Zeitreise mit Guru Guru
Alles, nur keine Normalität!

Guru Guru ist seit 50 Jahren eine Band, deren Stil nicht klar zuzuordnen ist und die sich über all die Jahre eine experimentelle und vielseitige Spielweise bewahrt hat. Bei einem Konzert im Ahlener Bürgerzentrum werden Erinnerungen wach – die Augen schließen und spüren, wie das Jungsein nachwirkt.

Rückblick

Guru Guru live in Ahlen 2018 (Foto Arnold Illhardt)
Guru Guru live in Ahlen 2018 (Foto Arnold Illhardt)

Es muss etwa Mitte der 70er gewesen sein, als in unserer rockmäßig verschlafenen Kleinstadt die ersten Live-Konzerte von Bands angekündigt wurden, die unter der Hand von älteren Rockprofis aus dem Bekanntenkreis als das Non-Plus-Ultra der deutschen Szene gehandelt wurden. Der ein oder andere Name war bereits durchgesickert und mich überkam das grandiose Gefühl, endlich auf den mit viel Knall und Rauch daherdonnernden Rock-D-Zug aufspringen zu können. Bei meinem etwas älteren Bekannten, eben einer der anerkannten Rockprofis, hatte ich im umgebauten Hühnerstall mit den kühlschrankgroßen Boxen bereits Bekanntschaft mit solchen Bands gemacht, die neben den internationalen Größen a la Deep Purple, Black Sabbath oder Rory Gallager durchaus bestehen konnten. Irgendwann hatte besagter Kumpel die Doppel-LP der deutschen Band Kraan aufgetrieben und wir bestaunten den druckvoll und irrwitzig gespielten, groovigen Bass von Helmuth Hattler. Rockmusik war damals mehr als nur uninspiriertes Gerumpel, wie es mir heute manchmal vorkommt; vielmehr war es ein Lebensgefühl verbunden mit dem dringenden Bedürfnis aus dem Einerlei der damaligen Zeit auszubrechen. Alles, nur keine Normalität!

Die Bands, die damals in Telgte auftraten hießen Kraan, Jane, Wallenstein, Frumpy oder auch Siddartha aus dem Nachbarort Warendorf. Angeblich soll der Radiomoderator John Peel derjenige gewesen sein, der für die zumeist aus Westdeutschland stammenden Bands den Begriff Krautrock geprägt hatte. Ein Begriff, der von den Musikern selbst wenig geschätzt wurde, denn es schwang etwas Verächtliches darin, so als könne diese Musik den großen Exporten wie Pink Floyd, Genesis oder Gentle Giant nicht das Wasser reichen. Doch als ich damals auf dem Fußboden der großen Schulaula saß und mich von dem zum Teil psychedelischen Sound besagter Bands in einen Zustand der Entzückung versetzen ließ, hinterließ dies Spuren in mir, die heute immer noch, nur in eher brachialer Form, nachwirken.

Und dann irgendwann lag im Hühnerstall Guru Guru auf dem Plattenteller, wobei ich mich nicht mehr erinnere, um welche von den vielen LP´s es sich handelte. Von meinem Bekannten wurde die Band als völlig abgefahren und spacig angekündigt. Was war das? Die Klänge passten so richtig in kein Schema, dass wir Menschen gerne bemühen, um unseren Denkhorizont zu vereinfachen. Guru Guru um den charismatischen Schlagzeuger Mani Neumeier bildete einen für uns damals völlig neuen Hörkosmos. In einer Rezension las ich die Überschrift „die Geometrie des Klangs“. Vielleicht passt dieser Ausdruck zu den zum Teil elementaren, oder besser noch – existenziellen Rhythmen und Grooves dieser Band, die manchmal wie ein Lebensfluss, manchmal wie der eigene verstärkte Herzschlag daherkommen. Doch vielmehr gefällt mir in diesem Zusammenhang das Wort Anarchie des Klangs, denn Guru Guru verlassen immer wieder die normalen musikalischen Wege, indem sie unsere Hörgewohnheiten mit freejazzigen, dadaistischen oder einfach urkomischen Tonmodulationen verwirren. Everything goes! Neumeier selbst beschrieb 1973 die Band folgendermaßen: „We`re not cosmic rock, we`re comic rock.“

Einblick

Guru Guru live in Ahlen 2018 (Foto Arnold Illhardt) - 3
Guru Guru live in Ahlen 2018 (Foto Arnold Illhardt) – 3

Die Geschichte der Band ist schnell nachrecherchiert und dennoch so facettenreich, wie bei kaum einer anderen Formation. 1968 wurde sie von dem Schlagzeuger Mani Neumeier, dem Bassisten Uli Trepte und dem Gitarristen Eddy Naegeli gegründet und erlebte seitdem und bis heute ständige Wechsel, was wohl eher dem Experimentalismus von Guru Guru geschuldet war und ist. Und so liest sich die Liste der ehemaligen Mitspieler u.a. in den diversen Jam-Sessions wie das Who Is Who der deutschen Musikelite: Dieter Moebius (u.a. Tangerine Dream), Kenji „Damo“ Suzuki (Can), Hellmut Hattler (Kraan) oder Jürgen Engler (Die Krupps). Das zeitweise kommunenhafte Zusammenleben einiger Musiker, sowie der politische Anspruch der Band bugsierte sie schnell aus dem Metier des Hauruckrocks heraus und machte sie zu Pulsgebern einer Zeitstimmung des Aufbegehrens und Revolutionierens im beige-grauen Sauerkrautdeutschland. Neumeier sah die Band allerdings nie als typische Krautrockband. In dem CD-Review für das Album „Psy“ (2008) drückte der Autor Stefan Krulle es so aus: „Mal isses Punk, dann isses Funk, dann isses, wohl das Werk von ein paar Wahnsinnigen.“ Und weiter: „Eine Stunde lang irrlichtern halluzinierende Gitarren, klaustrophobische Bassläufe, psychotische Gesangsfetzen, elektronische Laborantenstückchen und ein stets fulminanter Beat durch 13 Songs.“

Was die Band von anderen Rockbands unterscheidet? Kein Song gleicht dem anderen, was man bei vielen, vor allem modernen Bands nicht sagen kann: Da scheint Monotonie und Gleichklang Programm zu sein. Möglicherweise hat das auch mit Hörergewohnheiten zu tun, da die Zahl der Unterhaltungshörer (siehe Theodor W. Adorno), denen es vor allem um Ablenkung und Konsumieren geht, offensichtlich zunimmt. Wer sich auf Guru Guru einlässt, braucht beide Ohren, seinen Verstand, Konzentration und die Bereitschaft, sich auf Experimente einlassen zu können.

Ich bin der Rockmusik, vor allem der harten und extremen Sparte bis heute treu geblieben und aus dem Novizen, der von der Beschlagenheit der versierten Kumpel in Sachen Rock beeindruckt war, ist selbst ein Profi geworden. Deshalb ist mir, auch wenn Guru Guru etwas aus meinem Blickfeld verschwunden war, nicht entgangen, dass der Name immer wieder mal im Zusammenhang mit Neuveröffentlichungen auftauchte. Allerdings hinterfragte ich solche Informationen nicht weiter, sondern wunderte mich eher, wie es sein kann, dass manche Bands nach wenigen Jahren das Handtuch werfen, während die schrullige Band aus dem Odenwald ihr zehnjähriges, zwanzigjähriges, dreißigjähriges, vierzigjähriges und … eine absolute Besonderheit im schnell- und kurzlebigen Rockbusiness: … fünfzigjähriges Jubiläum zelebrierte.

Anblick

Guru Guru live in Ahlen 2018 (Foto Arnold Illhardt) - 2
Guru Guru live in Ahlen 2018 (Foto Arnold Illhardt) – 2

Es war möglicherweise eher ein Zufall und den sozialen Medien geschuldet, dass ich auf einen Konzerthinweis im benachbarten Ahlen stieß: „Guru Guru – 50 Jahre on the Road!“ In meiner für das Genre Rockmusik zuständige Gehirnregion überschlugen sich intensive Erinnerungen, Bilder und Emotionen. Ich dachte an die Musik aus den Lautsprecherboxen im Hühnerstall, an die tranceähnlichen Zustände bei den Livekonzerten in den 70er, an Cannabis und Whisky-Cola, an lange Hemden vom Flohmarkt, an Zottelfrisuren, selbstgeschneiderte Umhängetaschen, an psychedelische Lichteffekte, an minutenlange Gitarren- und Schlagzeugsoli und an dieses allumfassende Bedürfnis, dem entsetzlich öden Establishment zu entfliehen. Auch dieses Bedürfnis ist bei mir ungebrochen. Alles, nur keine Normalität!

Das Ahlener Bürgerzentrum „Schufabrik“ ist eines dieser Dinosaurier unter den Veranstaltungsorten, in denen noch nicht die VerLOUNGEung Einzug gehalten hat, sondern immer noch Vielfalt, Buntheit und Offenheit für ein entspanntes Miteinander sorgen. Ein Ort, der nicht besser für eine Band wie Guru Guru geeignet zu sein scheint. Während ich bei manchen Konzerten den Altersdurchschnitt empfindlich sprenge, ist an diesem Abend die Peergroup der Grauhaarigen tonangebend. Auch wenn die Haare bei vielen Anwesenden lichter geworden oder gar gänzlich ausgefallen sind, die Figur aus dem Leim gegangen ist und auch die Klamotten weit entfernt von jeglicher hippiresken Ausprägung sind, scheinen die Herzen nach wie vor auf Rock gepolt zu sein. Schon beim Reinkommen werde ich allerseits mit freundlichem Lächeln empfangen, so als sähe man sich nach langen Jahren bei einem Klassentreffen wieder. Mich erschreckt ein bisschen, dass es Stuhlreihen vor der Bühne gibt. Mist, da war was: Das Alter!

Guru Guru betreten völlig unprätentiös die Bühne und rocken los. Am Anfang entdecke ich ein paar Holprigkeiten, doch schon bald hat man sich warmgespielt und die gut geschmierte Bandmaschine ist auf Betriebsmodus. Mit jedem Song wechseln die Stile, als wären sie per Überblendtechnik aufeinander abgestimmt: Rock, Blues, Jazz, Funk, Psychedelic, Trance, Ethno und aktionistischer Sound. Roland Schaeffer bedient Saiten und Blaswerk (u.a. das südindische Blasinstrument Nadaswaram), ergänzt von Jan Lindqvist, ebenfalls Gitarre und bei einigen Songs Lapsteel, einer Art Hawaiigitarre. Ruhender Pol des Quartetts ist Peter Kühmstedt, der mit seinem gelassenen Bassspiel Pulsgeber der Combo ist. Über allem schwebt Mani Neumeyer, der mit seinen 77 Jahren das Schlagzeug bedient, als sei die Zeit spurlos an ihm vorbeigegangen. Schon bald gerate ich bei dem einen oder anderen Stück in eine Art Trancezustand; manche Stücke besitzen einen sphärischen Sound, der mich auch völlig drogenfrei in andere Sphären versetzt. Augen schließen, träumen und sich um mindestens 40 Jahre zurückversetzen: ein gelungenes Experiment. Hörbeispiel gefällig? https://www.youtube.com/watch?v=kt5FEc2wLh4

Ausblick

Natürlich spielen Guru Guru im letzten Set auch das Stück Elektrolurch, das mit dem bedeutungsschwangeren Liedfragment „Was macht Ihr eigentlich, wenn ihr einmal älter seid?“ endet. Die Frage habe ich mir mit 17 auch gestellt. Meine Antwort damals: Ich will unabhängig sein, neugierig, offen für die Vielfalt des Lebens und radikal. Als ich um Mitternacht nach Hause fahre, spüre ich ein zufriedenes Gefühl in mir. Vielleicht dieses Gefühl, fast alles umgesetzt und – vor allem – beibehalten zu haben. Und ich denke, die Rockmusik war nicht ganz unschuldig daran. Ach ja, und wenn ich älter bin, möchte ich nichts daran ändern.