Demokratisierung der Kultur
Beispiel: „Fluchtpunkte“ - ACC-Galerie Weimar

Acc Weimar (Foto A. Illhardt)
Acc Weimar (Foto A. Illhardt)

Telgte/Weimar. Die Ausstellung „Fluchtpunkte“ in der ACC-Galerie in Weimar, die sich mit den gesellschaftlichen Folgen und Chancen von Fluchtbewegungen auseinandersetzt, wurde von vier Weimarer Bürgern organisiert. An diesem gelungenen Beispiel wird deutlich, wie wichtig eine Demokratisierung und eine Rückeroberung der Kultur durch die Bürger ist. Wir alle sind selbstdenkende Kulturrezipienten, kein fremdbestimmtes Kulturvieh.

Kunstgalerien sind Orte, die einem entweder das Gefühl vermitteln, dort komplett fehl am Platz zu sein, da a) die Kunst unerschwinglich ist, b) der Galerist an einer unheilbaren Profilneurose leidet oder c) die zum Verkauf ausgestellten Exponate den sinnlichen Zugang nur peripher tangieren, oder eben solche, die den Betrachter auf angenehme Weise in ihre Aussage und Darstellung einbeziehen. Guck-Kunst und Spürkunst – vielleicht eine sehr einfache Dichotomie des Kunstbetrachtens und sicherlich gespeist von den Erfahrungen der letzten, sagen wir, zehn Galeriebesuche!

Ein solcher Ort der Spürkunst ist die ACC-Galerie in Weimar, die bei jedem Besuch in dieser kulturschwangeren Stadt zu einem unentbehrlichen Teil unseres Kulturprogramms gehört. Seit 1988 finden hier Veranstaltungen für die Öffentlichkeit statt. Öffentlichkeit? Mich wundert dieser Zusatz in dem Galerieprofil. Sind Galerien nicht immer für die Öffentlichkeit gedacht? Oder gibt es Teilöffentlichkeiten oder Spezialöffentlichkeiten? In der Kunstzeitung (Juli 14) spricht Robert Fleck von Kunst als „bloßem Kommunikationsinstrument in schicken Kreisen“ und Georg Seeßlen (TAZ 26.3.2015) sieht eine größer werdende Kluft zwischen Markt- und Gesellschaftskunst. Die ACC-Galerie scheint mir diese Aspekte aufzugreifen und ein Ort zu sein, wo Gesellschaftskunst begreif- und erfahrbar gemacht wird.

Destroyed Coloured Dreams von Bahram Nematipour (Foto A. Illhardt)
Destroyed Coloured Dreams von Bahram Nematipour (Foto A. Illhardt)

Vier ehemaligen Wohnungen zweier miteinander verbundener Wohnhäuser – eines davon beherbergte Goethes erste Weimarer Wohnung (1776/77) – bilden die Ausstellungsräume. Laut Info des ACC zählen „neben einem Internationalen Atelierprogramm (mit seit 1994 drei Künstlern jährlich) vier bis fünf, teils internationale Ausstellungen pro Jahr“ zum Atelierprogramm. „Das ACC ist ein Zentrum für interdisziplinären Austausch und eine kritisch praktizierende Kommunikations- und Produktionsplattform.“ Durch großzügige Unterstützung der Stadt Weimar, die nicht nur das Gebäude zur Verfügung stellt, sondern ¾ des jeweiligen Monatsstipendiums von 1.000 Euro finanziert, ist so ein Kunst- und Kulturkonzept entstanden, dass eine Demokratisierung von Gegenwartskunst ermöglicht. Besser gesagt: Wieder ermöglicht! Man mag es kaum glauben, gibt es doch andere Städte, in denen der Kulturgedanke beim ortsansässigen Karnevalsverein endet, kulturbefruchtenden Bürgerinitiativen säckeweise Sand ins Getriebe geschüttet wird und man sich an einem von einer Kulturindustrie vorgegebenen Mainstreamgedanken orientiert.

Von August bis Dezember 2015 fand in besagten Räumlichkeit eine Ausstellung statt, bei der der Begriff zeitgenössisch in zweifacher Hinsicht bedient wird: Unter dem Thema „Fluchtpunkte“ wird ein mehr als brisantes Zeitphänomen beleuchtet. „Im Zentrum der Ausstellung stehen Ursachen und gesellschaftliche Folgen von Fluchtbewegungen. Wo Fluchten scheitern, sterben Menschen. Wo Fluchten gelingen, entwickelt sie schöpferisches Potential. Es entstehen große Wissens- und Kulturtransfers. Fluchtbewegungen verändern hier und dort ganze Gesellschaften und formen Kulturkreise neu.“ (Marina Fauser, Co-Kuratorin). Die Präsentation der Fotos, Installationen, Bilder und Objekte ist so konzipiert, dass der Besucher unmittelbar einbezogen wird: Zum einen durch die Betrachtung der Werke, aber auch durch die Erfahrungen von Räumlichkeit und in diesem Fall vor allem von Enge. Dabei bezieht sich die Beschränktheit der räumlichen Möglichkeiten sowohl auf die Engherzig-, aber auch Engstirnigkeit vieler Deutscher im Zusammenhang mit dieser Thematik und das Einpferchen der Flüchtlinge auf kleinsten Raum, als auch auf positive Effekte wie „engeres Zusammenrücken“ und Begreifen der Flüchtlingsthematik als Chance des Lernens. Was aber das künstlerische Projekt im ACC aus den üblichen Präsentationen hervorstechen lässt, ist die Tatsache, dass das Konzept nicht – wie üblich – von Galeristen oder Kunst-/Kulturschaffenden erstellt wurde, sondern von vier Weimarer Bürgern/Bürgerinnen, die auch die Auswahl der ausstellenden Künstler trafen. Die Idee ging auf: Eine überaus gelungene Ausstellung, auch ohne kunstversierte Kuratoren.

Die Ankunft von Ulrike Theusner (Foto A. Illhardt)
Die Ankunft, Bild von Ulrike Theusner (Foto A. Illhardt)

In den späten 1960er Jahren forderte Hilmar Hoffmann, damals Kulturreferent der Stadt Frankfurt am Main, Kultur zu demokratisieren und sie von Institutionen abzulösen. Kunst für alle hieß die Parole. In Weimar scheint der Anspruch der Rückeroberung der Stadt durch die Erschaffung kommunikativer Freiräume, wie es ein solches Galeriekonzept verdeutlicht, zu funktionieren. Dies setzt unbedingt voraus, dass die Stadtverantwortlichen in enger Kooperation mit den Bürgern (und eben nicht ohne sie) den Sinn und Zweck von Kunst und Kultur als Raum der Verständigung, Verbundenheit und Inspiration verstanden haben. Offensichtlich eine zu hoch gefasste Erwartung! In seinem Buch „Alles Boulevard“ schreibt der Autor Vargas Llosa, dass das, was mit wir im herkömmlichen Sinne mit dem Wort Kultur verbinden, im Verschwinden begriffen ist. „Vielleicht ist diese Kultur auch schon verschwunden, unauffällig ausgehöhlt und im Kern ersetzt durch eine andere, die mit der ursprünglichen nicht mehr viel gemein hat.“ In vielen Städten wird Kultur von Behörden reglementiert, die man als völlig kulturfern und ihrer ursprünglichen Aufgabe, Bürgerinteraktionen zu ermöglichen, entrückt bezeichnen muss. Wenn ich höre, dass Etats gestrichen werden, weil man öffentliche Gelder lieber z.B. wirtschaftsfördernd einsetzt, scheint mir der Grundgedanke, der hinter Kunst und Kultur steht, nicht erkannt worden zu sein. Kultur wird als Spektakel oder zur Tourismus- und Wirtschaftsförderung, eben als Aushängeschild eingesetzt, übersehen wird dabei aber, dass Kultur meines Erachtens eine Grundlage menschlichen Seins, vor allem aber Zusammenlebens darstellt. Eine Gesellschaft, egal ob als Land, als Stadt oder panhuman definiert, kann nur als Einheit existieren, wenn die Kultur ein übergeordnetes Etwas darstellt. Je mehr wir Kunst und Kultur politisch oder behördlich regeln lassen, desto mehr mutiert sie zu einem oberflächlichem Konglomerat aus purer Massenkompatibilität und Willkürlichkeit.  Der französische Künstler Ben Vautier sieht einen übergeordneten Stellenwert der Kunst: „Das eigentlich Wichtige ist aber, dass der Mensch nicht durch die Wirtschaft oder die Politik verändert werden kann, sondern durch die Kunst.“ Diese Aussage lässt sich  auf die gesamte Kultur übertragen. Die aktuelle (Massen-)Kultur, so noch einmal Vargas Llosa, „fördert den Einzelnen nicht, sie verblödet ihn, nimmt ihm Klarsicht und freien Willen, so dass er sich auf die Angebote dieser Kultur konditioniert reagiert, wie Herdenvieh…“

Kulturnomaden Telgte - Eroberung des öffentlichen Raums (Foto A. Illhardt)
Kulturnomaden Telgte – Eroberung des öffentlichen Raumes (Foto A. Illhardt)

Da Politik und Wirtschaft stets aus Eigennutz handeln und schon jetzt erkennbar ist, dass ganze Bereiche der Kultur infiltriert werden, um eben das „Herdenvieh“ ruhig zu halten, ist es umso wichtiger, dass unabhängige Initiativen, Kulturarbeiter und – wie am Beispiel ACC Weimar – Kuratoren aus der Bevölkerung in Kooperation mit Künstlern und Kulturprofis diesen Bereich zurückerobern.