug, Buntstifte und das Schnitzel „à la Räuber Hotzenplotz“

Kasernen, Justizanstalten und Krankenhäuser bauen wegen Sparsamkeit eher auf Essen ohne Gemeinschaft bzw. Essen mit Zwangs-Gemeinschaft. Kein Wunder: Essen in diesem Rahmen ist eher witzlos.

Was lernen wir daraus? Nicht Chemie und Ernährungsmedizin sind das Entscheidende, sondern Essen verbunden mit Gemeinschaft. Änderung von Ernährungsbestandteilen ist zum Scheitern verurteilt, wenn man nicht die Gemeinsamkeit der Nahrungsaufnahme und gelegentlich sogar gemeinsames Kochen einplant.

  1. Armut

In der Ernährungspolitik spricht man von „Doppelbelastung“ („double burden“), gemeint ist gleichzeitiges Vorhandensein von Unterernährung und Mikronährstoffmangel (Mikronährstoffe sind v.a. Vitamine, aber auch Fett- und Aminosäuren, vitaminähnliche Substanzen sowie sekundäre Pflanzenstoffe). Millionen von Menschen sind davon betroffen:

Da sind die einen, sicher die Mehrzahl, denen es finanziell nicht möglich ist, eine variantenreiche Ernährung zu besorgen. „Je niedriger der ökonomische Status, desto qualitativ und quantitativ ungünstiger ist die Ernährung“ (Silvia Monetti 2024). Dazu gehört auch die verbreitete Beobachtung, dass seit 2023 die Lebensmittelfinanzierung über der Inflationsrate liegt. Vielfach führt die Armut nicht nur zu geringer Nahrungsaufnahme, sondern auch zu falscher Ernährung. Gutes Essen ist ihnen zu teuer. Billige Fleisch- und zuckerhaltige Produkte führen oft zur Diagnose der Fettleibigkeit (inklusive Adipositas) mitsamt der extrem teuren Behandlung. Bevor dieses Problem festgestellt wird, kann man eine langfristige Fehlernährung mit meist zuviel Zuckerverarbeitung aufdecken. Letzteres gibt es nicht nur bei Menschen aus ärmeren Schichten, auch Menschen aus wohlhabenderen Schichten sind betroffen. Konzerne, die Produktionen dieser Art verantworten, rechtfertigen sich gern mit Argumenten der folgenden Punkte 3 bis 5.

  1. Negierung der Theorien

(Quelle Pixbay)Wenn man eine Theorie aufstellt, muss man verschiedene Studien auf verschiedenen Ebenen abgeschlossen haben. Erst dann kann damit etwas bewiesen sein. Ein oft benutztes Argument ist der angebliche Beweis, vieler Konzerne, dass die Studie mit ihrem Nachweis nicht stimmt: Etwa der Zuckergehalt liege unter dem pathologischen Wert oder trete nur bei langfristigem Genuss – aber wie „lang“ ist „lang“? – auf. Unser Problem ist jedoch, ob solche Studien überprüfbar sind, was und ob überhaupt die Ergebnisse dieser Studien weiterführen (z.B. die Theorie erhärten) und ob das gesellschaftsweite Ernährungsproblem damit gelöst ist.

Interessant ist, dass die Qualität medizinischer Studien, die in internationalen Zeitschriften öffentlich gemacht wurden, im Cochrane-Center (Uniklinik Freiburg) nachverfolgt und bewertet werden können. Aber wie und wo kann man Konzernstudien nachverfolgen, wenn man nicht zum Konzern gehört? Muss nicht auch der Konzern deutlich machen, dass und warum die Ernährung gut ist – und auch, dass der Konsument (am besten ohne Chemiestudium) begreifen kann, warum das so ist. Der Nutri Score ist sicher nicht perfekt, aber er ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung, wenn er für alle Produkte verbindlich wäre.

  1. Individuelle Ernährungsverantwortung

Wer trägt die Verantwortung für seine Ernährung? Natürlich jeder selbst – keine Frage. Kommen wir auf den Schlager von Udo Jürgens zurück: Viele genießen Kuchen, aber nur mit Sahne und werden dick und dicker – nicht nur die sahnig-dicken Tanten im Song von Udo Jürgens und dem „traurigen“ Ende: „Der Tod hat reihum sie dort abgesahnt“. Verantwortung geht in Sahne bzw. Zucker unter.

Nur, wenn die Zusammensetzung der Ernährung recht komplexe Folgen hat, etwa Folgen, die die anderen bezahlen müssen, z.B. bei Erkrankungen wie Adipositas, ist das dann mein und nur mein Problem? Zumindest muss meine Entscheidung auf einer Information über die Folgen für mich und die anderen beruhen. Niemand kann mir meine individuelle Verantwortung streitig machen. Sie beruht auf dem Prinzip des „informed consent“ (= Zustimmung nach Information) in vielen Wissenschaften.

Das BMZ (= Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit) gesteht trotz der zwischenstaatlichen Entwicklungshilfe allen Menschen das Recht auf individuelle Ernährung zu. Dieses Recht wird „zum Kompass seiner Entwicklungshilfe“ (Jan Urhahn 2024), es basiert auf ausreichender Information. Das aber bedeutet, dass man die Verantwortung nicht einfach komplett von den Konzernen auf den Einzelnen abwälzen.

  1. Delegierung auf Gesetze

Schlimm ist das Konzern-Drama: Wenn ein Konzern stark gesüßte Produkte anbietet, die als schädlich eingestuft werden, beruft er sich gern auf fehlende Gesetze. Wenn solche Produkte per Gesetz verboten werden, kritisieren ein Konzern ein solches Verbote mit der Berufung auf individuelle Verantwortung der Bürger (siehe Punkt 4). Ein echtes Open-End-Drama. Politik würde vermutlich gern mit Empfehlungen auskommen, aber Konzerne sowie viele Konsumenten reagieren selten auf Empfehlungen, sie hören lieber auf Gesetze. Nur was verboten ist, gilt als falsch – meint der Hobby-Ethiker.

Was bleibt, ist das Delegieren. In unserem Fall ist Delegieren das Verschieben von Vernünftigkeit auf Paragraphen. Man verschanzt sich hinter dem Unsinn.

 Mein Fazit

Markt (Quelle Pixabay)

Ich erinnere mich an den alten Film „Chocolat“ (deutsch: Chocolat – ein kleiner Biss genügt) von 2001. In diesem Film ging es eigentlich um Toleranz gegenüber Menschen, die aus dem Rahmen fallen. Aber eine Szene zeigte genau unser Problem: Die Hauptdarstellerin war eine alleinerziehende Frau, die allen Menschen, die nicht mehr aus noch ein wussten, mit der leckeren, beruhigenden und tröstenden Schokolade half. Sie fiel aus dem Rahmen der Tradition und hörte nicht auf den Bürgermeister des Ortes, der total auf Tradition setzte und vor allem alleinerziehende Frauen bekämpfte. Er drang nachts wegen seines (angeblichen) Kampfes für Toleranz in die Chocolaterie ein und aß alle Schokolade auf, die im Schaufenster lag. Am Morgen sah man ihn im Schaufenster liegen, verschmiert, satt und glücklich schlafend.

Angenommen, die „Ernährungs-Docs“ im Fernsehen würden französischen Käse wegen des hohen Fettgehalts und Weißwein wegen des niedrigen Quercetin- und Polyphenolgehaltes für ungesund erklären, würde ich – auch wenn das unvernünftig wäre – ihn trotzdem gern essen bzw. trinken?

Doch es gäbe ja Kompromisse. Vernünftige Ernährung hört nicht auf Chemie, sondern auf das, was einem hilft, am Ende sogar genießen hilft. Und das sind die Vielfältigkeit und Variabilität der Nahrungsprodukte

Am 14.1.2024 hat der Bürgerrat eine Empfehlung verabschiedet. Zuvor eine kurze Beschreibung, was der Bürgerrat ist.

Hier der Text (allerdings um die dazugehörigen Kommentare gekürzt):