Als Kind war er beliebt. Auch den Jugendlichen mochten alle, die Verwandten ebenso wie die Nachbarn, wegen seines sonnigen Gemüts und der großen blauen Augen, mit denen er sorglos in die Welt blickte. Er ging früh in die Lehre und kehrte nachmittags singend auf dem Fahrrad von der Arbeit zurück. Er mochte die handwerkliche Arbeit mehr als die Schule, war immer hilfsbereit, wusste sich aber noch nicht recht zu wehren, wenn er schlecht behandelt wurde, was auf der Arbeit durchaus vorkam.
Mit 22 heiratete er seine erste Freundin, sie bekamen einen Sohn und eine Tochter und Enkelkinder. Um seine Familie kümmert er sich auf fürsorglich-patriarchalische Art. Seine Geburtsstadt hatte er nie verlassen. Außer für kurze Urlaube an der Nordseeküste, deren Klima ihm wegen der Neurodermitis guttat, und ein-, zweimal mit einem Transport von Hilfsgütern in ein östliches EU-Land.
Im Laufe der Jahre hatte sich seine leichte Art, das Leben zu nehmen, geändert. Er ist ernst geworden. Er mischt sich in Gespräche ein, weiß genau, was richtig und falsch ist, kann sich schnell persönlich angegriffen fühlen, wenn jemand anderer Ansicht ist oder gar kritische Fragen stellt. Im lokalen Verein schätzt man ihn wegen seines handwerklichen Geschicks und seiner Zuverlässikeit. Aber die Dinge müssen gemacht werden, wie er will, er bestimmt, die Anderen führen aus. Er sagt von sich selbst, dass er am liebsten allein arbeitet. Auch seine Mutter kann nicht sagen, wann und wie sich sein Charakter verändert hat. Sie, die ebenfalls die Kleinstadt nie verlassen hatte, liebt ihn, auch wenn ihr sein breitbeiniges Vorarbeiterauftreten gelegentlich Sorgen macht. „Hoppla, hier komm ich“, so nennt sie es.
Die Mutter geht jetzt auf die Hundert zu, hat ein ganzes Berufsleben im öffentlichen Dienst verbracht und darum eine Rente, wie es sie heute kaum noch gibt. Gemäß traditioneller Arbeitsteilung versorgte sie „nebenbei ihren Männerhaushalt“. Ihrem Mann, als Betriebsrat, Sozialdemokrat und in verschiedenen Vereinen aktiv, hielt sie „den Rücken frei“, wie man bis heute so sagt. Ihr Leben war Fürsorge, Arbeit und nochmals Arbeit. Obwohl sie heute Vieles anders sieht, bereut sie nichts und hat es gern getan. Nachdem sie vor über 20 Jahren Witwe geworden war, war Kurt, ihr jüngerer Sohn, mit seiner Familie in das Elternhaus gezogen, und sie mietete eine Wohnung für sich, 50 Meter entfernt und gleich um die Ecke.
Sie ist von klarem Verstand, nur etwas vergesslich geworden, hört und sieht nicht mehr gut, kennt aber jeden Zentimeter in ihrer Wohnung. Bisher kochte sie sich ihr Essen selbst, wusch sich, zog sich an und aus, war stolz darauf, ihre Entscheidungen selbst zu treffen und alles, was sie noch konnte, selbst zu tun. Sie ging solange es ging, langsam zwar und vorsichtig, vom ersten Stock in den Keller, um ihre Wäsche zu waschen, aufzuhängen und wieder nach oben zu holen.
Schmerzen kennt sie schon lange, Schmerzen in den Muskeln, dem Rücken und Gelenken, aber sie ist geduldig und hat in einem langen Leben gelernt auszuhalten. Jetzt aber waren die Rückenschmerzen unerträglich geworden. „Ich will gar nicht Hundert werden“, sagt sie oft. Sie will aber in Frieden in den eigenen vier Wänden sterben. Ins Krankenhaus will sie eigentlich auch nicht, aber wie weiter, wenn selbst Außenstehende ihre Schmerzen nicht mehr ertragen können? Der Hausarzt gibt ihr eine Morphiumspritze, danach kann sie kaum noch stehen.
Beide Söhne begleiten ihre Mutter in die Notaufnahme des Krankenhauses, der Ältere war auch in der Nacht zuvor bei ihr in der Wohnung geblieben. Nach langen Stunden von Aufnahmeprozeduren und ersten Untersuchungen wird sie zunächst in die Orthopädie und nach einigen Tagen in die geriatrische Abteilung verlegt. Bandscheibenvorfall, bei einer Frau ihres Alters nicht mehr operabel.
Bereits am ersten Tag ist sie verwirrt, sie weiß nicht wo sie ist, fürchtet sich vor den fremden Menschen, die im Krankenzimmer ein- und ausgehen, die sie zu Untersuchungen irgendwo hinbringen, weiß nicht, was mit ihr geschieht und wozu. Sie weint, will nach Hause, aber weiß nicht wo das ist. Jetzt muss man täglich bei ihr sein.
Entscheidungen müssen getroffen werden, zum ersten Mal im Leben müssen die Brüder auf nicht absehbare Zeit zusammenarbeiten. Sie sind Rentner, im Prinzip frei, über ihre Zeit zu bestimmen, hatten aber Pläne. Der ältere war zu einem Kongress in Genf eingeladen. Vielleicht das letzte Mal in sein altes Leben eintauchen, alte Kollegen und Freundinnen sehen, über die Lage in verschiedenen Ländern aus erster Hand erfahren. Er sagt schweren Herzens am Tag vor der Abreise ab, bezahlt das Hotel. Der jüngere und seine Frau wollten eine Woche Urlaub an der Nordsee verbringen. Mit Tränen in den Augen spricht er davon, wie schlimm Absage oder Verschiebung für sie seien, sie hätten vor Jahren schon einmal verschieben müssen. Mein Gott, denkt der Ältere, Tränen in den Augen? Wirklich? Er nimmt es ihm im Stillen ein wenig übel, sagt aber tröstend, sie könnten doch später jederzeit verreisen, so lange und wohin sie wollten.
Die Brüder waren schon in jungen Jahren verschieden. Manfred, der ältere, war als erster der Facharbeiter- und Hausfrauen-Familien väter- und mütterlicherseits „aufs Gymnasium geschickt“ worden, wie es damals hieß. Vom Vater hatte er die Liebe zu Büchern geerbt, das Abitur nur mit Ach und Krach geschafft. In der Verwandtschaft war der Junge – weil zu ernst und widerspruchsfreudig – nicht so recht beliebt. Seit dem 16. Lebensjahr in linken politischen Gruppen und später in der Gewerkschaft aktiv, zog er bald in die Großstadt, wurde wie sein Bruder Facharbeiter. Nach 15 Jahren in der Fabrik, in der er lange Betriebsratsvorsitzender war, schloss er – längst verheiratet und Vater geworden – doch noch ein Studium ab. Er arbeitete für internationale Gewerkschaftsorganisationen in vielen Ländern, hatte gelernt Teams zu formen, mit Großkonzernen, der Weltbank und Regierungen Verhandlungen zu führen. Das Leben in Kriegs- und Krisenländern schreckte ihn nicht. Im Gegenteil, ihn reizten Herausforderungen.
Außenstehende merken ihm nicht an, dass seit seiner Behinderung in den Kindheits- und Jugendjahren Selbstzweifel an ihm nagen. In jungen Jahren suchte er Minderwertigkeitsgefühle mit Schärfe in Diskussionen zu kaschieren, und es ging ihm ums Gewinnen. In dieser Hinsicht hatte ihn das Leben Besseres gelehrt. Er lacht und diskutiert gern, hat zwar seine Meinung zu den meisten Dingen des Lebens, ist aber interessiert an den Standpunkten anderer, hört zu, war geworden, was man einen Teamplayer nennt.
Das Leben der Brüder hatte sich also schon früh unterschiedlich entwickelt, sie sahen sich über die Jahrzehnte nur selten, und jetzt beginnt eine Zeit, in der sie lange und eng über eine Aufgabe verbunden sind, die sie sich nicht ausgesucht haben.
In allen Krankenhäusern und Reha-Kliniken werden Patienten schon früh geweckt. Die frühen Essenszeiten, Frühstück ebenso wie Mittag- und Abendessen sind nach anderen Interessen als dem der Patienten organisiert, und zwischen der Abendmahlzeit und dem nächsten Frühstück liegen leicht 15 Stunden.
Ohne dass sie sich abgesprochen hätten, bleibt der Ältere zunächst acht bis zehn Stunden im Krankenhaus. Er wohnt in einer anderen Stadt, mit dem Auto knapp 30 Minuten entfernt vom Wohnort der Mutter und dem Krankenhaus und macht sich früh auf den Weg, um vor dem Frühstück da zu sein, wenn die Mutter auf den Tag vorbereitet wird, um Untersuchungen, Behandlungen, Arztvisiten nicht zu verpassen. Er holt ihren Rollstuhl von zu Hause und fährt mit ihr immer wieder durchs Krankenhaus, durch die Straßen, die sie kennt, zeigt ihr das Haus, in dem sie wohnt. Nach und nach erkennt sie wieder, wo sie ist und versteht, was warum mit ihr geschieht. Sie wird ruhiger, weil sie nicht allein ist, sich beschützt fühlt. Ihr Sohn spricht mit Ärztinnen und Pflegern über Diagnosen, Behandlungen und Medikamente. Viel ist zu tun, für das Pfleger und Pflegerinnen keine Zeit haben. Zu den Mitpatientinnen muss ein gutes Verhältnis hergestellt werden, auch damit diese notfalls helfen, weil die Mutter schlecht sieht und hört. Die Wäsche wäscht manchmal Manfred, überwiegend aber seine Schwägerin.
Später heißt es, er habe doch gar nicht so viel Zeit bei ihr verbringen müssen. Man habe ihm doch vorgeschlagen, dass er zum Frühstück, die Schwägerin zu Mittag und der Bruder zum Abendessen kommen könne. An einen solchen Vorschlag kann er sich nicht erinnern, und selbst wenn, wer hätte sich dann um alles gekümmert und mit den Ärzten gesprochen? Wohl aber kann er sich an einen anderen Vorschlag des Bruders erinnern als es später um eine Kurzzeitpflege in einem recht entfernt liegenden Heim geht: Man könne sich jeweils von einem zum anderen Tag abwechseln. Als Manfred darauf zurückkommt, hat Kurt leider viele Termine, und das Thema ist erledigt.
Der jüngere Bruder versucht dreimal, die Rollstuhlfahrten außerhalb des Krankenhauses zu verhindern. Es sei zu gefährlich, da kein Arzt in der Nähe sei, Manfred könne ja auch mit einem Rad des Rollstuhls von der Bordsteinkante rutschen und eine gute Freundin, die im Krankenhaus als Physiotherapeutin arbeitet, habe auch gesagt, das sei zu gefährlich. „Wieso, was soll denn da passieren?“ sagt sie als Manfred sie darauf anspricht. Zu dem Zeitpunkt führt Manfred Kurts Verhalten noch auf dessen Neigung zurück, auch dort Probleme zu entdecken, wo es keine gibt, und kleine zu großen aufzubauschen.
Über Monate kommt der Ältere früh an sieben Tagen die Woche und bleibt bis die Mutter am Nachmittag eingeschlafen ist und die Arztvisiten, Untersuchungen und die Behandlungen in der Regel abgeschlossen sind. Der Jüngere kommt am Nachmittag, meistens in Begleitung seiner Frau, und bleibt bis das Abendessen abgeräumt wird.
Eigentlich könnten alle mit dieser Arbeitsteilung zufrieden sein. Kurt lässt nie erkennen, dass er Wert darauf legt, mit Manfred zu tauschen. Manfred ist entschlossen, alles für den Wunsch der Mutter zu tun, in die eigene Wohnung zurückkehren zu können. Sie hat in den Jahren seiner Behinderung unendlich viel für ihn getan. Und er traut dem Bruder nicht zu, die Arztgespräche, den umfangreichen Papierkram, die begleitende Betreuung im Krankenhaus und später in der Reha-Klinik zu meistern – jedenfalls nicht so, wie er es für notwendig hält. Die Mutter lässt dem Älteren gegenüber erkennen, dass es ihr lieber ist, wenn er sich kümmert. Es könnte also problemlos so weiterlaufen, doch es gibt zunehmend Spannungen.
Manfred berichtet dem Bruder über jedes Gespräch mit Ärztinnen, Pflegern, Physiotherapeutinnen, Sozialarbeiterinnen, schickt ihm Kopien der Dokumente, Befunde und Anträge. Kurt scheint sich über keine Besserung in der Entwicklung der Mutter zu freuen. Sein Ton ist oft gereizt und herrisch, kaum einem Bericht über Arztgespräche kann er zuhören ohne unwillig zu unterbrechen. Beide denken: „Wichtigtuer!“ Vor allem aber hat Manfred das Gefühl, sein Bruder arbeite gegen ihn. Kurt macht immer wieder Bemerkungen von der Art: „Sie schafft das nicht, ein Altenheim ist die beste Lösung“. Manfred denkt: „Besser für wen?“ Vergangenes schleicht sich in die Gegenwart. Hat er nicht schon bei anderen Anlässen geäußert, der Zeitaufwand für die Mutter sei ihm zu viel? Als die Mutter etwa 86, 87 Jahre alt war, gab es diese beiden Telefongespräche. Kurt wollte ihr das Fahrrad wegnehmen, mit dem sie zum Friedhof fuhr. Seine Motive vor allem waren es, die Manfred damals empörten: „Wie stehe ich bei den Nachbarn da, wenn mich die Gefahr auf der Straße nicht zu kümmern scheint?“ Und: „Wenn sie stürzt und sich ein Bein bricht, habe ich die Arbeit damit“. Damals bestand Manfred auf ihrem Recht, über das Fahrradfahren selbst zu entscheiden, und mit 88 gab sie es in eigener Entscheidung auf. Erfahrungen und Erinnerungen, die nie besprochen wurden, füttern die Spannungen, die auch jetzt nicht besprochen werden. Die Ereignisse häufen sich.
Als Kurt die Mutter mit einem großen Löffel füttert – „Weil sie es will“, was sie aber verneint – lässt der Ältere erkennen, dass er keine Bevormundung erträgt, auch dann nicht, wenn es um die Mutter geht. „Welche Bevormundung?“ Für den Jüngeren gibt es keine Bevormundung, er weiß einfach nur, was richtig ist und getan werden muss. Und belehren lässt er sich schon gar nicht. Kurt sagt dem Älteren wie und wo er parken soll. „Du stehst auf einem reservierten Parkplatz und bekommst einen Riesenärger.“ Es stimmt nicht. Ein anderes Mal habe der Hausmeister auch gesagt, er blockiere mit seinem Auto weitere Parkplätze. Der meint, er habe so etwas nie gesagt und so zu parken sei völlig in Ordnung. Aber er kenne Kurt ja: „Er macht immer gern ’ne Welle.“
Wie leicht glaubt man, den Charakter eines Menschen zu kennen. Einen rücksichtslosen Politiker wünscht man sich nicht als Nachbarn. Selbst Familienmitglieder mögen einer betrügerischen Geschäftsfrau nicht ihre Ersparnisse anvertrauen. Mit einem unduldsamem Arbeitskollegen ist kaum auszukommen. Andere Menschen jedoch schildern sie als tüchtigen Anwalt und liebevollen Großvater, als fürsorgliche Mutter und nette Nachbarin oder als tatkräftigen, hilfsbereiten Vereinskollegen. Und alle glauben sie zu kennen.
Seelisch und mental ist die Mutter jetzt stabil, aber sie kann nur wenige Meter gehen. Die Schmerzmedikamente werden neu eingestellt, Physiotherapeutinnen machen Übungen an Wochentagen mit ihr, Manfred an den Wochenenden. Er beschafft einen speziellen Rollator, mit dem die Mutter aufrecht gehen und die Wirbelsäule entlasten kann. Die Ärztin kündigt an, sie könne in der Geriatrie des Krankenhauses nicht länger bleiben, sie gehöre in eine Reha-Klinik, wo sie weiter aufgebaut werde.
Wie immer im deutschen Gesundheitswesen gibt es auch für den Platz in einer Reha-Klinik lange Wartezeiten. Mit Hilfe von Sozialarbeiterinnen, nach Telefonaten mit Kliniken und Pflegekasse, Gutachten und Anträgen wird Manfred ein Platz zugesagt. Aber drei Tage müssen in einem Kurzzeitpflegeheim, 20 bis 30 Kilometer entfernt, überbrückt werden. Beim Umzug dorthin explodiert Kurt aus nichtigem Anlass, er macht keinen Hehl daraus, dass ihm alles zu viel wird.
Auch in den Wochen in der Reha-Klinik füttern kleine Bemerkungen, Tonfall, Gestik, Meinungsverschiedenheiten, die nicht offen ausgetragen werden, die gespannte Stimmung zwischen den Brüdern. Zwischen Manfred und seiner Schwägerin allerdings gibt es nie ein böses Wort, alles lässt sich freundlich und problemlos miteinander besprechen. Sie wäscht immer noch überwiegend die Wäsche der alten Frau, kauft Dinge in der Stadt, die ihre Schwiegermutter braucht. Er ist dankbar für das, was sie für die Schwiegermutter tut und sagt es ihr auch.
Der Gemütszustand des Älteren verschlechtert sich. Er schläft seit Wochen kaum, grübelt über seinen Bruder. Seine Hände zittern und nachts wechselt er völlig durchgeschwitzte T-Shirts. Im Krankenhaus oder der Reha-Klinik, im Beisein der Mutter schluckt er den gereizten Ton. Seine Verstimmung merkt man ihm an, aber er zahlt nicht mit gleicher Münze zurück. Er frisst alles in sich hinein und bleibt äußerlich ruhig. In der ersten Zeit glaubt er noch, das gehe vorüber, wenn er nur dem Bruder keinen Anlass gebe. Vor allem aber will er der Mutter die Qual eines offenen Streits ersparen, sie leidet sowieso unter den Spannungen zwischen den Söhnen. Aber er kann die Demütigung kaum noch ertragen. Niemals hat je ein Vorgesetzter in diesem Ton mit ihm gesprochen, in seinem ganzen Leben hat er sich zu wehren gewusst, wenn irgendjemand rote Linien überschritt. Dass er sich jetzt alles gefallen lässt, frisst an seiner Selbstachtung. Einmal spricht Kurt offen aus, dass es in Wirklichkeit Manfred sei, der ständig Streit suche. Der versteht überhaupt nichts mehr. Auch Kurt zittern die Hände.
Wie löst man Probleme zwischen sehr verschiedenen Menschen, wenn man nicht redet? Sicher muss unter allen Umständen das Verstehen dem Urteilen vorausgehen. Zwischen zwei Menschen kann sogar Ersteres das Zweite ersetzen, aber dazu muss man zuhören und reden.
Eines Abends telefonieren sie, es geht um einen Platz für die Mutter im Alten- und Pflegeheim. Manfred will, dass sie nach Hause kommt. Der Jüngere schreit und beendet unvermittelt das Gespräch. Darauf schreibt der Ältere zum ersten Mal eine Nachricht. Er halte es nicht mehr aus, im Chef-Ton behandelt zu werden, er könne wegen des Bruders nicht schlafen, seine Gesundheit sei in Gefahr. Er bietet ihm ein ruhiges Gespräch an. Er erhält keine Antwort.
Kurt kann diesen Weg nicht gehen. Er fürchtet – mehr ein Gefühl als ein bewusster Gedanke – gegen den Bruder in einer offenen Diskussion über Fakten und Motive nicht bestehen zu können. Die Gefahr gar, dass seine bisherige Lebensweise in Frage gestellt würde und die tieferen Gründe für seinen Umgang mit Menschen, mit einem Wort, dass sein tiefstes Inneres angerührt würde, ist zu groß. Das spürt er und sein einziger Schutz ist der beständige Angriff. Natürlich, in jedem Kampf, bei jedem Angriff, erklären alle – Menschen wie Staaten –, dass sie sich nur verteidigen. Menschen glauben meist selbst an das was sie sagen.
Auch in der Reha-Klinik sagt Kurt: „Sie schafft das nicht, ein Heim ist die einzige Lösung.“ Der Andere lässt sich von Physiotherapeuten in einfache Techniken einweisen, läuft mit ihr auf den Gängen, nutzt samstags und sonntags mit ihr den Geräteraum, macht Gedächtnisübungen und Rechenaufgaben mit ihr. Sie kann wieder längere Strecken laufen, hat das Treppensteigen geübt und das Ein- und Aussteigen an einem Automodell. Sie ist stabil, medikamentös gut eingestellt, fast völlig schmerzfrei und stolz auf das, was sie geschafft hat. Sie lacht jetzt viel. Der Entlassungstag nach Hause rückt näher.
Die Pflegekasse hat Pfegegrad vier genehmigt, Manfred findet einen Pflegedienst, der noch Kapazitäten frei hat. Die ambulanten Pflegerinnen brauchen ihr nur die Stützstrümpfe an- und auszuziehen, alles andere kann sie jetzt selbst.
Während der Zeit in der Reha-Klinik hat Kurt sich für die Mutter um einen Platz in einem Alten- und Pflegeheim an beider Wohnort beworben, erwähnt das aber zunächst vor ihr nicht. Manfred gegenüber begründet er das damit, dass man nie wissen könne, ob die Mutter es schaffe, wieder in der eigenen Wohnung zu leben, und bei den heutigen Wartezeiten auf einen freien Platz sei es zu riskant mit der Bewerbung zu warten. Manfred hat ein schlechtes Gefühl, aber Kurts Argument lässt sich nicht von der Hand weisen. Er stimmt dem Vorschlag zu, sich ebenfalls nach einem guten Heim umzuschauen und sich um einen Platz zu bewerben. Als ihre Entlassung aus der Reha-Klinik bevorsteht, bietet Kurt ihr an, zwei Tage nach der Rückkehr in ihre Wohnung ins Altenheim umzuziehen, wo gerade ein Platz frei werde. Sie lehnt ab und will nach Hause.
Nach mehr als zwei Monaten Behandlung und Rehabilitation ist der Tag der Rückkehr nach Hause da. Der bestellte Krankenfahrdienst kommt nicht, Manfred fährt sie mit seinem Auto. Sie geht wie früher langsam in den ersten Stock, setzt sich in ihren geliebten Fernsehsessel und weint vor Freude. Zwei Stunden später kommt Kurt dazu. Sie sitzen im Wohnzimmer und Manfred fragt seine Mutter, wo ihr TV-Kopfhörer sei, an dem noch etwas zu reparieren sei. Kurt schnauzt sofort scharf und laut, er habe ihn längst dort deponiert, wo er hin gehört. Er springt auf, läuft erregt durchs Zimmer. Oh Gott, denkt Manfred, nur heute keinen Konflikt und versucht zu sagen: „Ich dachte …, ich meinte …“ Kurt rennt, laut unverständlich schimpfend, auf den Flur, kommt plötzlich zurück, baut sich breitbeinig vor dem Bruder auf und brüllt aus vollem Hals. Dann verschwindet er.
Manfred ist völlig schockiert. Er bleibt noch ein paar Stunden, spricht mit der Mutter. Ihre Freude über die Rückkehr nach Hause ist Stille gewichen und Blässe im Gesicht. In dieser Nacht schläft er nicht und ringt mit einer Entscheidung, wie es weitergehen soll – so jedenfalls nicht mehr, unter keinen Umständen. Am nächsten Morgen findet er die Mutter mit den gleichen Qualen, den Rückenschmerzen wie damals vor der Einlieferung ins Krankenhaus. Es war alles umsonst …
Später sagt sie, Kurt habe sich bei ihr für seinen Auftritt entschuldigt, und damit sei die Sache für sie erledigt.
Manfred gesteht sich selbst ein und sagt es ihr, er sei am Vorabend nur einen Millimeter davon entfernt gewesen, die Kontrolle über sich zu verlieren und etwas zu tun oder zu sagen, was er später bereut hätte. Er ist sich jetzt sicher, dass Kurts Aggressionen immer und jederzeit wieder ausbrechen können, er hat jegliches Vertrauen verloren. Er ist – in Erinnerung an seine Verstrickung in eine frühere vergiftete Beziehung – zu dem Schluss gekommen, er müsse sich aus dem Kontakt zum Bruder rechtzeitig lösen – auch zum Schutz vor den eigenen Dämonen und bevor Dinge gesagt und getan würden, die nicht hätten gesagt und getan werden dürfen. Er erklärt der Mutter, dass er in der letzten Nacht entschieden habe, ab jetzt jeden Kontakt zum Bruder zu meiden. Er werde weiter seinen Teil leisten, um sie in der Wohnung zu unterstützen, aber ab jetzt wortlos akzeptieren, was Kurt tue und entscheide. Was in ihrer Wohnung geschehe und wie, müsse sie jetzt selbst mit ihm besprechen. Es ist unklar, ob sie in ihrem Zustand alles verstanden hat; später bemüht er sich, ihr die Gründe für seine Entscheidung erneut zu erklären.
In der nächsten Zeit sind ihre Schmerzen oft so stark, dass kaum ein Gespräch mit ihr möglich ist. Der Hausarzt weiß keinen Rat, er verschreibt ein Dutzend Medikamente, darunter dreimal täglich sehr starke Schmerzmittel, die aber keine spürbare Linderung bringen. Eine Dame vom Palliativnetz kommt im Beisein beider Söhne ins Haus. Sie bringt starke Fentanyl-Pflaster und Morphin-Injektionslösung für den Notfall und erklärt die Anwendung. Kurt erklärt ihr, die plötzliche Rückkehr der Schmerzen komme wohl daher, dass man sie habe die Treppe benutzen lassen bei der Rückkehr in ihre Wohnung oder aber von der versuchsweisen Nutzung ihres früheren Rollators an jenem Tag. Manfred schweigt.
Er kommt jeden Morgen, kümmert sich um Frühstück, Medikamente und die Wohnung während die Mutter sich unter Schmerzen selbständig wäscht und anzieht. Der Bruder kommt zunächst mittags und abends und teilt die Medikamente zu. Die Mutter möchte sich auch abends selbst fürs Bett fertigmachen, aber Kurt besteht darauf, dass der Pflegedienst das macht. Sie darf sich auch abends erst dann selbst an- und ausziehen als Manfred einmal die Betreuung ganztägig übernimmt. Kurt behält dies überraschenderweise bei, stellt ihr die Abend-Medikamente schon mittags hin, und die Mutter muss jetzt nicht mehr um 20.00 Uhr ins Bett gehen.
Kurt kauft wie früher einmal in der Woche Lebensmittel für sie, geht zur Apotheke und kümmert sich als geschickter Handwerker um kleinere Reparaturen in der Wohnung. Er ist einerseits liebevoll und fürsorglich zu ihr, nach dem Abendessen gibt er ihr häufig ein Stück Schokolade, bleibt immer auch mal für ein Gespräch. Er kann aber auch bei ihr seinen ärgerlich-gereizten Ton nicht beherrschen. In der Regel wagt sie keinen Widerspruch, es sei denn, die Bevormundung geht irgendwann zu weit. Sie liebt beide Söhne gleichermaßen und hat ihr Leben lang darauf geachtet sie gleich zu behandeln. Sie leidet sehr unter den Spannungen, macht immer wieder hilflose Bemerkungen: „Es sollte doch möglich sein …, Ihr seid doch beide erwachsene Menschen …“
Neuerdings rufen jetzt Physiotherapeutinnen, Fußpflegerinnen, Nachbarn, Verwandte und Freundinnen, die sie besuchen wollen, bei Kurt an, der ihre Termine macht. Ihr gefällt das nicht. Sie ist bei klarem Verstand und will auch so behandelt werden. Sie nimmt Kontakt zu allen auf, die es betrifft, und bittet darum, Besuchstermine wie früher mit ihr selbst auszumachen. Immer schon bezog sie Tiefkühlkost von einem Lieferanten und wählte aus ihrer Tiefkühltruhe selbst aus, was sie wann essen wollte. Nun bringt der Lieferant ihr Essen zu Kurt, der es mittags in ihrer Mikrowelle erwärmt.
Weihnachten steht vor der Tür und die Mutter verbringt die Tage wie früher abwechselnd bei den Söhnen und den Schwiegertöchtern. Dann kommt eine Nachricht über WhatsApp: „Wir sind Sylvester nicht da.“ Manfred antwortet, man habe ebenfalls geplant, Sylvester außerhalb zu verbringen. Die dann folgende ultimative Mitteilung: „Tut mir leid, wir wollen den ganzen Tag für uns haben“, ist für den Älteren eine erneute Demütigung. Jetzt schreibt er eine E-Mail, in der sich alle aufgestauten Verletzungen und Enttäuschungen entladen.
Es geht um den notariellen Vertrag, den Mutter und Söhne kurz nach dem Tode des Vaters abgeschlossen haben. Vor 20 Jahren war nicht abzusehen, dass der Ältere jemals nach Deutschland zurückkehren würde, und dem Jüngeren wurde das Elternhaus zu günstigen Bedingungen überschrieben. Dafür verpflichtete er sich, sich so um die Mutter zu kümmern, „wie es ihren bisherigen Lebensgewohnheiten entspricht und damit sie es so gut hat wie er selbst“. Es empört ihn, dass in Wahrheit er es war, der die Mutter jahrelang zu Geschäften fuhr, damit sie selbst einkaufen und auswählen konnte. Er und seine Frau sind es, die Spaziergänge im Rollstuhl und Ausflüge ins Grüne mit ihr machen, in Restaurants und Cafés. Er begleitet sie zu Ärzten, und seit ihre Augen schlechter geworden sind, kümmert er sich um ihre Post, Renten-, Versicherungs-, Sparkassen-Angelegenheiten. Er ist es, der sie an allen Tagen anruft, an denen er sie nicht besucht.
In der E-Mail wirft er dem Bruder all das vor. „Seit Jahren bin ich es, der sich um das Meiste und Wichtigste kümmert. Hast Du überhaupt kein Schamgefühl? Deine herrischen Unverschämtheiten ertrage ich seit Monaten einzig und allein um unserer Mutter willen. Jetzt ist endgültig Schluss! Was Sylvester betrifft: Ich werde nicht da sein und Deine Frau wird einmal ohne Dich ausgehen müssen.“ Und schließlich, die Schuld für sein Verhalten am Tage der Rückkehr der Mutter werde lebenslang an ihm kleben. Der Bruder reagiert nicht.
In den folgenden Monaten übt Manfred mit der alten Frau erneut tägliche Abläufe wie die Essenszubereitung auf dem Herd oder in der Mikrowelle, die sie trotz ihrer Schmerzen wieder selbst übernehmen möchte. Es geht, aber das Stehen fällt ihr schwer. Die vielen Medikamente kann sie sich wegen der Athrose in den Fingern und ihrer Sehkraft nicht selbst verabreichen. Aber ihr Wille und ihre Disziplin sind stark. Sie klagt selten und leidet vor allem mit Menschen, die in Flüchtlingslagern leben, die in Kriegen und Umweltkatastrophen alles verloren haben. Wenn sie in ihrem Fernsehsessel auf einem Heizkissen liegt, ist sie einigermaßen schmerzfrei und sie reden miteinander. Von seiner E-Mail erzählt er ihr nicht.
Angesichts ihrer Fortschritte bespricht Manfred mit ihr ein Konzept, wie sie noch so lange wie möglich in ihrer Wohnung bleiben kann. Der Pflegedienst kann ihr die Medikamente zuteilen, sie morgens und abends notfalls unterstützen. Ihr Essen kann sie sich in der Mikrowelle selbst zubereiten. Einmal am Tag würde einer der Söhne nach ihr sehen, manchmal reichte gar ein Anruf. Mit dem Notrufknopf, den sie um den Hals trägt, kann sie selbst medizinische Hilfe alarmieren, und der Notfalldienst meldet sich automatisch, wenn sie nicht zweimal täglich selbst ein Signal gibt. „So könnte es gehen. So könntest Du in Frieden zu Hause sterben, wann immer die Zeit kommt. Du bliebest die Herrin über Dein Leben und müsstest Dich nicht von allem um Dich herum trennen, was die Erinnerungen an Dein Leben ausmacht. Allerdings werde ich mit meinem Bruder nichts mehr aushandeln. Diesen Plan mit ihm zu besprechen ist unmöglich, wenn er von mir kommt, und ich weiß nicht, was ich tue, wenn er wieder aggressiv wird. Du musst diese Option selbst mit ihm besprechen.“
Sie tut es nicht. Als Kurt ihr mitteilt, dass wieder ein Platz im Alten- und Pflegeheim frei geworden sei – „Leider gibt es nur zwei Tage Bedenkzeit“ – nimmt sie an. Später wird sie sagen: „Ich habe selbst entschieden ins Heim zu gehen, und jetzt muss ich da durch“. „Ich weine ja auch schon nicht mehr so viel.“ „Im Winter werde ich nicht mehr leben, und das ist gut so.“
Bei der Einrichtung ihres Zimmers im Heim und der Auflösung der Mietwohnung wird es zu weiteren Zusammenstößen zwischen den Brüdern kommen. Tiefer Schmerz wird dieses Dreieck zusammenhalten solange die Mutter lebt.