Legal oder legitim?
Entscheidungen in Legitimationskrisen

Wie lassen sich Entscheidungen in Legitimationskrisen rechtfertigen? In unserem Haus ging die zweijährige C. üblicherweise mit der Mama in die Kita, heute übernahm das der Papa. Sie fragte mit ihrem durchdringenden Stimmchen: Darfst Du das? Das machte nachdenklich, auch Erwachsene kommen ins Grübeln. Ist die Regel gemeint oder deren Begründung?

Traum des Südens - Regeln verblassen (Foto FJ Illhardt)
Traum des Südens – Regeln verblassen (Foto FJ Illhardt)

Andere Länder, andere Sitten! Auch andere Arten der Rechtfertigung? Vor einigen Jahren reisten meine Frau und ich nach Sizilien. In Palermo parkten Fiat, Alfa & Co in Zweierreihen rechts an der Straße, um ganz schnell mal eben in ein Geschäft zu gehen. Ich bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, dass ich ja nicht mehr aus der Parklücke herauskäme, wenn links neben mir ein Auto stünde. Wie rechtfertigt man das? Eine typische Frage für einen deutschen Autofahrer und Ethiker, aber die tolle Antwort eines Italieners. Rechts parken, sagte er, sei kein Problem, ob verboten oder nicht. In Zweierreihen rechts parken dagegen sei zwar ‚verboten‘, aber nicht ‚streng verboten‘. Warum? Weil eine Rechtsnorm von einer Kontaktregel (Niemanden ‚erheblich‘ behindern! usw.) getoppt werden kann. Hauptsache man parkt nicht auf dem Mittelstreifen, das würde ernstliche Probleme machen.

Man kann sich nicht einfach auf ein Gesetz berufen, so mein Fazit, nachdem ich darüber mit einem italienischen Kollegen gesprochen habe, die Regel braucht die Legitimation des Respekts vor dem anderen. Viele Italiener gestikulieren, toben, machen dramatisches Theater, aber manchmal sind Aggression und Theaterdonner wie eine Reinigung und eine Spielart der Solidarität. Mein Kollege verwies auf eine lustige Bemerkung aus dem Kirchenrecht: Die Römer machen die Gesetze, die Deutschen halten sie. In Begriffen dieses Artikels gesagt: Rückgriffe auf Regeln reichen nicht aus. Nur der versteht sie, der ihre Weisheit kennt, Pech, wenn es hinter den Regeln keine Weisheit gibt oder die Menschen in der Legalität stecken bleiben.

Resümieren wir dieses Erlebnis: ‚Legal‘ bedeutet Orientierung an Gesetzen, ‚legitim‘ ist etwas, das gut begründet ist. ‚Legitim‘ gründet auf Abwägung der Konsequenzen, Ausgewogenheit der Lasten, Machbarkeit, Fairness usw. Beides hat Schwächen, die Akzeptanz. Zurzeit sind wir fasziniert von Gesetzen, Die Akzeptanzwerte für das Bundesverfassungsgericht, die letzte Instanz bei Rechtsfragen der Republik, haben laut Umfrage ca. 75% absolute Zustimmung. Die Frage nach legitimen Entscheidungen bleibt außen vor.

Hängt die Sehnsucht nach dem Süden bei deutschen Dichtern wie Thomas Mann damit zusammen? Wenig Regeln, viel Weisheit? Ein deutsches Sprachspiel (Graffiti): Was ist die Steigerung von legal? Antwort: Die Steigerung ist: legal, illegal, (Tschuldigung) scheißegal.

Warum dieser Unsinn? (Im Unsinn steckt immerhin noch ein bisschen Sinn.) Rechtfertigung durch Gesetze wandelt auf einem sehr schmalen Grad und pendelt zwischen Unrecht und Desinteresse hin und her. In der letzten Zeit, nicht nur im letzten Jahr, häuften sich die Fälle einer wirklichen Legitimationskrise: Wenn in der Politik Meinungen aufeinanderprallten und die Entscheidung der Regierung nicht akzeptiert wurde, ging man an das BVerfG und versuchte, eine höchstrichterliche Entscheidung herbeizuführen. Man denke an Entscheide wie etwa zu Parteiverbot, Wahlrecht, Homoehe, Pressefreiheit usw. Ich sage es bewusst schnoddrig: Wenn der Präsident des BVerfG gesprochen hat, sind alle Konflikte gelöst. Oder?

Aufrüttelnd jedoch ist die lang bekannte Kritik, zusammengefasst in DIE ZEIT (4.2.2016) an dem Eiltempo in Gerichtsentscheiden. Bei diesem Tempo erfasst man zwar den Wortlaut des Gesetzes, nimmt sich aber nicht die Zeit zu prüfen, ob das so auch fair ist und die Entscheide sich nicht gegenseitig widersprechen.

Passend dazu schrieb Heinrich Heine, verkannt als romantischer Liedschreiber, wenig bekannt jedoch als Meister der Satire (in „Die Harzreise“ 1824): „Wüßte ich nicht, daß die Treue (auch die Gesetzestreue: meine Ergänzung) so alt ist wie die Welt, so würde ich glauben, ein deutsches Herz habe sie erfunden.“ Basiert die Gesetzestreue auf Rechtfertigung? Natürlich nicht, wir sind doch gelernte Untertanen, meinte Heinrich Mann. Wir halten uns nur an Gesetze, an sonst nichts. Auch nicht an Legitimationsprozesse, die tut man als Philosophie und Geschmackssache á la Pommes ab.

Neuster Fall: Der Wadenbeißer aus Bayern droht mit dem BVerfG, wenn die Obergrenzen für Flüchtlinge von den Regierungsparteien nicht anerkannt werden. Inzwischen gab es einen (faulen) Kompromiss der Regierungsparteien, aber die nächste Attacke aus Bayern kommt bestimmt. Geht es Seehofer um die Durchsetzung von Parteilinien und Alphatiergehabe oder um die Lösung eines Problems? Wenn letzteres zutrifft, hilft dann der Rechtsspruch von einem Bundesgericht oder eher eine offene Diskussion?

Das Chaos der Rechtfertigung

Als alter Telgter erinnere ich mich noch an die Kanzelworte des Probstes Ende der 50er Jahre zur Frage, ob man wegen des drohenden Unwetters am Sonntag Heu einfahren (Verbot der sogenannten knechtlichen Arbeit) dürfe. Wenn der Probst ja sagte, tat man das. Aber wenn er nein sagte? Strukturell, ob Kirchen- oder Staatsrecht, hat sich nichts geändert: Probleme werden immer noch extern gelöst, indem man sich zu Autoritäten flüchtet. Hauptsache Autorität.

Was ist daran problematisch? Es ist natürlich gut, dass im Grundgesetz eine Teilung der Gewalten, also neben der Legislativen und der Exekutiven die Judikative vorgesehen ist. Das bedeutet: konfliktentscheidende Instanzen sind aktiv, die, wie z.B. das BVerfG, der Bundesgerichtshof u.a., nicht Teil der Regierung sind. Wichtig ist die Rechtszufriedenheit der Andersdenkenden. Das BVerfG soll die Grabenkriege der Standpunktinhaber verhindern. Dass bewundere ich an dieser Konzeption. Mir leuchten jedoch einige Dinge nicht ein, das sind vor allem:

Entscheidung (Foto A. Illhardt)
Entscheidung (Foto A. Illhardt)
  1. die Tatsache, dass Entscheidungskonflikte nur von Juristen gelöst werden. Es geht ja schließlich auch um unser aller Staat und seine Verfassung. Im Recht der Kirche – das Problem ist vergleichbar – übersetzten Kritiker das alte Prinzip: „Es geschehe das Recht, auch wenn die Welt zugrunde geht. (Fiat iustitia, et pereat mundus)“. Diese Version wurde von vielen gescheiten Menschen übernommen und abgewandelt, unter anderen auch von Kant. Also Dominanz der Legalität?
  2. Kant unterschied „legal“ und „legitim“. Es ist ein gravierender Unterschied, ob eine Entscheidung legal, also von Paragraphen des Rechts – dann aber auch nur national gültig – gedeckt oder ob sie diskutiert und von Diskursen getragen ist, also letztendlich von möglichst vielen akzeptiert wird.
  3. Je öfter Entscheidungen nur legal gelöst werden, desto schwächer wird die Kultur der Legitimation, weil Lösungen nur von denen akzeptiert werden, die mit entscheiden dürfen, und umso schwächer werden Begründung und Akzeptanz. Letztere ist zurzeit im Keller. Nur Entscheidungen nach akzeptablem Argumentationsaustausch können verbindlich sein. Jede andere Version geht in Richtung „kindisch“ und unverbindlich.

2015 wurde das BVerfG 307mal angerufen, 20mal wurde dort medizinisch, also fachfremd, argumentiert. Auch in solchen Fällen lösen obergerichtliche Entscheidungen keine Konflikte, halsen sie nur den Schwächeren, weil Andersdenkenden auf. Eigentlich sollte das BVerfG nachhaltigen Meinungsstreit in der Gesellschaft verhindern. Ihr Auftrag kann nicht sein, Fehlmeinung, in manchen Religionen ‚Häresien‘ genannt, zu identifizieren. Erstens ist Recht das Sprachrohr der Gesellschaft. Zweitens geht es laut Grundgesetz um den Rechtsschutz der Bürger. Und drittens sollte sie das Zusammenleben der Menschen mit verschiedenen Meiniungen sichern. Passiert das wirklich?

Nein. Hier ein Beispiel: Der Bundestag hat sich um das Problem der Sterbehilfe gekümmert, Eine Eilentscheidung wurde abgelehnt, aber die endgültige Entscheidung kommt noch, also ist auch der Vorschlag des Medizinethikers Wiesing (Uni Tübingen), abgepuffert vom Juristen Taupitz (Uni Mannheim) zurzeit außer Kraft. Was machen wir aber mit denen, die (nicht nur im Bundestag) das anders sehen oder (und das sind viele) das bisherige Recht unzureichend finden? Die stehen im Regen. Gott sei Dank ist das Vertrauen in der Bevölkerung in die Entscheide des BVerfG fast so hoch wie einst die Kanzelworte der Kirchen.

Wer wagt es, auf das eigene Gewissen ohne Legitimation einer offiziellen Instanz zu hören? Braucht man wirklich eine letzte Entscheidung? Wie auch immer: man braucht Autonomie! Die heißt übrigens wörtlich übersetzt „sich selber Gesetz sein“. Aber eine Kultur der Autonomie schwächelt in der Praxis. Es gibt Gefahren der aktuellen Entscheidungs(un)kultur, die nicht auf Autonomie, sondern auf Autorität gegründet ist. Das ist mit einigen Problemen verbunden, einige zähle ich auf:

1. Formalisierung der Entscheidung

Was eigentlich ist Formalisierung? Formal nennt man Dinge, Prozesse, Urteile usw., die lediglich die Form, also gewissermaßen die innere Logik jenseits der Umstände in Betracht ziehen. Sie verzichten auf alle Details. Formale Betrachtungen einer Handlung etwa sind fatal, weil sie Erfahrung, Zusammenhänge und Situationen als äußerlich abtun und darum ausblenden.

Was hat der Jurist damit zu tun? Er muss zur Bearbeitung des Problems den Tatbestand klären, den Konflikt herausarbeiten, gesetzliche Regelungen ausfindig machen, den Betroffenen Rechtssicherheit vermitteln usw. Ein bedeutender Jurist in unserer Freiburger Ethik-Kommission half uns oft, die Bedürfnisse von Patienten und Ärzten in der Forschung gegen Gesetze abzuwägen, wichtige von unwichtigen Gesetze zu unterscheiden, den Wortlaut von der Intention des Rechts zu trennen usw. Soviel Souveränität musste sein. Ich schätze Juristen mit dieser Einstellung.

Wehe, wenn andere Juristen die Bühne betreten. Viele Behörden, die von diesen Juristen gelernt haben, begnügen sich mit dem Wortlaut des Gesetzes. Genau das aber führt zum Leiden unter dem Formalismus oder wie der Politologe Leggewie sagt: zum Leiden an der „Ignoranz der Behörden“. Inzwischen haben sie die Realität mehr oder weniger ausgetrixt.

2. Zweifel überspielen

Der Bundestagspräsident Lammert forderte laut Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 22.10. 2015 eine „Kultur des Zweifels“. Dahinter beklagte er die Ignoranz mancher – ich würde sagen: vieler – Politiker, die ihr Halbwissen als wichtig und unbezweifelbar verkaufen. Dabei sollte aber doch jeder einsehen, dass dieses Wissen nur provisorisch sein kann, den Realitätstest bestehen bzw. entfaltet werden muss und niemals end-gültig ist.

Zweifel hat nichts mit dem Oettingerprinzip zu tun: „So machen wir’s oder auch nicht.“ Eine Entscheidung muss umgesetzt werden können, aber sie muss korrigierbar sein. Ein Spagat? Nein. Eine Entscheidung ist nur solange akzeptabel, wie sie nicht den Nimbus der Letztgültigkeit hat.

 3. Aktuelle Unkultur: Wer hat die besseren Karten?

Karten (Foto FJ Illhardt)
Karten (Foto FJ Illhardt)

Diskussionen, vor allem politische, sollen nicht unantastbare Weisheiten verkünden. Ihr Ziel ist, wie diejenigen, die an der Diskussion teilnehmen, miteinander und mit ihren Standpunkten klarkommen. In einem bzw. zwei Worten zusammengefasst bedeutet das: Entscheidend ist bei jeder Diskussion der „herrschaftsfrei Diskurs“ (J. Habermas). Wenn Dominanz sich einschleicht, ist die Diskussion keine Diskussion mehr, eher ein Täuschungsmanöver und Versteckspiel.

Man spricht heute gern von Inszenierung. Der hat Vorteile und gewinnt, der sich geschickt in Szene setzt, z.B. mit akademischen Titel (seien sie auch gekauft oder mit Plagiaten bestückt).

Grundbedingung für den herrschaftsfreien Diskurs ist ein Mediator oder Moderator. Sie müssen etwa darüber wachen, dass alle zu Worte kommen, keine verbalen Taschenspielertricks angewandt werden, nur Argumente (keine Machtpositionen, Richtlinien der stärkeren Partei usw.) zählen, nicht unter Zeitdruck diskutieren usw.

Fazit:

Es geht hier nicht um Juristenschelte, wohl um Schelte gegen jene Zeitgenossen, die nicht über den Glauben an Gesetze hinauskommen. Um das zu schaffen, sollten wir blindes Vertrauen in Gesetze auf Legitimität hinterfragen, nichts zulassen, was Argumente zur Begründung unterschreitet, Diskussionen nicht in Bekehrungsstrategien für Andersdenkende ausarten lassen, sondern auf friedvollen Umgang mit allen (auch Andersdenkenden) ausrichten, und bei Konflikten unparteiische Moderatoren bzw. Mediatoren einschalten, damit legitime und nicht nur legale Lösungen gefunden werden können.

Legitimationsprozesse laufen nicht von allein, vor allem dürfen sie nicht mit unkritischem Vertrauen in Gesetze verwechselt werden.